Brasilien | Nummer 282 - Dezember 1997

Götter der Stadt

Auf Spurensuche des Candomblé und Umbanda in Brasiliens Metropolen

Im Zuge der Demokratisierung Brasiliens treten die Religionen Candomblé und Umbanda zunehmend aus der Verborgenheit ihrer Kultstätten hinaus in den öffentlichen Raum. So ist es mittlerweile selbstverständlich, daß im alten Zentrum der industriellen Megametropole São Paulo auf Brücken oder am Rande des Bürgersteigs kleine Tische mit Spitzendeckchen und Heiligenfiguren zur afrikanischen Orakelbefragung durch Muschelwerfen einladen. Die Großstadt ist dabei eine ungewöhnliche Umgebung dieser Religionen. Vagner Goncalves da Silva, Professor an der Universität von São Paulo (USP), hat sich vorrangig mit afrobrasilianischen Religionen beschäftigt. Das folgende Interview gibt Aufschluß über diese Religionen in den Metropolen Brasiliens.

Inga Schatz Scharf

Seit wann existieren der Candomblé und die Umbanda in São Paulo?

Es ist äußerst wahrscheinlich, daß diese Religionen mindestens seit dem 19. Jahrhundert in São Paulo existieren. Bedeutsame Kulte sind sie jedoch erst später geworden, die Umbanda in den 20er und der Candomblé in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Für die Verbreitung des letzteren scheint die Zuwanderung aus dem Nordosten Brasiliens, die in dieser Zeit besonders stark gewesen ist, einer der Hauptgründe zu sein. Außerdem entwickelten sich aus diesen beiden Religionen hybride Riten.

Wie änderte sich der Candomblé in einer modernen Stadt wie São Paulo?

Die Funktion des Candomblé in der Stadt ist, eine universelle Religion, also offen für alle, zu sein. So hat sich die ursprüngliche Funktion des als Religion des Überlebens und/oder des Widerstands von schwarzen Bevölkerungsgruppen ausgeweitet. Candomblé und Umbanda haben sich von geschlossenen Weltbildern gelöst und dem Dialog mit der modernen Welt geöffnet. Heutzutage erfüllen sie ebenso die Bedürfnisse von Weißen und dem Mittelstand. Die einst dem Klan vorbehaltenen Götter „senken“ sich unterschiedslos in Schwarze und Weiße, Arme und Reiche, Männer und Frauen, in der Metropole sowie auf dem Dorf.

Wie sind die Kultgemeinden ethnisch zusammengesetzt?

Das hängt stark von der Stadt ab, in der sie sich befinden. In São Paulo gibt es ein ausgeglichenes Miteinander von Schwarzen und Weißen mit einer gewissen Tendenz zur weißen Bevölkerung. Im Nordosten, wo die Bevölkerung hauptsächlich schwarz ist, gibt es mehr Schwarze, im Südosten ist es dagegen umgekehrt.

Wie können die yorubanischen Gottheiten1die männlichen Orixás und weiblichen Iyabás – in einer Stadt überleben, obwohl sie die Kräfte der Natur repräsentieren?

Indem sie in einen Dialog mit der Stadt treten, und zwar im Sinne der Neuerfindung des urbanen Raumes. Für die Orixás als Wesen der Natur kann in einer Stadt immer weniger natürlicher Raum für ihre Kulte gefunden werden. So werden die Opfergaben, zum Beispiel in Form eines Tellers mit Maniokmehl oder mit einem Huhn und angezündeten Kerzen, den Orixás an bewegten Straßenecken, auf Plätzen oder in Parks dargeboten. In der religiösen Sichtweise wird die Stadt zur Erweiterung der Kultstätte. Auch sie gehört zum Kosmos des Candomblé. Daher werden nicht nur Elemente der Natur als heilig interpretiert, sondern auch städtischen Elementen wie Straßen, Friedhöfen und Kreuzungen werden durch die Anwesenheit der Gottheiten „mythische Kräfte“ verliehen.

Welche Bedürfnisse erfüllen diese polytheistischen Religionen in einer Stadt?

Es ist notwendig, die hiesige Welt als heilig anzusehen, und sie sich nicht als vom Göttlichen entlegen vorzustellen. Die Stadt war immer mit Säkularisierungs- und Rationalisierungsprozessen verbunden. Mit dem Einzug des Candomblé in die Städte, genauso wie mit der Welle der Esoterik und des Mystizismus in die großen Metropolen, werden diese alten Grenzen durchbrochen.

Inwiefern werden von Akademikern geschriebene Quellen, wie etwa die ethnologischeWerke von Pierre Verger oder Juana Elbein dos Santos von Anhängern dieser oral tradierten Religionen aufgenommen bzw. benutzt?

Da es sich um Religionen handelt, die keine heiligen Bücher besitzen, wird die akademische Literatur zu einer Art Doktrin, einer geschriebenen Form ihrer Religion. Sie wird zum Vergleich mit ihren eigenen Ritualen herangezogen oder sogar zum Vorbild erhoben, um so die liturgischen Formen anhand autorisierter Quellen gegenüber der Gesellschaft zu legitimieren. Trotzdem bringt das Geschriebene auch Probleme mit sich, da es in den Aufgabenbereich des Oralen dringt: so sind z.B. die Kultgemeinden nach dem Alter der Initiation ihrer Mitglieder hierarchisiert, wodurch der Zugang zu den geheimen Regeln mündlich überlieferten rituellen Wissens reguliert wird.

Im Juni und Juli dieses Jahres hat eine Gruppe von Professoren der Anthropologie und Soziologie der USP Vorträge in einiger Kultgemeinden des Candomblé und der Umbanda gehalten. Inwiefern verdeutlicht dies die Beziehung zwischen brasilianischen Intellektuellen und den Gläubigen?

Es zeigt, wie sich die gesamte Geschichte des Candomblé an der Beziehung zu Akademikern entwickelte. In dieser Tradition stehen auch die afrobrasilianischen Kongresse, von denen der erste 1934 in Recife und der fünfte dieses Jahr abgehalten wurde. An der USP gibt es auch seit 1977, wie an anderen Universitäten im Land, Yoruba-Sprachkurse, da Yoruba die überlieferte Sprache der Kultgemeinden ist. Hauptsächlich werden diese Kurse von Angehörigen des Candomblé besucht, die damit zu „Übersetzern“ und offiziellen Repräsentanten der Gemeinden werden.

Interessant ist ebenfalls, daß viele Forscher zu Grenzgängern zwischen der Universität und den Kultgemeinden und mit der Zeit zu Gläubigen werden. Im Moment arbeite ich darüber in meiner Doktorarbeit.
Was machen die Gläubigen zu Weihnachten?

Sie sind in dieser Hinsicht zutiefst synkretisch. Sie sind Candomblistas und doch gleichzeitig katholisch. Sie feiern Weihnachten wie alle anderen auch.

Goncalves da Silva, Vagner: Candomblé e Umbanda. Caminhos da devocao brasileira. As religioesna história, Editora ática, São Paulo 1994.
Ders.: Orixás da Metrópole, Petópolis, Vozes 1995.

Anmerkungen:
1 Orixás und Iyabás sind Gottheiten der Yoruba, einem sudanesischen Volk in Westafrika (Gebiete im heutigen Nigeria, Benin und Togo). Die Mehrzahl dieser Götter sind irdischen Ursprungs, verwandelten sich dann in Naturkräfte und dienen der mythischen Ahnenverehrung innerhalb lokaler Verwandtschaftsbezüge. Über sie wird in den Orikis, den Gesängen bzw. Lobpreisungen, und den mündlich überlieferten Legenden berichtet. Durch Sklavenhandel der Portugiesen wurden zwischen 1540 und 1850 Yoruba nach Brasilien verschleppt, überwiegend nach Bahia und Pernambuco. Hier wurden die Kultstätten der Nugoo-Ketu-Tradition der Yoruba nicht wie in Afrika traditionsgemäß von Männern, sondern durch Frauen gegründet, geleitet und weitergegeben.

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