Nummer 435/436 - Sept./Okt. 2010 | Sachbuch

Gemachter Hunger

Walden Bello analysiert präzise die Ursachen der Nahrungsmittelkrise

Der Soziologe Walden Bello macht in seinem neuen Buch die neoliberale Strukturanpassungspolitik als eine der zentralen Ursachen der Nahrungsmittelkrise aus. Länder des Südens müssten heute Grundnahrungsmittel importieren, die sie früher ausreichend selbst hergestellt haben. In der Legitimitätskrise der kapitalistisch-industriellen Landwirtschaft sieht er die Chance, die kleinbäuerliche Landwirtschaft zu stärken.

Tobias Lambert

Vor kaum zwei Jahren gingen Bilder von Hungerrevolten um die Welt. In vielen Ländern des globalen Südens protestierten zwischen 2007 und 2008 Menschen verzweifelt und wütend dagegen, dass sie sich Grundnahrungsmittel wie Weizen, Reis und Mais nicht mehr leisten konnten. Die Preise waren innerhalb kürzester Zeit derart gestiegen, dass die offizielle Zahl der Unterernährten um 75 Millionen zunahm. Im globalen Norden abseits der Nachrichtenmeldungen kaum wahrnehmbar, stellt die Nahrungsmittelkrise für den Süden ein dauerhaftes Problem dar.
In ihren Analysen der Krise machten ÖkonomInnen verschiedene Ursachen aus: Etwa die sich ändernden Ernährungsgewohnheiten der wachsenden Mittelschichten in China und Indien, die Verwendung von Nahrungsmitteln zur Produktion von Agrotreibstoffen oder die Spekulation an den Warenterminbörsen.
Walden Bello, philippinischer Soziologe und Träger des Alternativen Nobelpreises hält diese Erklärungen für verkürzt und macht in seinem neuen Buch strukturelle Ursachen für den Hunger aus. Anstatt detailliert auszurechnen, inwiefern die Preissteigerungen für Tortillas in Mexiko mit der Verwendung von Mais für die Ethanolproduktion in den USA erklärbar sind, rückt Bello eine ganz andere Frage in den Mittelpunkt: „Wie in aller Welt waren die Mexikaner, also die Bewohner des Landes, in dem Mais erstmals angebaut wurde, überhaupt in die Lage geraten, von Maisimporten aus den Vereinigten Staaten abhängig zu sein?“ Eben diese Frage lässt sich in leichter Variation für viele südliche Länder formulieren, die einst Nettoexporteure von Lebensmitteln waren und heute nicht einmal mehr genug für den Eigenbedarf produzieren. So auch für Bellos Heimatland, die Philippinen, das mittlerweile der größte Reisimporteur der Welt ist.
Die Antwort findet Bello einmal mehr in der neoliberalen Strukturanpassungspolitik, die internationale Organisationen wie IWF und Weltbank verschuldeten Ländern des Südens ab den 1980er Jahren übergestülpt haben. Der Abbau des Staates in wirtschaftlichen Kernbereichen, die Kürzung von Agrarausgaben und Senkung von Zöllen führten, flankiert von unfairen Handelspraktiken seitens der EU und den USA, zu einem regelrechten Niedergang des Agrarsektors der betroffenen Länder.
Mit Kapiteln über Mexiko, die Philippinen und den afrikanischen Kontinent stützt Bello seine These anschaulich und legt dar, wie sich „die kapitalistisch-industrielle Landwirtschaft zum Zeitpunkt ihres scheinbaren Triumphs als ausgesprochen dysfunktional erwiesen hat“. In einem Kapitel über China widerlegt er anhand des schwierigen Verhältnisses zwischen Bauern und Bäuerinnen auf der einen und Partei auf der anderen Seite das populäre Argument, die gestiegene Nahrungsmittelnachfrage habe bedeutend zur gegenwärtigen Nahrungsmittelkrise beigetragen. Der steigende chinesische Fleischkonsum bedrohe jedoch insbesondere die Umwelt und das Klima, weil das Land zunehmend Soja als Futtermittel importiert, für dessen Anbau in Südamerika Waldflächen und somit natürliche Kohlendioxid-Senken verschwinden. Der Agrotreibstoff-Boom sei ebenfalls keine Ursache der steigenden Nahrungsmittelpreise, habe die Krise jedoch verschärft, wie Bello in einem weiteren Kapitel erläutert. Er widerlegt zahlreiche Mythen der angeblich „nachhaltigen Energie“ und kommt so unweigerlich zu dem Schluss, dass der großflächige Anbau von Energiepflanzen letztlich nur dem Agrobusiness und den politischen Eliten zugutekommen kann.
Kern des Problems bleibe das kapitalistisch-industrielle Agrarmodell, welches sich nun jedoch in einer Legitimitätskrise befinde. Diese könne dazu führen, dass die kleinbäuerliche, auf lokale und regionale Märkte hin orientierte Landwirtschaft, „zunehmend als der gangbarere Weg zur Organisierung der Nahrungsmittelproduktion wahrgenommen“ werde. Trotz eines wiederholten Abgesangs auf das Bauerntum, der bereits bei Marx einsetzte, ist es dem Kapitalismus nämlich bis heute nicht gelungen, den Familienhof als produktive Einheit zu eliminieren. Die kleinbäuerliche Landwirtschaft stellt für die Menschen im globalen Süden immer noch eine bedeutende Nahrungsmittelquelle dar.
Bello begnügt sich nicht mit der ausführlichen Kritik, sondern zeigt im letzten Kapitel des Buches Alternativen auf. Er beschreibt das Aufkommen eines „bäuerlichen Internationalismus“, der nicht zuletzt innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung eine bedeutende Rolle gespielt hat. Niemand verkörpert dies mehr als La Via Campesina, das 1993 gegründete Netzwerk von Kleinbauern und -bäuerinnen, dem mittlerweile über 150 Organisationen aus 56 Ländern angehören. Dessen „wohldurchdachte und radikale Kritik am gegenwärtigen Agrar- und Ernährungsparadigma“ stellt von der Monokultur über industrielle Großlandwirtschaft bis hin zur Biotechnologie die grundlegenden Elemente des Systems in Frage. Als Gegenentwurf zu dem in internationalen Organisationen dominanten Paradigma der Ernährungssicherheit hat das Netzwerk den Begriff der Ernährungssouveränität entwickelt. Bei ersterer geht es ausschließlich darum, den Menschen Zugang zu Lebensmitteln zu ermöglichen, egal ob diese importiert werden müssen oder nicht. Im Gegensatz dazu zielt Ernährungssouveränität auf die lokale Ebene ab und sieht vor, dass sich Bauern und Bäuerinnen selbstbestimmt und demokratisch für ihre Formen der Produktion und des Konsums entscheiden. Weitere Bestandteile des Konzepts beinhalten eine Landreform, den Verzicht auf Gentechnik oder die Produktion gesunder Lebensmittel statt Junkfood. Dies sei nicht als verklärende „Rückbesinnung“ auf bäuerliches Leben, sondern vielmehr als „moderne Antwort auf den Neoliberalismus“ zu verstehen. Kleine landwirtschaftliche Betriebe könnten durchaus produktiver als große produzieren, zumal sie allein in der Lage seien, Produktivität und ökologische Stabilität miteinander zu verbinden. Bello macht sich für die Anliegen von La Via Campesina stark und plädiert dafür, das Konzept der Ernährungssouveränität mit städtischen Ansätzen zu verbinden, die auch außerhalb des kleinbäuerlichen Sektors die Menschen ansprechen.
Der Autor macht deutlich, dass es sich bei der Nahrungsmittelkrise nicht um ein vorübergehendes Phänomen handelt, das durch singuläre Maßnahmen schnell in den Griff zu bekommen wäre. Das Buch ist ein sachliches Plädoyer für eine andere Agrarpolitik.
Nur am Rande beschäftigt sich Bello mit der neuen Landnahme (Land Grabbing), die als Thema während der Niederschrift des Buches noch nicht so präsent war. Private Investoren, Unternehmen und Staatskonzerne sichern sich langfristig den Zugriff auf große Landflächen im globalen Süden, um dort Exportprodukte anzubauen. Die Umsetzung möglicher Alternativen wird dadurch zusätzlich verkompliziert.

Walden Bello // Politik des Hungers // Aus dem Englischen von Max Henninger // Assoziation A // Berlin/ Hamburg 2010 // 200 Seiten // 16 Euro // www.assoziation-a.de

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