Literatur | Nummer 499 - Januar 2016

Gegen die Zeit

Sascha Reh liefert mit seinem neuesten Roman eine wichtige Erinnerung an das Chile Salavdor Allendes

Klaus Pilgram

Ein fesselnder Roman ist 2015 erschienen. In Sascha Rehs Werk Gegen die Zeit wird eine fiktive Handlung erzählt, die jedoch stringent und kohärent in einen real-historischen Rahmen eingebettet wurde – nämlich in das Chile Salvador Allendes und der von ihm geführten Unidad Popular-Regierung (1970-73). Die Handlung: Ein geheimes Projekt mit dem Namen Cybersyn versucht die Warenströme zwischen staatlichen und verstaatlichten Unternehmen im Rahmen der Wirtschaftsförderung Chiles zu optimieren – und zwar mittels eines computergestützten Steuerungsmodells. Hans Everding, der Protagonist des Romans, ist ein deutscher „Entwicklungshelfer“ und Mitglied der geheimen Gruppe. Nach dem Putsch vom 11. September 1973 muss diese die Cybersyn-Software in Sicherheit bringen. Bemerkenswert ist, dass der Protagonist einer realen Person nachempfunden wurde, die Reh nach fast 40 Jahren noch kontaktieren konnte.
Auch die Geschichte des Cybersyn-Projekts als solches ist beeindruckend, steckten Computer 1972 doch noch in den Kinderschuhen. Der Roman erzählt nach, wie dieses Projekt durch einen CIA-finanzierten Streik der LKW-Fahrer behindert wurde: Der damalige US-Außenminister Henry Kissinger hatte den Streik über den Geheimdienst CIA initiiert und legte damit die chilenische Wirtschaft über Wochen lahm, was Gesellschaft und Regierung hart traf. Ein Engländer namens Stafford Beer war der eigentliche Kopf des ganzen Projekts: Er flog alle drei Monate zur Beratung einer kleinen Taskforce nach Chile; im Roman heißt er Stanley Baud.
Das Buch ist spannend geschrieben, ein perfekter Polit-Thriller. Ich erinnere mich noch gut wie ich damals als ASA-Student in Santiago am Tag des Putsches die letzte Rede Allendes live im Radio gehört habe und die zwei Jagdbomber kreisen sah, die den Regierungssitz La Moneda beschossen. Genau diese Situation zeigt das Foto auf dem Bucheinband: Soldaten im Anschlag auf La Moneda und Rauchschwaden, die vom Beschuss durch die Jagdbomber zeugen. Exil war für den rechtmäßig gewählten Präsidenten keine Alternative – er starb mit dem Sturmgewehr in der Hand, höchstwahrscheinlich Suizid.
In der Zeit nach dem Putsch gingen viele Gerüchte und Halbwahrheiten herum, die falsche Hoffnungen weckten – aktiver Widerstand, Hilfe aus Kuba und anderes. Aber spätestens nach drei Tagen, nach Ablauf der Ausgangssperre, waren alle Hoffnungen zerstoben und alle, die unterstützten und sympathisierten, bangten um die Allende-Anhänger*innen sowie die Regierungskritiker*innen von links, die um ihr Leben fürchten mussten. Diese Situation wird im Roman genauestens eingefangen.
Wie kommt ein Autor, der erst ein Jahr nach dem Putsch geboren wurde, dazu, ein solches Buch zu schreiben? Sascha Reh selbst sagt, er sei während seines Studiums von Allendes gewaltfreiem Weg zum Sozialismus derart eingenommen worden, dass ihn das Thema nicht mehr losließ. Es sei nur unklar gewesen, in welcher Form er es bearbeiten würde. Als ihm die etwas melodramatische Liebesgeschichte einfiel, die das Buch durchzieht, war klar, dass es ein Roman werden musste. Zur realen Figur des Entwicklungshelfers erfand Reh noch die Figur eines DDR-Bürgers und machte daraus diesen eng an den historischen Begebenheiten orientierten, packend erzählten Polit-Thriller.
Gegen die Zeit ist eine wichtige Erinnerung an jenen 11. September, an dem ein aussichtsreiches, demokratisches Gesellschaftsmodell brutaler Gewalt weichen musste – ein Umsturz, der von den westlichen Ländern, allen voran den USA, maßgeblich unterstützt wurde. Wieder einmal ist ein leiser Hoffnungsschimmer auf eine solidarische Gesellschaft im Keim erstickt worden. Der Titel beugt der Amnesie vor, regt zum Nachdenken an und bringt diese für die unterdrückten Mehrheiten weltweit bedeutsamen geschichtlichen Ereignisse genau auf den Punkt.

Sascha Reh // Gegen die Zeit // Schöffling & Co // Frankfurt 2015 // 21,95 Euro // www.schoeffling.de

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