Mexiko | Nummer 461 - November 2012

Gift statt Leben

Tabakplantagen und Pestizide verseuchen Gesundheit und Kultur der Wixárika. Die Not treibt sie in die Arbeitsmigration

Auf den Tabakfeldern des mexikanischen Bundesstaates Nayarit geht der hohe Einsatz von Pestiziden mit massiven Beeinträchtigungen der Umwelt und Gesundheit indigener Saisonarbeiter_innen einher. Die überlebensnotwendige Arbeitsmigration zu den Plantagen, mangelnde Aufmerksamkeit und Unterstützung von staatlicher Seite, Unwissen über die gesundheitlichen Konsequenzen und unternehmerische Interessen verschärfen die Situation für die Menschen.

Ramón Michelle Pérez Márquez, Übersetzung: Sophia Deck (Artikel leicht ergänzt)

„ (…) manchmal bauen wir lieber Bohnen an. Die bringen zwar weniger ein, haben aber einen kürzeren Zyklus.“ Sergio Humberto Parra García aus Nayarit im Nordwesten Mexikos diversifiziert seine Anbaupflanzen. So wie er sind schon viele aus dem Tabakanbau ausgestiegen. 2012 ist die für Tabakanbau genutzte Fläche in Nayarit nur noch halb so groß wie 2003, berichtet das Internetportal Info Rural, das auch Parra Garcia interviewt hat.
Das Projekt Huicholes y Plaguicidas, koordiniert von Patricia Díaz Romo und Samuel Salinas Álvarez, dokumentiert seit den 1990er Jahren die Verseuchung von Grundwasservorkommen, Bächen, Flüssen, Meeren, der Biodiversität und Gesundheit der Menschen durch Pflanzenschutzmittel in Mexiko. Mittel zur Vernichtung von Insekten, die Tabakpflanzen schädigen, sind zudem Verursacher von Krebserkrankungen, Fehlgeburten, genetischen Schäden sowie neurologischen und anderen Krankheiten bei Raucher_innen, die diese gasförmigen Restbestände einatmen. Darüber hinaus haben die chemischen Stoffe die Resistenz und Mutation von Insekten, Unkräutern und Pilzen ausgelöst. Von allen auf bewirtschafteten Feldern Mexikos eingesetzten Pestiziden sind nahezu hundert krebserregend oder verändern das Erbgut und viele schädigen das menschliche Nerven- und Reproduktionssystem. Der Bundesstaat Nayarit ist der wichtigste Tabakproduzent Mexikos. Der Anbau konzentriert sich in der Verwaltungsgemeinde Santiago Ixcuintla im Norden des Bundesstaats. Während der Ernte, die normalerweise zwischen Januar und März stattfindet, beschäftigen die Landbesitzer_innen und ejidatari@s (Mitglieder einer der landwirtschaftlichen Nutzungsgemeinschaften, die im Zuge der Landreformen von 1917 den Grundbesitz organisierten; Anm. d. Übers.) Saisonarbeiter_innen, die das Schneiden und Auffädeln der Tabakblätter verrichten. Bei den sogenannten jornaler@s handelt es sich um indigene Bäuerinnen und Bauern der Gemeinschaften Wixárika (Huichol), Nayari (Cora) und O´dam ñi´ok (Tepehuano), die in den Bergen im Norden Jaliscos, im Osten Nayarits und im Süden von Zacatecas und Durango leben.
Während ihres Aufenthalts in den Tabakfeldern der Küstenebene leben und arbeiten die indigenen Saisonarbeiter_innen draußen auf den Plantagen, kochen ihre Nahrungsmittel auf dem Erdboden und trinken häufig das Wasser aus Bewässerungskanälen, Bächen und Brunnen. Damit sind sie der von Pflanzenschutzmitteln beeinträchtigten Umwelt verstärkt ausgesetzt, zeigt das Projekt Huicholes y Plaguicidas.
Die Koordinator_innen des Projektes gehen davon aus, dass etwa 600.000 Kinder von Großproduzent_innen und transnationalen Unternehmen auf den Feldern ausgebeutet werden. Diese zahlen Löhne unter der Mindestgrenze und keine Sozialabgaben. Trotz der mexikanischen Gesetze und Regelungen sowie der von Mexiko unterzeichneten und ratifizierten internationalen Abkommen und Verträge wie der ILO-Konvention 169, leidet die große Mehrheit der indigenen Kinder, die als Arbeitsmigrant_innen in den agroindustriellen Tabakfeldern in Nayarit arbeiten, unter den Folgen von Ausbeutung und Vergiftung, Krankheit und Tod – verursacht durch den missbräuchlich hohen Einsatz an synthetischen Pflanzenschutzmitteln und Agrargiften.
Im Interview mit der Zeitschrift Tukari erläutert Patricia Díaz Romo, dass die Arbeitsmigrant_innen der Wixaritari auf den agroindustriellen Feldern in Nayarit in erheblich höherem Ausmaß als in ihren Ursprungsgemeinden dem Einsatz toxischer Substanzen, Pflanzenschutzmittel und Agrochemikalien ausgesetzt. Daraus ergäben sich gesundheitliche Schädigungen unterschiedlichen Ausmaßes: von Hautproblemen, schweren Vergiftungen, Kopfschmerzen, über Übelkeit, Erbrechen und Magenkrämpfen bis hin zu unbeabsichtigten Bewegungen und Schüttelkrämpfen.
Das Unwissen darüber, wie die Vergiftungen zu behandeln seien, verschärfe das Problem, führt Díaz Romo aus. „Die Vergiftungen sind extrem häufig auf den agroindustriellen Feldern. Trotzdem haben das Gesundheitsministerium oder auch die Kliniken, die die vergifteten Personen registrieren sollen, oft keine Ahnung davon, dass die Krankheiten von den genannten Pestizid-Einflüssen verursacht werden. Darum werden sie nicht registriert und die offiziell genannten Zahlen der Vergiftungsfälle sind – verglichen mit der Realität – viel zu niedrig.”
Juan Manuel César Díaz Galván, Leiter des Zentrums zur Unterstützung der indigenen Gemeinschaften (UACI) der Universität Guadalajara, berichtet: „Die Aufgabe der Produktionssysteme der indigenen Gemeinden zwingt die Menschen dazu, diese zu verlassen, um an anderen Orten zu arbeiten. Gäbe es Möglichkeiten würdiger Beschäftigung und Unterstützung in ihren traditionellen Produktionsformen, bestände für sie nicht die Notwendigkeit, zum Überleben in andere landwirtschaftliche Regionen wie die Tabakpflanzungen in Nayarit zu emigrieren.”
Dr. Maite Cortés, Direktorin des Umweltschutz-Kollektivs Jalisco, macht darauf aufmerksam, dass die Giftstoffe in den Gemeinden der Huicholes eine zunehmende und latente Komplikation bedeuten, denn „solange die Menschen keinen unmittelbaren Schaden erleiden, erkennen sie die Substanzen nicht als Problem an und glauben nicht, dass diese schädlich sind. Dieses Problem der Wahrnehmung führt dazu, dass die Menschen sich täglich den Giften aussetzen. Darum ist es nötig, dass sie von den Konsequenzen der Stoffe wissen.“ Doch der Prozess der Aufklärung ist schwierig. „Die Leute sehen die Probleme nicht als etwas, das sie in ihrem persönlichen Erleben belastet, obwohl es sie auf lange Sicht tatsächlich chronisch schädigt.”
Doch was macht die Regierung angesichts dieser Problematik? Das Ministerium für soziale Entwicklung (SEDESOL) führte das Programm zur Unterstützung landwirtschaftlicher Saisonarbeiter_innen ein, in dessen Rahmen Herbergen – sogenannte Centros Florece – für indigene Kinder eingerichtet wurden, die auf den Tabakplantagen Nayarits als Saisonarbeiter_innen arbeiten.
Jedoch hat sich das Programm als unzureichend angesichts der großen Anzahl an Familien erwiesen, die sich aufgrund der niedrigen Löhne gezwungen sehen, ihre Kinder als Arbeitskräfte einzubeziehen. Außerdem nimmt es keine Rücksicht auf die kulturellen Charakteristiken der Bevölkerung, an die es sich richtet. Das zeigt sich etwa darin, dass die indigenen Autoritäten nicht einbezogen wurden, um die Strategien der Funktionsweise der Zentren zu definieren. Auch wurde kein bilinguales Personal eingestellt, obwohl in der Region wixárika– und spanischsprachige Menschen leben, die eine sprachliche Beratungsfunktion einnehmen könnten, so die Analyse von Díaz Romo und Salinas Álvarez.
Was spricht dagegen, den Einsatz der Pestizide einzustellen? Patricia Díaz Romo erklärt: „Das Problem ist ein ökonomisches, da mit dem Verkauf dieser Produkte enorme Gewinne von den chemisch-pharmazeutischen und petrochemischen Firmen gemacht werden, die die Gifte herstellen: Aventis, Dupont, Bayer, Syngenta und BASF. Diese haben kein Interesse daran, auf die Gewinne zu verzichten und tun alles, um weiterhin auf globalem Niveau mit diesen Produkten zu handeln.”
Eine Lösung besteht nach Meinung des Leiters der UACI zunächst darin, dass die Regierung die ILO-Konvention 169 in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, denen die indigenen Gemeinschaften ausgesetzt sind, geltend machen muss. Allerdings liegt die hauptsächliche Verantwortung bei der Bundesregierung, denn diese vergibt die Genehmigungen, mit denen die Unternehmen beliebig ihren ökonomischen Tätigkeiten nachgehen.
Der ideale Weg, die negativen Einwirkungen auf die Gesundheit zu vermeiden, so betont Díaz Romo, bestehe darin, ihre Verwendung einzustellen, „eine radikale Veränderung der öffentlichen Politik zu erwirken und auf biologischen Anbau zurückzugreifen. Es hat sich gezeigt, dass es vollständig machbar und empfehlenswert ist, den Gebrauch giftiger Chemikalien abzusetzen, sowohl im Hinblick auf die damit vermiedene Verschmutzung, als auch auf die Qualität der erzeugten Produkte”.
Die Herausforderung liege darin, ohne Pestizide zu leben – und das nicht nur auf dem Ackerland. Darum ist es notwendig zu handeln, damit eine Verschlimmerung des Schadens verhindert werden kann. So müssen Konsument_innen von den Erzeuger_innen Angebote von Qualität anstatt Vergiftung, wie sie bisher geschieht, einfordern.

Dieser Artikel erschien im Original bei der Zeitschrift TUKARI, einer Gratispublikation des Zentrums zur Unterstützung der indigenen Gemeinschaften (UACI) der Universität Guadalajara, Mexiko //
http://www.tukari.udg.mx/noticia/tabacaleras-y-plaguicidas-intoxican-la-cultura-wixarika

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