Literatur | Nummer 426 - Dezember 2009

Gegen das Vergessen

Lost City Radio gewinnt den Internationalen Literaturpreis

Eva Nienhaus

In einem fernen Land, Jahre nach dem Ende eines blutigen Bürgerkriegs, regiert das Vergessen. Die alten Sprachen sind verboten, die Ortsnamen durch Zahlen ersetzt und die Erinnerung an die Besiegten ausradiert. Eine Frau jedoch, Norma, leistet mit ihrer unverwechselbaren Stimme subtilen Widerstand: Sie moderiert die Radiosendung Lost City Radio, in der die Zuhörer nach ihren Vermissten suchen können. Eines Tages taucht im Sender ein Junge aus einem Regenwalddorf auf, Victor. Er trägt eine Liste von Verschollenen und Toten bei sich, auf der auch der Name von Normas verschwundenem Mann Rey steht. Norma beginnt, die Wahrheit zu suchen und die Bausteine ihrer Vergangenheit zusammenzusetzen. Was weiß sie von Rey? Wer war er? Ethnobotaniker oder Untergrundkämpfer oder beides? Drei Tage lang durchirrt sie mit Victor die Hauptstadt, auf der Suche nach dem Schlüssel zu den Ereignissen im Dschungel. Schließlich muss sie eine folgenschwere Entscheidung treffen.
Lost City Radio ist der Debütroman des 1977 in Peru geborenen und in den USA aufgewachsenen Autors Daniel Alarcón. Für sein gelungenes und durchaus eindrucksvolles Erstlingswerk verlieh ihm das Haus der Kulturen der Welt am 30. September den Internationalen Literaturpreis, der mit 35.000 Euro dotiert ist. 25.000 davon gehen an den Autor und 10.000 an Anne Friederike Meltendorf, die das Buch aus dem amerikanischen Englisch ins Deutsche übersetzte. Finanziert von der Stiftung Elementarteilchen will der Preis die Aufmerksamkeit auf die Vielfalt und Vielstimmigkeit weltweiter Gegenwartsliteratur und die Vermittlungsarbeit des Übersetzens lenken.
Alarcón schreibt auf englisch und bedient sich dabei einer klaren, mitunter karg und lakonisch wirkenden Sprache. Die Verknüpfung verschiedener, nicht chronologisch angeordneter Erzählstränge zeigt die weltweiten Webmuster von Macht und Gewalt auf, ohne dabei auf explizit lateinamerikanische Szenarios zu verweisen. Der Roman lässt sich in der Tradition der Überwachungsliteratur von George Orwell oder José Saramargo lesen. Statt phantastischer und vor Farben überquellender Erzählungen wie bei Llosa oder Marquez, herrscht bei Alarcón ein manchmal surrealer Stil vor. Seine genauen Beobachtungen und treffenden Dialoge ziehen seine LeserInnen schnell in ihren Bann. Die manchmal hektisch wechselnden Perspektiven und die vielen Zeitsprünge mag man ihm dabei verzeihen, ebenso die gelegentlich klischeehaften Phrasen, die in den Reflexionen der Figuren auftauchen.

Daniel Alarcón
ist Mitherausgeber der in Lima erscheinenden Literaturzeitschrift Etiqueta Negra. Sowohl die britische Zeitschrift Granta als auch das Smithsonian Magazine nahm ihn in die Liste der besten Nachwuchsschriftsteller auf. Sein erster Roman Lost City Radio landete in den USA 2007 auf den Bestenlisten von Washington Post, Los Angeles Times, Chicago Tribune und der Londoner Financial Times. Seine Kurzgeschichten erschienen unter anderem im New Yorker und im Harper’s Magazine. Sie wurden 2006 unter dem Titel War by Candlelight für den PEN/Hemingway Foundation Award nominiert. Alarcón lebt in den USA in Oakland, Kalifornien.

Daniel Alarcón // Lost City Radio // Wagenbach Verlag // Berlin 2008 // 320 Seiten // 22,90 Euro // www.wagenbach.de

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