Brasilien | Nummer 312 - Juni 2000

Geht die deutsch-brasilianische Atomkooperation weiter?

In wenigen Tagen geht Angra II ans Netz. Die Atomlobby wartet sehnsüchtig auf eine Hermes-Bürgschaft für Angra III

José Eduardo Costa Mattos ist zuversichtlich: „In fünf bis sechs Jahren kriegen wir Angra III gebaut.“ Ein Drittel der vorgesehenen Kosten von gut drei Milliarden Mark wird durch eine Hermes-Bürgschaft abgesichert, da ist sich der Nuklearingenieur sicher. „Atomkraft hat Zukunft, sehen Sie sich nur den Erdölpreis an.“ Sein halbes Leben lang hat der Endvierziger auf dem Atomgelände von Angra dos Reis an Brasiliens malerischer Südostküste gearbeitet – seit 1976. Heute steht auf seiner Visitenkarte „Oberbauleiter“. Beim rekordverdächtigen Bau des Zwillingsmeilers Angra II war er von Anfang an dabei.

Gerhard Dilger

Nach 23 Jahren soll das AKW vom Biblis Typ endlich ans Netz. Runde 10 Milliarden Dollar hat Angra II bereits verschlungen – das entspricht einem Zehntel der öffentlichen Auslandsschulden Brasiliens. Profitiert haben davon vor allem deutsche Banken und die Siemens-Tochter KWU, die jetzt auf die Fortsetzung des deutsch-brasilianischen Atomprogramms hofft. „Es war das schlechteste Geschäft in der Geschichte unseres Landes“, meint dagegen Ruy de Goes, Leiter der Antiatomkampagne von Greenpeace Brasilien. „Außerdem hat Deutschland dadurch die Parallelprojekte der Militärs erst ermöglicht.“ Die kochen allerdings nur noch auf Sparflamme, seitdem in Brasília wieder Zivilisten regieren.
Angra I, seit 15 Jahren in Betrieb, ist im Volksmund als „Glühwürmchen“ bekannt – allein im vergangenen Jahr schaltete er sich achtmal automatisch ab. Einen Evakuierungsplan für die Bevölkerung gibt es aber noch immer nicht. In einem Radius von 15 Kilometern wohnen 100.000 Menschen. Die Bundesstraße Rio-Santos, einzig möglicher Fluchtweg im Katastrophenfall, ist seit Jahren renovierungsbedürftig. Wenige Stunden entfernt liegen die Metropolen Rio und São Paulo. Was mit dem Atommüll geschehen soll, ist völlig unklar – die verbrauchten Brennstäbe von Angra I sind in großen Wasserbecken neben dem AKW eingelagert.
Ebenfalls vor Ort liegen einzelne Bauteile für Angra III bereit – seit nunmehr zwanzig Jahren. Geschätzte Kosten bis heute: 1,5 Milliarden Dollar. Wie schon in der Vergangenheit argumentiert die Atomlobby mit der Macht des Faktischen. Dass die Bilanzen des Staatsbetriebs Electronuclear trotzdem ausgeglichen sind, liegt an einem einfachen Trick: Der Bundeshaushalt übernimmt den Differenzbetrag zwischen den Marktpreisen und den tatsächlichen Kosten des Atomstroms. Selbst die Nationale Kommission für Atomenergie räumt ein, dass dieser fast doppelt so teuer sei wie jener aus Erdgas-Thermalkraftwerken.
„Wer sich vor Augen hält, wie die Atomkraft bei uns bisher gemanagt wurde, dem schwant für Angra III nichts Gutes“, meint der Nuklearphysiker Ildo Sauer von der Universität São Paulo. „Das staatliche Kontrollsystem funktioniert einfach nicht.“ Dagegen setzt sich Rios Gouverneur Anthony Garotinho vehement für Angra III ein. Auch Präsident Cardoso ist dafür, hält sich jedoch bedeckt, solange über die Finanzierung aus Deutschland noch nicht entschieden ist. Angra III stand auf der „Streichliste“ der umstrittenen Exportprojekte, die die Grünen kürzlich durchgesetzt haben wollten – im Gegenzug zur Genehmigung der Hermes-Bürgschaft für ein AKW in China. Doch gestrichen ist gar nichts. Entschieden werde, sobald der Antrag „reif“ sei, hieß es vergangene Woche aus dem federführenden Wirtschaftsministerium. José Eduardo Costa Mattos ist zuversichtlich.

Das schlechteste Geschäft in der Landesgeschichte

Die Entwicklung des brasilianischen Atomprogramms ging von Anfang an auf die Initiative von Militärs zurück, die die Produktion von Atombomben in Brasilien anstrebten. Diese Motivation dürfte auch die entscheidende Antriebsfeder für das deutsch-brasilianische Atomabkommen gewesen sein, zumal die USA 1974 einen deutlich restriktiveren Kurs in der atomaren Zusammenarbeit mit anderen Ländern eingeschlagen hatten. Gemessen an den Absichten sind die Resultate mehr als dürftig: Das jetzt fertig gestellte AKW soll in wenigen Wochen ans Netz – 23 Jahre nach Baubeginn!
Für den Greenpeace-Experten Ruy de Goes war und ist das Atomprogramm „das schlechteste Geschäft in der Geschichte Brasiliens“. Die Berechnung der Gesamtkosten ist allerdings äußerst kompliziert (verschiedene Währungen in Brasilien, Wechselkursschwankungen, widersprüchliche Berechnungsarten und unzureichende Angaben von Regierungsseite). Der Nuklearphysiker Ildo Sauer kam Mitte der Neunzigerjahre auf insgesamt 20 Milliarden US-Dollar für die Reaktoren in Angra und die militärischen Programme; in der Veja vom 19. Januar 2000 werden die bisherigen Ausgaben für Angra I, II und III mit 14 Milliarden US-Dollar beziffert. Den Löwenanteil macht Angra II mit 10 Milliarden US-Dollar aus; für Bauteile von Angra III, die seit Jahren vor Ort lagern, werden 1,5 Milliarden US-Dollar veranschlagt. In diesen Rechnungen sind die Kosten für eine Endlagerung des Atommülls noch nicht berücksichtigt. Wie vertrauenswürdig die Prognosen der Betreiber sind, verdeutlicht Ruy de Goes. So sollte Angra I laut Prognose aus dem Jahre 1971 ursprünglich 319 Millionen US-Dollar kosten; 1991 waren nach seinen Zahlen bereits 3,5 Milliarden US-Dollar angefallen.
Die horrenden Korrekturen nach oben hängen mit den technischen Problemen beim Betrieb von Angra I und dem Bau von Angra II zusammen, aber auch mit der Schuldenkrise der Achtzigerjahre, den Verschiebungen auf politischer Ebene (Übergang vom Militärregime zur Zivilregierung, größere Skepsis der Präsidenten Collor und Franco), und dem schlechten Management der staatlichen Betreiberfirmen (Furnas, seit 1997: Eletronuclear). Die bisherigen Gesamtkosten von 20 Milliarden US-Dollar für das Atomprogramm entsprechen etwa 8,5 Prozent der gesamten aktuellen Auslandsschulden Brasiliens; damit band und bindet das Atomprogramm beträchtliche Mittel.
Die Atomanlage wurde ausgerechnet am Strand von Itaorna errichtet (in der Sprache der indianischen Ureinwohner bedeutet dies „fauliger Stein“). Es handelt sich um eine der wenigen erdbebengefährdeten Regionen Brasiliens, wie sich zuletzt im Dezember 1988 zeigte. Außerdem liegt sie in der Nähe der Millionenstädte Rio de Janeiro (Luftlinie: weniger als 100 km) und São Paulo (200 km).
Beim US-Reaktor Angra I gab es in 15 Jahren Betrieb mindestens 25 Störfälle. Neben den Problemen mit dem Siemens-Brennstoff ist die rasch voranschreitende Korrosion der Dampfgeneratoren zu nennen. Daher wird schon seit Jahren die Abschaltung von Angra gefordert, und zwar nicht nur von Anti-Atom-AktivistInnen, sondern besonders vehement von intimen Kennern der technischen Materie wie dem Nuklearphysiker Luiz Pinguelli Rosa von der Bundesuniversität Rio de Janeiro.

Verschlechterung der sozialen Lage

Neben den Risiken für die Umwelt und die Gesundheit der 100.000 Einwohner von Angra dos Reis hat sich die soziale Lage der Bevölkerung verschlechtert, da seit den Siebzigerjahren eine überdurchschnittliche, weitgehend ungeordnete Zuwanderung stattgefunden hat. Der Bürgermeister José Marcos Castilho ist der Ansicht, dass die Vorteile in Form der Energiegewinnung anderen Regionen zugute kämen, während die Gemeinde Angra dos Reis mit der Bewältigung der aus dem Bau der Atomanlage resultierenden Probleme allein gelassen werde.
In einer Studie der Gemeindeverwaltung werden die konkreten Auswirkungen bis 1998 detailliert aufgezeigt, besonders anhand der in der Nähe der Anlage gelegenen Ortsteile Frade und Perequê. Da die Infrastruktur im Erziehungs- und Gesundheitsbereich (einschließlich Trinkwasserversorgung und Abwassersystem) nicht im selben Tempo wie das Bevölkerungswachstum ausgebaut werden konnte, hatte sich die Lage teilweise dramatisch verschlechtert. Unweit der Anlage und der komfortablen Wohnanlagen für die höheren Angestellten hausen Menschen ohne Stromanschluss. Soziale Spannungen haben seit 1996, der Wiederaufnahme der Arbeiten an Angra II, stark zugenommen.
Es ist offensichtlich, dass die atomfreundliche Haltung der PT-Verwaltung von Angra dos Reis mit den relativ großen Summen zusammenhängt, die der Staatsbetrieb Eletronuclear an die Gemeinde überweist. Über diese Gelder wird außerhalb des regulären Haushalts verfügt.
Auch wenn es dafür keine handfesten Beweise gibt: Die Auffassung ist verbreitet, dass bei den Aktivitäten der Atomlobby auch Bestechungsgelder geflossen sind. Die Höhe der im Spiel befindlichen Geldbeträge und der hohe Grad der Geheimhaltung dürfte der Korruption Vorschub geleistet haben, ebenso, dass solche Zahlungen in Deutschland von der Steuer abgesetzt werden konnten.

Lasche Kontrollinstanzen

Im Gefolge der Verfassung von 1988 hat sich zwar eine moderne Umweltgesetzgebung entwickelt, doch in der Praxis wird diese nur selten konsequent umgesetzt. Ein Beispiel: Die – sehr wohlwollende – Umweltverträglichkeitsstudie für Angra II wurde erst 1998 vorgelegt, also nachdem der Bau des letzten Abschnitts bereits in vollem Gange war. Die Umweltkontrollbehörden sind nicht wirklich unabhängig. Mit der Erteilung der Umweltlizenz und der Betriebserlaubnis der Nationalen Kommission für Atomenergie wird in Kürze gerechnet.
Das Landesgesetz 1228 von Rio de Janeiro vom 17.11.1987 untersagt zwar die Lagerung von Atommüll auf dem Gebiet des Bundesstaates, doch auf der vorrangigen nationalen Ebene fehlt eine Reglementierung dieser Problematik. Ein entsprechender Gesetzentwurf wird seit über einem Jahrzehnt von der Regierungsmehrheit blockiert.
Die Disziplinarstaatsanwaltschaft in Rio (Procuraduria oder Ministério Público, mit der Kontrolle staatlicher Behörden beauftragt) hat vor kurzem zwei lobenswerte Initiativen ergriffen, um die Sicherheitsstandards einzuklagen, doch diese haben bestenfalls aufschiebende Wirkung. Materiell wie personell ist diese Behörde nur ungenügend gerüstet, um juristische Auseinandersetzungen mit der Atomindustrie durchzustehen.
Die Nuklearphysiker Luiz Pinguelli Rosa und Ildo Sauer wiesen unabhängig voneinander auf gravierende institutionelle Verquickungen im Nuklearsektor hin, die eine demokratische Kontrolle durch die „Zivilgesellschaft“ erheblich erschwerten. Beide berichteten von erheblichem Druck, dem sie aufgrund ihrer kritischen Haltung ausgesetzt gewesen seien. Und kürzlich gingen auch die organisierten Kontolleure der Nationalen Kommission für Kernenergie mit einem Bericht an die Öffentlichkeit, in dem sie den Druck beklagten, die Atomlobby auf sie ausübe. Außerdem wiesen sie auf Materialmängel des Meilers Angra II hin.
In Brasilien hat in den letzten Jahren eine starke Entpolitisierung der Gesellschaft stattgefunden. Die Umweltbewegung ist – im Vergleich zu den Achtziger- und frühen Neunzigerjahren – schwach. Ökologie hat in der brasilianischen Gesellschaft geringe Priorität, was sich auch in der Parteienlandschaft niederschlägt. Die kleine Grüne Partei (PV) etwa verfügt mit Fernando Gabeira gerade mal über einen, wenn auch prominenten, Parlamentarier auf Bundesebene. Viel stärker ist die soziale Verankerung der wichtigsten Oppositionspartei, der Arbeiterpartei (PT). Zur Atompolitik hat diese allerdings keine einheitliche Position: Das Umweltsekretariat lehnt die Nutzung der Kernenergie ebenso ab wie die „Ecopetistas“ – der bekannteste in Rio ist der Abgeordnete Carlos Minc. Die von der Atomlobby am meisten gefürchteten Kritiker sind aber nicht in den Parteien zu finden, sondern in der scientific community.
Die PT-Stadtregierung von Angra dos Reis, allen voran ihr Bürgermeister José Marcos Castilho, befürwortet dagegen die Inbetriebnahme von Angra II und den Bau von Angra III. Rios Gouverneur Anthony Garotinho von der linkspopulistischen PDT fordert von der Bundesregierung in Brasília ein entschiedenes Eintreten für Angra III. Rios PV-Umweltminister André Corréa ist zwar prinzipiell dagegen, in der Praxis wiegelt er jedoch ab (und wird dafür von seinem Parteifreund Gabeira scharf kritisiert). In Brasília stößt Garotinhos Position zwar auf grundsätzliche Zustimmung, denn Präsident Fernando Henrique Cardoso möchte die deutsch-brasilianische Atomkooperation fortsetzen. Im Entwicklungsplan „Avança Brasil“ ist Angra III aufgeführt. Punkte allerdings sind damit bei den WählerInnen (Kommunalwahlen Oktober 2000) kaum zu machen, und außerdem steht und fällt das Projekt mit der Gewährung der Hermes-Bürgschaft in Deutschland. Daher gibt es noch keine öffentliche Stellungnahme von Cardoso.

Rentablere Alternativen

Angra I produziert weniger als ein Prozent der gesamten in Brasilien verbrauchten Strommenge. Die Inbetriebnahme von Angra II wird diesen Anteil zwar auf über zwei Prozent verdreifachen, doch von einer bedeutenden Weichenstellung in der brasilianischen Energiepolitik kann gleichwohl nicht gesprochen werden.
Im Dezember 1998 wurden 91 Prozent des Stroms durch Wasserkraft produziert; den Rest teilten sich die Thermal- und Atomkraft. Wenn – wie dies Regionalpolitiker gerne tun – argumentiert wird, die AKWs in Angra seien ein unverzichtbarer Bestandteil der Stromversorgung des Bundesstaats Rio de Janeiro, so wird dabei verschwiegen, dass Rio nicht autark zu sein braucht, sondern an das nationale Stromversorgungssystem angeschlossen ist. Allein durch Effizienzsteigerungen bei der Stromübermittlung und durch Energiesparprogramme könnte ein Vielfaches von dem erübrigt werden, was in Angra an Atomstrom produziert wird. Allerdings existieren gewichtige Interessengruppen, die mit Erfolg einen Ausbau der herkömmlichen Energieproduktion forcieren, obwohl volkswirtschaftlich wie ökologisch alles für eine Hinwendung zur verstärkten Effizienz spräche.
Eine nachhaltige Energiepolitik, wie sie von Umweltorganisationen sowie fortschrittlichen WissenschaftlerInnen und PolitikerInnen gefordert wird, würde auf Atomkraft verzichten und erneuerbare Energien (Wind, Sonne, Biomasse) fördern. Doch dies ist eine langfristige Perspektive; kurzfristig wird für den Bau kleiner Wasserkraftwerke und eine verstärkte Förderung von Erdgas plädiert. Gerade im Bundesstaat Rio wird die Versorgung mit Erdgas bereits vorangetrieben. Schon Anfang der Neunzigerjahre war aus der Umweltbewegung vorgeschlagen worden, Angra II nach dem Vorbild von Midland/USA in ein Gasthermalwerk umzurüsten.
Wie gesagt: Die brasilianische Regierung ist dem Bau von Angra III gegenüber weiterhin aufgeschlossen. Wie bei Angra II wird von den Befürwortern argumentiert, man müsse die bisherigen Kosten amortisieren; die Aufwendungen zur voraussichtlichen Fertigstellung seien zu vertreten. Kritiker wie Pinguelli Rosa halten solche Schätzungen angesichts der bisherigen Erfahrungen für zu optimistisch. Alle – auch die genannten UmweltaktivistInnen – sind sich jedoch einig, dass der Absicherung des Projekts durch eine Hermes-Bürgschaft (über etwa 1 Mrd. DM) eine zentrale Rolle zukommt – ohne eine solche werde Angra III wohl nicht in Angriff genommen. Schließlich sei noch erwähnt, dass aus Kreisen der brasilianischen Umweltbewegung schon seit Jahren die Kündigung des Atomabkommens gefordert wird – schließen wir uns an!

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