Nummer 455 - Mai 2012 | Venezuela

Geschichten und Überlieferungen vom Orinoko-Delta

Teil II/II: Leben in Calentura und Lagunitas am Caño Cocuina

In der letzten Ausgabe der Lateinamerika Nachrichten berichtete der Autor über das Leben in den Siedlungen Remanzon und Chaguaramas de La Horqueta am Caño Cocuina (siehe LN 454). Weiter flussabwärts verstärkt sich das Gefühl der Einsamkeit. Der Wald wird dichter; es gibt nur vereinzelte Siedlungen. Hier hört der Staat de facto auf zu existieren. Statt seiner regiert der Aktive, der Starke und der Skrupellose. Die kulturelle Transformation der Ureinwohner_innen ist in vollem Gange, Moral Geschmackssache … und Luxus, den sich nicht jeder leistet.

Ingolf Bruckner

Der nächste von Menschen bewohnte Ort, etwa zehn Kilometer flussabwärts von Chaguaramas de La Horqueta und nichts als acht provisorisch anmutende Hütten, heißt Calentura. Dieser Name ist kreolischen Ursprungs. „Tengo calentura!“ bedeutet auf kreolisch „Ich bin wütend!“ oder „Ich habe Fieber!“ Tatsächlich scheint der Name für manchen Siedler dieses entlegenen Ortes durchaus zutreffend.
Einige Tage vor mir besuchten Abgesandte, welche für die Durchführung der nationalen Volkszählung in der Parroquia Virgen del Valle verantwortlich waren, die an den Ufern des Caño Cocuina stehenden Behausungen. Alles lief nach Wunsch, bis sie Calentura erreichten. Die Anwohner bekamen eine calentura, ergriffen ihre Macheten und jagten die Abgesandten fort …
Einer der Siedler von Calentura (der ein beschauliches Leben führt und nichts mit dem eben erwähnten Vorfall zu tun hatte) ist Cleto Guira, ein Warao, geboren in Capure, nach eigener Rechnung 61 Jahre alt (aber noch ohne ein einziges graues Haar). Er hat sein chinchorro, seine Palmfaserhängematte, in eine schmale, überfüllte temiche-Hütte gehängt, die über dem sumpfigen rechten Ufer des Caño Cocuina inmitten von Maniok- und Bananenplantagen steht (obwohl er selbst lediglich ocumo anpflanzt). Es ist schwierig, Cletos Behausung zu erreichen, da es jeglichen Booten wegen des flachen Wassers verwehrt ist, nahe ans Ufer zu fahren. Ich muss über einen in den Fluss gestürzten moriche-Palmstamm balancieren, um Cleto zu besuchen. Er sitzt auf einem Schildkrötenpanzer und raucht seine guina, eine selbstgedrehte Warao-Zigarette, und dann sagt er, dass er jemanden umgebracht hat.
„Es stand sogar in der Zeitung“, erzählt er. „Und es geschah, weil wir Waraos Klatsch und Tratsch lieben.“ Ein Mann aus Capure erfand ein Gerücht, das Cleto betraf, und erzählte es überall herum. Jemand flüsterte Cleto ins Ohr, der Mann aus Capure plane, Cleto zu töten. Cleto bekam eine schwere calentura, und außerdem wollte er jeglichen gegen seine Person gerichteten Aktionen vorbeugen, also brachte er nonchalant den Mann aus Capure um. Dies geschah vor acht Monaten. Cleto musste drei Monate im Gefängnis sitzen, bis man ihn herausließ und unter Hausarrest stellte. Seit über vier Monaten sitzt er nun schon auf dem Schildkrötenpanzer vor dem glitschigen moriche-Palmstamm, und nur ab und an kontrolliert er das Wachstum seiner ocumo-Pflanzen. Es ist ihm versagt, Calentura zu verlassen, bis er 65 geworden ist, also, zum Glück, ausweislich seiner cedula nur noch für vier Jahre. „Mit diesem hohen Alter“, sagt er, „brauche ich nicht mehr in den Knast, so will es das Gesetz.“

Am 5. März 2001, einige Wochen nach Cletos Bluttat, nahm der Bruder des Getöteten voller calentura Rache. Cletos Sohn war draußen im Busch, um manaca-Palmito für die Palmherzenfabriken von La Horqueta zu schneiden, die diese Delikatesse in Konserven abfüllen und nach Frankreich exportieren. Der Bruder des Toten versteckte sich hinter den Bäumen und ermordete Cletos Sohn. Dann legte er das Gewehr Cletos Sohn in die Hand, um vorzutäuschen, dass dieser sich selbst getötet hätte … Und Cleto? Der muss weiter auf dem Schildkrötenpanzer sitzenbleiben, so will es das Gesetz.
Wir trinken zusammen einen Plastikbecher voll Cinco Estrellas – der Rum ist gar nicht schlecht – und erzählen Geschichten. Die golofas, fette schwarze Bremsen, piesacken uns. Cleto lebt auf. Vor Jahren, erzählt er, verdiente ein Mann aus San José de Buja sein täglich Brot damit, Schmuggelware aus Trinidad nach Venezuela zu bringen. Er benutzte den Caño Cocuina als Handelsroute und eine unscheinbare Hütte in Calentura, die einen geheimen Lagerraum für illegale Waren enthielt, als Versteck. Ein Warao sah eines Tages zufällig, wie der Schmuggler sein Lager mit Zigaretten und Whisky auffüllte. Als der Mann aus Buja weg war, drang der Warao in den geheimen Raum ein und nahm daraus mit, was ihm gefiel. Nach ein paar Tagen kam der Schmuggler zurück, erkannte, dass einige seiner Habseligkeiten fehlten und bekam eine calentura. Er fragte jeden Kreolen, jeden compai [Warao] und jede comai [Waraofrau] in und um La Horqueta, ob jemand gerade Whisky oder Zigaretten zum Verkauf anböte. Er fand den Warao trinkend, rauchend und feiernd in seiner Hütte und erschoss ihn. Danach, so erzählt Cleto, schüttete er seinen geheimen Lagerraum zu und legte einen neuen an anderer, unbekannter Stelle im Labyrinth des Deltas an.
Das Delta, weiß Cleto, ist ein Whiskysumpf, und der Caño Cocuina eigentlich ein Whiskyfluss. Das Geheimnis liegt weiter stromabwärts: Ein Boot, das 500 Kisten geschmuggelten Whiskys aus Grenada nach Venezuela transportierte, berichtet er, dabei eine golofa klatschend, fuhr durch den Caño Cocuina und sank nahe des Zusammenflusses von Caño Cocuina und Caño Cocuinita. Viele Leute tauchten seitdem runter, aber die Stelle war zu tief für sie. Und so wartet der Whisky noch immer darauf, von durstigen Abenteurern heraufgeholt zu werden.
Abends, in der Hängematte. Es ist so finster, dass man kaum die Hand vor Augen sieht. Glühwürmchen schweifen durch die Plantage, deren Blätter geschwollen und unbeweglich hängen über dem unerbittlich gärenden Sumpf. Cletos Stimme ist heiser.

Vor neun Jahren oder acht, da schlug ein von Kreolen geführtes Unternehmen Mangrovenholz, um es auf die Isla Margarita zu verkaufen, wo es zum Bau von Strandunterständen für die Touristen gebraucht wurde. Das Unternehmen operierte in der Umgebung der fernab gelegenen Waraosiedlung La Laguna de Cocuina (Lagunitas), deren Einwohner als Jäger und Fischer in Stelzenhütten direkt überm Wasser leben und Wild, Honig und Fisch gegen Mehl, Zucker und Rum einhandeln. Es ist die letzte Siedlung des Caño Cocuina, bevor dieser im Ozean aufgeht. Einmal kommandierte das Unternehmen einen Arbeiter ganz allein in dieses Dorf ab. Während er da war, geschah es, dass eine Frau starb. Wie es dort seit jeher Brauch ist, so legte die Familie der Verstorbenen ihren Körper in einen Einbaum und bedeckte ihn mit Palmwedeln und Lehm. Nun war es für die Dörfler an der Zeit, das bei solchen Anlässen übliche Gelage zu beginnen. Doch gab es – da der Todesfall unvorhergesehen eingetreten war – im ganzen Dorf nicht einen Tropfen Alkohol, und der nächste Laden wäre nur nach mehrtägigem Paddeln zu erreichen gewesen. Also lieh der Arbeiter des Mangrovenholzunternehmens den Verwandten der toten Frau sein Motorboot aus (er selbst durfte seinen Posten nicht verlassen), damit sie den Caño Cocuina aufwärts fahren und Rum kaufen könnten. Dafür gaben sie die Leiche in seine Obhut. Er war guter Dinge und erwartete eine schnelle Rückkehr der Waraos.

Ein Tag verging.

Er wartete vergeblich. Er bemerkte den Geruch der toten Frau.

Zwei Tage vergingen. Noch immer tauchte niemand auf. Der Arbeiter langweilte sich, fühlte sich einsam – fürchtete und ekelte sich vor der faulenden Leiche.

Drei Tage vergingen. Die innere Unruhe, die den Arbeiter schon zuvor erfasst hatte, füllte ihn nun ganz aus. In seiner Verlassenheit begann er auf den rohen Planken des Steges auf und ab zu laufen. Ihm grauste davor, eine weitere Nacht mit der Toten in seiner Hütte zu verbringen. Aber er musste…

Schließlich, am Abend des vierten Tages, kehrte das Boot zurück – darin ein Haufen Rumflaschen und eine Crew, die jenseits von Gut und Böse berauscht war. Die Waraos tranken und lärmten noch die ganze Nacht und den folgenden Tag ohne Verschnaufpause, ob jung, alt, Frauen, Männer, Kinder.
Am zweiten Tag nach Ankunft des Rums in Lagunitas trafen Mitarbeiter des zurückgebliebenen Kreolen ein. Schon vom Fluss aus wunderten sich die Ankömmlinge über eine seltsame Veränderung im Dorf und machten sich Sorgen: Der Ort erweckte den Eindruck als sei er gänzlich verlassen. Nicht die kleinste Bewegung war in den Hütten zu sehen, nicht das leiseste Geräusch zu hören bis auf den Wind. Das war sehr ungewöhnlich. Normalerweise rennt alles, was Beine hat, in die Richtung, aus der das Motorengeräusch kommt, denn Besuch von Fremden ist immer etwas Besonderes.
Als die Kreolen näher kamen, sahen sie einen alten Warao an der Landebrücke kauern. Sein Körper zitterte. Auf ihre Frage, was los sei, weigerte er sich zu sprechen. Sie gingen zu der Hütte, die das Mangrovenunternehmen hier okkupierte, und fanden die gesamte Bevölkerung von Lagunitas darin versammelt wie lebende Tote. In der Mitte der Hütte schaukelte eine Hängematte, darin lag der Arbeiter mit einem Gewehr und einer Flasche. Der alte Mann trat hinter die Kreolen und flüsterte ihnen ins Ohr: „Er sagte, er sei es müde. Er sagte, noch eine Bewegung oder einen Ton, und es gibt eine Ladung in unsern Kopf. Das geht schon so seit gestern …“

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