Film | Nummer 416 - Februar 2009

Gewalt und Rache mit Stil

In Sólo quiero caminar kämpfen vier Frauen um Freiheit und Reichtum

Jannes Bojert

Nach allen Regeln der Kunst knacken vier Frauen nahe Madrid einen Safe voller Edelsteine. In flagranti werden sie erwischt. Drei von ihnen entkommen mit einem Teil der Beute, die Vierte wird von der Gruppe Halbstarker festgehalten, die den Safe zu bewachen hatte. Bevor sie der Polizei übergeben wird, versuchen die Aufpasser noch ihre Schmach zu lindern. Sie schlagen die Gestellte brutal zusammen und der Anführer entleert seine Blase über ihr, als müsse er sein Revier markieren.
So beginnt die Geschichte von Aurora, Gloria, Ana und Paloma in Sólo quiero caminar („Ich will einfach nur laufen“), dem neuesten Film des spanischen Drehbuchautors und Regisseurs Agustín Díaz Yanes. Namensgeber des Films ist der gleichnamige Flamenco von Paco de Lucia. Der Altmeister, der auch höchstpersönlich im Film auftritt, besingt darin den sehnlichen Wunsch nach Freiheit, so wie er auch dem Lebensgefühl jener vier Frauen entsprechen dürfte. Denn diese sind in unterschiedlichsten Zwängen gefangen: Aurora (Ariadna Gil) sitzt nach dem verpatzten Edelstein-Coup hinter Gittern, ihre Schwester Ana (Elena Anaya) wird von ihrem Mann unterdrückt, Paloma (Pilar López de Ayala) leidet unter mangelndem Selbstbewusstsein und Angstzuständen und Gloria (Victoria Abril) versucht verzweifelt eine gute Mutter für ihren Sohn zu sein. Und allen gemein ist scheinbar eine recht prekäre ökonomische Situation.
Aber so wirklich besser wird es nach dem nur halb geglückten Raubversuch nicht. Während Aurora ihre Strafe absitzt, lässt sich der zuständige Richter zunächst von Gloria und später von Paloma gegen sexuelle „Gefälligkeiten” erweichen, die Haftzeit von acht auf zwei Jahre zu verkürzen. Währenddessen lernt Auroras Schwester als Prostituierte den mexikanischen Drogenbaron Felix (José María Yazpik) auf dessen Geschäftsreise durch Kastilien kennen. Er, inspiriert von dem US-Film Pretty Woman, macht ihr einen Heiratsantrag. Sie, inspiriert von seinem Geld, nimmt den Antrag an. Nach der pompösen Hochzeit in Mexiko-Stadt stellt sich jedoch wenig überraschend heraus, dass Felix als Ehemann ähnlich einfühlsam ist wie als Geschäftsmann. Nachdem Ana wiedermal ein blaues Auge davonträgt, heckt sie aus, wie sich die vier Freundinnen zusammen an Felix rächen und dabei gleichzeitig an sein Erspartes kommen könnten. An der Ausführung ihres Plans kann sie sich jedoch nicht mehr beteiligen, da ihr Ehemann sie wenig später bei voller Fahrt aus dem Auto und ins Koma stürzt.
Nacheinander kommen Gloria, Paloma und Aurora nach Mexiko-Stadt und legen sofort los. Allen ist klar, was zu tun ist, um Felix sein Drogengeld zu entwenden. Mit großem technischen und strategischem Geschick wird spioniert, gegraben, gesägt und geschweißt. Warum und wozu wird oft erst im Nachhinein klar, da die drei kaum Worte brauchen, um sich zu koordinieren. Besonders gesprächig sind die vier Frauen ohnehin nicht, wie sich das für ihre Profession gehört. Und auch in Sachen Furchtlosigkeit, Abgebrühtheit und Brutalität steht vor allem Ex-Knasti Aurora ihren männlichen Ganovenkollegen aus anderen Filmen des Genres in Nichts nach.
Dass der Film für diese diese vermeintlich unweiblichen Charakterzüge keine halbseidenen Erklärungen gibt, ist eine seiner Stärken. Es handelt sich lediglich um vier Frauen, die sich dagegen entschieden haben ihr Auskommen durch „ehrliche” Arbeit zu verdienen. Sie wollen möglichst schnell an möglichst viel Geld kommen. Und da die Welt besonders jenseits der Legalität eine ausgemachte Männerdomäne ist, müssen sie es immer wieder mit den brutalsten Typen aufnehmen. Der Film ließe sich also durchaus als eine Abrechnung mit dem Machismus und alter Geschlechter-Stereotypen sehen. Wenn es neben dem stillosen und leicht vertrottelten Drogenbaron Felix und dessen treudoof gewalttätigen Schergen nicht doch den einen edlen Helden gäbe: Gabriel (Diego Luna), auch respektvoll „Erzengel” oder „Babyface” genannt. Als rechter Arm von Felix geht er zwar nicht weniger zimperlich vor als sein Chef, doch er ist der smarte und zivilisierte Gangster. Das Gewissen seines Bosses, das sich zu Wort meldet, wenn dieser seine Gewaltgelüste mal wieder an Frauen auslässt. Ansonsten zeigt auch er wenig Mitleid. Und wie es zu einem solchen Helden gehört, schützt er Frauen nicht nur, er weiß auch mit ihnen umzugehen. Als er sich anstelle eines Callboys bei Aurora einschleicht ist er der erste, der sie in Extase versetzen kann. Glücklicherweise verzichtet Yanes darauf, diese Liebesgeschichte glücklich ausgehen zu lassen.
Dass auch dem Kampf der vier Frauen kein klassisches Happy End beschieden ist, wird dem Publikum schon früh angedeutet. In einer eher randläufig erzählten Geschichte, die Glorias Sohn als Hausaufgabe schreibt, stirbt einer nach dem anderen seiner Figuren auf mysteriöse Weise. Und, so viel sei hier verraten, auch am Ende von Sólo quiero caminar läuft kaum jemand mehr. Ähnliche Hinweise gibt auch die Filmmusik. Entscheidende Szenen werden vom überaus düsteren Trauermarsch Chopins begleitet und so ist Auroras letzter Gang in dem Film dann auch eine Mischung aus Freiheits- und Trauermarsch.
Dieser eher symbolhafte Erzählstil zieht sich durch den gesamten Film. Dass die vier Frauen entschlossen sind bis zum Äußersten zu gehen, wird weniger durch Worte als über die hervorragend fotografierten Bilder angekündigt. Immer wieder blickt die Kamera in langen Einstellungen den vier Protagonistinnen nach und zeigt ihren kräftigen, entschlossenen und gleichzeitig lasziven Gang. Yanes‘ Stil in Andeutungen zu erzählen, gibt Raum für Interpretationen, wirkt aber gelegentlich ein wenig langwierig. Nimmt man den vermeintlichen gesellschaftskritischen Anspruch des Films nicht allzu ernst, ist Sólo quiero caminar jedoch ein spannender, unterhaltsamer und vor allem ästhetisch brillanter Film über Gewalt und Rache. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Was bei Agustín Díaz Yanes’ Liebe zum Detail und zur Perfektion verwundert, ist, dass der Plot an manchen Szenen merkwürdig unplausibel bleibt. So wird Gloria während sie als Botin für Felix arbeitet von dessen Gorillas dabei erwischt, wie sie Geld für sich abzweigt. Der Patron, der sonst schon wegen kleinerer Lappalien kurzen Prozess macht, beschränkt sich in diesem Fall darauf, Gloria eine Hand mit dem Vorschlaghammer zu zertrümmern und lässt sie anschließend sogar weiter für sich arbeiten. Aber um zu Dritt ohne weitere Verbündete in einer fremden Stadt ein Drogenimperium zum Einsturz zu bringen und sich dabei, wenn auch unter vielen Opfern, noch selbst zu bereichern, braucht man eben nicht nur Geschick und Gespür, sondern auch ein bisschen Glück.

Agustín Díaz Yanes // Sólo quiero caminar //
Spanien/Mexiko 2008 // Berlinale Sektion Panorama

KASTEN:

Lateinamerika auf der Berlinale 2009
Wie jedes Jahr berichten die Lateinamerika Nachrichten auch 2009 wieder über die Berlinale. Vom 5. bis zum 15. Februar werden im Rahmen der Berliner Filmfestspiele rund 400 Filme aus 120 Ländern gezeigt. Sechs der 13 diesjährigen Beiträge mit Bezug zu Lateinamerika stellen wir unseren LeserInnen bereits vorab vor.
Zwei der übrigen sieben sind die beiden lateinamerikanischen Teilnehmer des offiziellen Wettbewerbs der Berlinale 2009: Die uruguayisch-deutsch-argentinische Koproduktion Gigante über einen schüchternen Wachmann, der sich über das Bild einer Überwachungskamera in eine Putzfrau verliebt und La Teta Asustada (Spanien/Peru). Der Film von Claudia Llosa, der Nichte des peruanischen Schriftstellers Mario Vargas Llosa, handelt von einer Frau, die an der „ängstlichen Brust“ leidet. Einer sonderbaren Krankheit, die Mütter, die während der Schwangerschaft misshandelt oder vergewaltigt wurden auf ihre Töchter übertragen.
In der Sektion Panorama stehen neben den hier rezensierten Filmen auch noch weitere lateinamerikanische Beiträge zur Wahl für den Publikumspreis des Festivals. Dies sind die Liebesgeschichte El niño pez (Argentinien/Spanien), Coyote (Spanien), ein Dokumentarfilm über die Flucht dreier Guatemalteken in die USA, die mexikanische Produktion Rabioso sol, rabioso cielo (Mexiko) und Garapa (Brasilien), ein weiterer Dokumentarfilm über Menschen, die in Hunger leben müssen. In der Sektion Forum außerdem noch zu sehen: Das Psychodrama Aguas Verdes (Argentinien). Einige dieser Produktionen aus und über den Subkontinent werden wir in der kommenden Ausgabe besprechen.

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