Guatemala | Nummer 395 - Mai 2007

„Gewinnen wir die Empörung zurück“

Interview mit der Frauenaktivistin und Musikerin Sandra Morán

Das Thema der Frauenmorde ist der internationalen Öffentlichkeit vor allem in Bezug auf Mexiko bekannt geworden. Dabei sind sie auch in Guatemala grausame Realität. Hier wurden in den vergangenen Jahren sogar mehr Frauen ermordet als in Mexiko. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit Sandra Morán über Gewalt gegen Frauen in Guatemala, die Situation der Frauenorganisationen und die Bedeutung internationaler Solidarität.

Susanne Schmitz

Aufgrund ihres politischen Engagements ab den 1970er Jahren musste Sandra Morán während des Bürgerkriegs ins Exil. 1994 kehrte sie nach Guatemala zurück. Sie ist Gründerin und heute Vorstandsmitglied des Sector de Mujeres. Diesem Frauennetzwerk gelang es, frauenpolitische Forderungen als Teil der Versammlung der Zivilgesellschaft (ASC) im Friedensabkommen zu verankern.
Außerdem tritt sie seit über 20 Jahren als Percussionistin auf und gastierte bereits bei internationalen Festivals in Mittelamerika, Kanada und Europa. Im März besuchte sie auf Einladung von peacebrigades international mehrere deutsche Städte, um über ihre Arbeit zu informieren.

Mit Jennifer López im Hollywood-Streifen Bordertown gingen die Frauenmorde in Ciudad Juárez in Mexiko durch die internationale Presse. Über Guatemala hingegen spricht keiner. Wie ist die Situation dort?

Zahlenmäßig noch dramatischer. Seit 2000 gibt es nach Geschlecht getrennte staatliche Statistiken über Mordfälle. Dadurch wurde deutlich, dass Frauenmorde Realität sind. Seit 2003 denunzieren wir Frauenorganisationen diese öffentlich. Damals zählten wir 138 ermordete Frauen, 2004 stieg die Zahl auf 383. Im vergangenen Jahr waren es 572 und von Januar bis März 2007 haben wir schon 110 Frauenmorde registriert. Die meisten Opfer sind jung. Ermittlungen werden nur in insgesamt 20 Fällen durchgeführt.

Was sind die Ursachen für diese schreckliche Entwicklung?

Aus dem, was wir feminicidios nennen, ist ein Hass gegenüber dem Körper der Frau ablesbar. Charakteristisch ist nicht nur die Tatsache, dass die Frauen umgebracht werden, sondern wie sie umgebracht werden und wie und wo ihre Leichen hinterlassen werden. Sie wurden vergewaltigt, gefoltert, und mitunter wurden ihnen Gliedmaßen abgetrennt. Das ist anders als bei ermordeten Männern. Ich sehe in Bezug auf den Ort, an dem die toten Körper liegen gelassen werden, eine Kontinuität der 36 Jahre Bürgerkrieg.

Von welcher Kontinuität sprichst du genau?

Aus den 1980er Jahren kennt man den Anblick von Leichen an öffentlichen Orten noch – hinterlassen als Nachricht, um Angst und Schrecken in der Bevölkerung zu verbreiten und Menschen daran zu hindern, sich zu organisieren. Wir glauben, dass die Morde eine Botschaft an uns Frauen sein sollen, ins Haus zurückzukehren. Auch das Radio, die Kirche und Guatemalas Präsident verbreiten diese Botschaften: „Frauen, geht lieber nicht aus dem Haus.“ So sieht es am Ende aus, als seien die Frauen selber schuld, dass sie umgebracht werden. Ein weiteres Stigma ist, dass unter den Ermordeten zahlreiche junge Frauen sind, die laut Presse zu den Jugendbanden maras gehörten. Die Tatsache der Zugehörigkeit einiger Frauen zu den maras wird als ideologische Rechtfertigung ausgelegt, die Frauen zu töten.

Welche Möglichkeiten gibt es, diese Verbrechen aufzuklären?

Anzeigen bei der Polizei bringen fast nichts. Es besteht in Guatemala eine fürchterliche Straflosigkeit: in der Vergangenheit und heute immer noch. Dazu kommt ein allgemeines Klima der Gewalt und Unsicherheit. In Guatemala ist ein Auftragsmord sehr billig. Konflikte werden mit Gewalt gelöst.
Hinzu kommt, dass auch Polizisten des Mordes angeklagt sind. Innerhalb der Polizei gibt es organisierte Banden, die nicht nur mit Drogen handeln, sondern auch Frauen umbringen. Wo sind heute jene Männer, die im Krieg ausgebildet wurden, andere zu foltern und zu töten? Sie sind bei den privaten Wachdiensten, in der Armee und sind Berater der Polizei. Derzeit werden 36 Polizisten angeklagt, Mörder von Frauen oder Vergewaltiger zu sein. Außerdem gibt es von einer Anwältinnen-Organisation Untersuchungen zum Missbrauch von Frauen in Haft durch Polizisten. Hier geht es vor allem um Frauen, die der illegalen Prostitution nachgehen und verhaftet werden. Der Missbrauch geschieht dann häufig zwischen ihrer Festnahme und der Überführung in eine Haftanstalt.

Was macht die Regierung, um gegen diese Verbrechen anzugehen?

Der Staat reagiert auf Gewalt mit Gewalt. Die Armee kommt auf die Straße, die Polizei wird militarisiert, die maras werden verfolgt und die gesamte Bevölkerung wird kriminalisiert. Zu den wenigen positiven Aktionen zählt zum Beispiel der Nationale Plan zur Vorbeugung von Gewalt gegen Frauen, den der Staat ins Leben gerufen hat. So wurde das präsidiale Sekretariat für Frauen-Angelegenheiten geschaffen und die Kommission zur Vorbeugung von Gewalt gegen Frauen. Im Friedensabkommen von 1996 geht es auch um das Schaffen einer demokratischen Sicherheit. Ziel soll es also nicht nur sein, Straftaten zu verfolgen, sondern vorzubeugen. Und an präventiven Maßnahmen fehlt es eben.

Welche Strategien verfolgt das Frauennetzwerk, um auf die Situation der Frauen aufmerksam zu machen?

Die Verantwortung des Staates für Sicherheit zu sorgen, ist in der Verfassung festgeschrieben. Wir richten uns also an die Exekutive und den Kongress, damit notwendige Gesetze auf den Weg gebracht, aber auch Justiz und Staatsanwaltschaft mit dem nötigen finanziellen Budget ausgestattet werden. Und wir fordern mehr Sicherheit im öffentlichen Leben. Desweiteren wenden wir uns mit Sensibilisierungsarbeit und Kampagnen an die guatemaltekische Gesellschaft. Zum Beispiel haben wir T-Shirts und ein Transparent gedruckt mit der Aufschrift „Gewinnen wir die Empörung zurück“. Durch den Krieg haben wir immer noch sehr viel Angst, deshalb halten die Leute den Mund, deshalb gehen die Leute nicht raus. Die Bevölkerung selber muss Forderungen stellen.

Richtet ihr euch auch direkt an die Frauen?

Ja, wir möchten sie vor allem dazu befähigen, Anzeige zu erstatten, andere Frauen zu unterstützen und öffentliche Gewalt anzuzeigen. Trotz aller Kampagnen haben viele Frauen noch immer Angst davor, Fälle häuslicher Gewalt anzuzeigen. In Guatemala gibt es so gut wie keine Frauenhäuser, der Staat hat lediglich fünf Herbergen für sie geschaffen, die Frauenorganisationen drei weitere. Aber das ist alles.

Die Fälle der ermordeten Frauen treten vor allem in Städten auf. Aber ist der Machismus auf dem Land nicht viel stärker verwurzelt?

Ja, die Frauenmorde passieren vor allem in der Stadt, aber sexuelle Gewalt gibt es überall. Ein schreckliches Beispiel ist eine kleine Gemeinde in einer sehr ländlichen Gegend. Frauen von dort berichten, dass es dort üblich ist, dass Mädchen zunächst von ihrem Vater vergewaltigt werden, bevor sie sexuellen Kontakt mit einem Partner haben. Der Vater sagt: „Das sind meine Töchter, deshalb gehören sie mir.“ Dies wird natürlich nicht öffentlich angezeigt, da es als Brauch angesehen wird. Nur innerhalb von Frauenorganisationen wird so etwas bekannt. Was machen wir in so einer Situation? Alle Väter ins Gefängnis stecken? Wir sind der Meinung, dass der Staat nationale Kampagnen durchführen muss, damit sich das Denken wandelt. Denn so ein Denken ist in der machistischen Kultur verwurzelt.

Wie bist du persönlich zur politischen und sozialen Arbeit gekommen?

Meine Familie ist sehr katholisch. Seit meiner Kindheit war mir die Suche nach Gerechtigkeit sehr wichtig ebenso wie anderen zu helfen. Um mich herum habe ich die ganze Ungerechtigkeit dieser Welt gesehen, davor konnte ich die Augen nicht verschließen. Ich hatte als junge Frau einen geradlinigen Lebensplan: mein Studium und dann eine Arbeit finden. Aber plötzlich musste ich von heute auf morgen ins Exil gehen, weil einige meiner FreundInnen verhaftet worden waren. In Mexiko bin ich aber immer mit dem revolutionären Prozess in Guatemala verbunden geblieben und habe die Flüchtlingscamps von der Hauptstadt aus unterstützt. Dort bin ich auch zur Musik gekommen. Meine Musik war immer politisch und solidarisch. Es geht um Hoffnung, Träume, Anklage und Kampf.

Was bedeutet Musik für dich?

Poesie und Musik sind für mich Werkzeuge, die mich „Ich selbst“ sein lassen und die mir Kraft geben, gegen alles Schreckliche zu widerstehen. Heute mache ich vor allem Percussion. Und ich singe – gegen die Straflosigkeit, das Verschwindenlassen von GefährtInnen im Krieg. Ich bin eine Überlebende.

Auf deiner Deutschlandreise triffst du auch VertreterInnen des Bundestags und des Auswärtigen Amtes. In Brüssel bereitet das Europäische Parlament nach einer öffentlichen Debatte im März 2006 nun einen Bericht zur Situation der Frauenmorde in Mexiko und Guatemala vor. Wie wichtig sind internationale Beziehungen und internationale Aufmerksamkeit für den Kampf der Frauen in Guatemala?

Ich halte die internationalen Beziehungen für sehr wichtig. In Guatemala ist die Internationale Gemeinschaft sehr präsent. Sie hat das Leben vieler Menschen gerettet.
Gerade diese Netzwerke der Solidarität waren für Guatemala sehr wichtig. Und daran wollen wir anknüpfen und diese lebendig halten. Ich treffe hiesige VertreterInnen, um ihnen direkte Informationen zu übermitteln, damit sie den internationalen Druck unterstützen, zum Beispiel in bilateralen Verhandlungen. Die Assoziierungsabkommen, über die die EU mit den zentralamerikanischen Staaten seit März verhandelt, dürfen kein Blanko-Scheck sein. Es muss von internationaler Seite auch Druck auf die Einhaltung der Menschenrechte geben.

Wie sieht der Frauensektor die Kandidatur von Rigoberta Menchú für die Präsidentschaftswahlen im September dieses Jahres?

Wir begrüßen ihre Kandidatur. Rigoberta ist eine Kämpferin, eine symbolische Figur für Guatemala, um mit der Diskriminierung und dem Rassismus zu brechen. Doch wir sehen ihre Rolle in der derzeitigen Regierung sehr kritisch. Rigoberta scheint manchmal vergessen zu haben, woher sie kommt.
Die Kandidatur Rigobertas ist sehr wichtig, doch sie geht nicht von einer breiten Bewegung aus, im Unterschied etwa zur Kandidatur Evo Morales‘ in Bolivien. Die linke Bewegung in Guatemala ist noch dabei, nach der Zeit der Repression ihre Kräfte wieder zu sammeln.

KASTEN:
Auf dass die Stille ein Ende hat
(Gemeinschaftsarbeit von weiblichen Gewaltopfern)
Auf dass die Stille ein Ende hat
Auf dass sie ein Ende hat
Auf dass die Mauern der Häuser,
der Gefängnisse, der Straßen fallen,
auf dass die Scham stirbt, bevor sie geboren wird
auf dass das Geräusch der Frauenstimmen
die Schrecken des alltäglichen Schreis erstickt
auf dass die Mauern all der Küchen fallen, in denen gelitten wird.
Auf dass die Stille ein Ende hat
Auf dass die Stille sie hat
Heute wachen wir voller Auflehnung auf
Schütteln die Bettlaken aus
Und stützen die Füße fest auf die Erde
Unser Herz, das zu explodieren schien
Ist gerade explodiert
Auf dass die Stille ein Ende hat
Auf dass sie ein Ende hat.

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