Kunst | Nummer 399/400 - Sept./Okt. 2007

Gleichheit und Respekt

Brasilianische Rapperinnen streiten mit Beats, Breaks und Reimen für mehr Rechte

Ausgehend von den schwarzen Ghettos in New York entwickelte sich die Hip-Hop-Bewegung zu einem kollektiven Sprachrohr der diskriminierten Schwarzen in der Diaspora. Breakdance, Graffiti, MC-ing (Rap) und DJ-ing, die vier Eckpfeiler des Hip-Hop, trafen in Brasilien auf fruchtbaren Boden. Anfangs waren es fast ausschließlich Männer, die durch den Hip-Hop ihre politischen Messages kommunizierten. In den letzten Jahren besetzen vermehrt Brasilianerinnen kleine Nischen im Männerterritorium. Vor allem als MCs (Masters of Ceremony) verbinden sie Politik mit Kunst, leisten Aufklärungsarbeit und sensibilisieren die Öffentlichkeit für frauenspezifische Anliegen.

Gerit Goenitzer

„Wir kennen das Problem. Punkt. Und was machen wir, um es zu ändern?“, fragt eine junge Brasilianerin, bevor ein Schnitt die nächste Filmsequenz einleitet. Ihr Ton ist bestimmt, ohne dabei unangenehm aufgeregt zu klingen. Probleme gibt es sicher genügend für eine Frau, deren Hautfarbe ihren afrikanische Herkunft verrät. Die Frage der jungen Frau, die das konkrete Problem im Dunkeln lässt, ist ein Ausschnitt des Trailers zu „Rap de Saia“ (Rap im Rock), eine Dokumentation aus dem Jahr 2005. 18 Minuten dauert der Streifzug durch die 15-jährige Geschichte der Rapperinnen des Bundesstaates Rio de Janeiro.
Im November diesen Jahres wird die Filmemacherin Janaína Oliveira ihr Werk persönlich im Rahmen der Brasilianischen Filmwoche „O Negro no Cinema Brasileiro“ in Berlin vorstellen. Mehr als 30 Musikerinnen kommen in dem Film zu Wort. Unter ihnen Koryphäen des weiblichen Hip-Hop Brasiliens wie Paula Diva, Repräsentantinnen der gegenwärtigen Generation wie Edd Wheller und solche, deren größte Chancen wohl noch in der Zukunft liegen. Vitória etwa, die zum Zeitpunkt der Aufnahme ihr neuntes Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Die Protagonistinnen äußern sich zu Schlüsselbegriffen wie Arbeitsmarkt, Rivalität, Sexualität und familiäre Bindung und vermitteln so einen kurzen Einblick in die weibliche Hip-Hop-Kultur Brasiliens.
Sie erzählen von den Barrieren, die einer Frau in einer männlichen Welt den Weg nach oben blockieren. Frauen sind immer noch rar in der Hip-Hop-Szene. Die MC-Szene duldet Frauen primär in zwei Rollen: als Sängerinnen im Hintergrund oder als Tänzerinnen, mit den richtigen Rundungen an der richtigen Stelle. Mit Goldkettchen behängte Gangsta-Rapper haben den politisch motivierten Ursprung des Rap verzerrt. Obszöne Fluche, Gewalt verherrlichender und sexistischer Nonsens, untermauert mit tanzbaren Rhythmen, bieten auch in Brasilien einen geeigneten Rahmen für das Product Placement von schnellen Autos. Gangsta-Rap lässt sich gut vermarkten, zumindest besser als sozialkritische Texte, die die triste Realität ungeschönt in das Bewusstsein der RezipientInnen schleudern.
Und Benachteiligungen, so die Quintessenz einer Vielzahl von wissenschaftlichen Studien der letzten Jahre, durchziehen hartnäckig fast alle Bereiche des Alltags der schwarzen Bevölkerung in Brasilien. Schwarze BrasilianerInnen leben in der Regel kürzer und schlechter als ihre weißen MitbürgerInnen, sind an den Unis kaum präsent und verdienen bei gleicher Qualifikation bedeutend weniger.
„Es geht mir darum zu zeigen, wie sich Rapperinnen innerhalb der Hip-Hop-Bewegung Respekt verschaffen können, ohne dabei zwangsläufig „männlich“ werden zu müssen, sagt Janaína Oliveira. Sie weiß, wovon sie spricht. Mit Talent und Hartnäckigkeit als Wegbegleiter steht sie inzwischen als MC in der vordersten Front. Oliveira wuchs in Duque de Caixas auf, einer Industriestadt nahe der Metropole Rio de Janeiro. 750.000 Menschen leben dort, wo die Schattenseiten des Lebens jungen Mädchen nicht viel Platz zum Träumen lassen. Im Februar 2000 beschloss sie, nicht länger tatenlos anzusehen, wie die Armut den Tagesrhythmus ihrer Landsleute diktiert. Sie wurde zu Revolta Feminina, kurz Re.Fem, und verpackte ihren Missmut in Reime. Sie übt Kritik am kapitalistischen System mit seiner ungerechten Ressourcenverteilung und der fehlenden Chancengleichheit. Wieso sind von den zehn Prozent der ärmsten BrasilianerInnen fast drei Viertel schwarz, während das eine Prozent der reichsten BrasilianerInnen zu 88,4 Prozent aus Weißen besteht? Re.Fem thematisiert in ihren Texten Sexismus und Rassismus, macht Rap zu einem verbindenden Element zwischen Marginalisierten und Privilegierten, klärt Frauen über ihre Rechte auf. Sie war Gast in Fernsehsendungen, hielt Workshops und Vorträge, veranstaltete Konzerte.
Re.Fems primäre Adressatinnen sind junge, schwarze Frauen. Auf die unterste Stufe der brasilianischen Sozialstruktur katapultiert, sind sie doppelten Diskriminierungen ausgesetzt, sie sind Schwarze und sie sind Frauen. Viele der Mädchen hausen in der Peripherie oder in jenen Zonen der Metropolen, die nichts von dem Reichtum um die Ecke erahnen lassen. Durch die simple Gleichung „kein Wissen = keine Macht“ sind sie Menschenrechtsverletzungen besonders ausgeliefert. Eine Studie aus dem Jahr 2002 belegte, dass ein Drittel aller Brasilianerinnen zumindest einmal mit männlicher Gewalt konfrontiert wurde, von 100 getöteten Frauen waren bei 70 die Täter im familiären Umfeld zu finden.

Erst im August des Vorjahres ratifizierte der brasilianische Präsident Lula da Silva zwar ein Gesetz, das Frauen mehr Rechte gewähren und sie besser vor Gewalt im häuslichen Umfeld schützen soll. Präventive Maßnahmen sind im Gesetz verankert, sie sehen unter anderem vor, potenzielle Aggressoren bereits vor der Tat aus dem Verkehr zu ziehen. Das höchste Strafmaß bei Gewalt gegen Frauen wurde von einem Jahr auf drei Jahre Haft angehoben. Aber was von staatlicher Seite als Durchbruch verkauft wird, stößt bei Frauenorganisationen auf weniger Euphorie. Viel zu wenig, monieren sie, aber zumindest ein Anfang: Früher kamen die Täter meist mit einer Geldstrafe davon. Das Gesetz trägt den Namen „Maria da Penha“ und ist eine Hommage an eine Frau, die 1983 zwei Mordversuche ihres Ex-Mannes überlebte. Der Schuss, den er auf sie abfeuerte, lähmte sie. Maria da Penha Maia Fernandes kämpfte 20 Jahre, bis ihr Mann für seine Tat büßen musste. „Die Aufklärung über die Rechte, das solidarische Gefühl, mit deinen Sorgen und Problemen nicht allein auf weiter Flur zu stehen, stärkt das Selbstwertgefühl der Frauen“, brachte Re.Fem ihr Engagement kürzlich auf den Punkt.
Auch wenn sich die EinwohnerInnen Rio de Janeiros und jene von São Paulo nicht sonderlich sympathisch sind – die einen sind zu „lebenslustig und faul“, die anderen zu „langweilig und emsig“, so lauten die gegenseitigen Klischees – die Hip-Hop Frauen in beiden Städten verfolgen doch ähnliche Ziele. 1999 gründeten fünf Frauen in São Paulo die NRO Minas da Rima (Frauen der Reime). Lady Cris, Rúbia und Sharylaine konnten bereits als MCs Erfolge verbuchen, T.L.Queen und Biba Limeira hatten das Potential des Sprechgesangs erkannt und durch ihn ihre pädagogischen Inhalte kommuniziert. Ihre selbstgewählte Mission ist es, die feministische Präsenz innerhalb des Hip-Hops landesweit zu stärken, dem Machismus den Kampf anzusagen. „Rap ist die Musik des Hip-Hop, keine eigene Bewegung. Gangsta-Rap ist ein Stil des Rap. Hip-Hop kämpft gegen alle Formen der Unterdrückung. Wenn innerhalb des Hip-Hop Frauen angegriffen werden, dann widerspricht sich der Hip-Hop“, rücken die Rapperinnen das Bild zurecht. Anhand der drei Achsen Instrumentalisierung, Empowerment und Visualisierung arbeiten sie Thematiken wie Menschenrechte, weibliche und „rassische“ Identität auf, diskutieren sie in Seminaren und Workshops.

Im Jahr 2005 organisierten die Minas da Rima gemeinsam mit der Frauenorganisation CEMINA das „Seminário Minas da Rima – Mulheres do Hip Hop Unidas Pela Eliminação da Violência Contra a Mulher“ (Seminar Minas da Rima – Hip-Hop-Frauen vereint für die Eliminierung der Gewalt an Frauen). In einem kleinen Ort, 95 Kilometer südlich von Copacabana und Zuckerhut, trafen sich über 35 Hip-Hopperinnen und VertreterInnen von NRO. Eine Finanzspritze der UNIFEM machte es möglich, dass Musikerinnen aus fünf Regionen Brasiliens partizipieren konnten. Am 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, wurde das musikalische Resultat präsentiert. Das Cover der CD spricht eine direkte Sprache: „Mulheres do Hip Hop Pelo Fim da Violência Contra a Mulher” (Hip-Hop-Frauen für das Ende der Gewalt gegen die Frau). Weitgehend ohne komplizierte Metaphern kommen auch die Inhalte aus. Zu dritt, zu viert oder zu fünft vereinen sie Texte und Rhythmen zu einem aussagekräftigen Ganzen. „Mulher Negra, tem que respeitar“ (Schwarze Frau, sie muss respektiert werden) heißt ein wütender Mahnruf. „Rosas“ (Rosen) erzählt die Geschichte eines Mädchens, das von ihrem Mann zu Tode geprügelt wird. Immer wieder fordern die brasilianischen Rapperinnen gemeinsam mehr Gleichheit und Gerechtigkeit. Das letzte Mal im März dieses Jahres in Lapa, dem Stadtteil Rio de Janeiros, der nachts als Partyzone der brasilianischen Mittelschicht floriert.
Musik als Sprachrohr für die Anliegen der Diskriminierten und Marginalisierten ist jedoch kein Novum. Im Brasilien der 1930er Jahre trafen sich die Nachfahren der Sklaven in den gerade gegründeten Sambaschulen, um im 2/4 Takt ihren Unmut über das bestehende System zu artikulieren. 50 Jahre später nutzten im Zentrum der Metropole São Paulo schwarze Jugendliche ihre Mittagspausen, um mit akrobatischen Performances flanierende PassantInnen und eilende Geschäftsleute gleichermaßen zu verdutzen. Was mit Breakdance in der Metropole begann, wurde bald in auch in der Peripherie praktiziert. Heute sind die vier Säulen des Hip-Hop als Ausdruck des politisch-ästhetischen Widerstandes zu einem festen Bestandteil der brasilianischen Kultur geworden.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren