Jamaika | Nummer 450 - Dezember 2011

Golding übt sich in Politricks

Regierungschef zieht sich durch Amtsübergabe aus der Dudus-Affäre

Jamaica hat seit dem 23. Oktober einen neuen Regierungschef: Der 39-jährige Bildungsminister Andrew Holness löste den 63-jährigen Bruce Golding ab, der 2007 die konservative Jamaica Labour Party (JLP) nach 18-jähriger Abstinenz wieder an die Macht brachte. Goldings vorzeitiger Abgang war nicht geplant, doch die Affäre um die Auslieferung des Drogenbosses Christopher „Dudus“ Coke an die USA brachte sein Ansehen und das der JLP auf Sinkflug. Der beliebte Holness soll nun das Blatt wenden und könnte dafür auf vorgezogene Neuwahlen im Dezember zurückgreifen. Er steht in dem hochverschuldeten und von Bandenkriminalität geplagten Land vor einer extrem schwierigen Aufgabe.

Martin Ling

Tivoli Gardens verbindet sie: Seit 2005 hat Bruce Golding dort seinen Wahlkreis, wo der Boss der Bosse, Christopher „Dudus“ Coke bis 2010 das Sagen hatte. Dann wurde er von der Regierung unter Führung des damaligen Premiers Golding auf Druck der USA fallen gelassen und nach seiner Verhaftung im Juni 2010 ausgeliefert. Coke steht derzeit in New York vor Gericht, ist teilweise geständig und erwartet im Dezember ein Urteil über eine jahrzehntelange Gefängnisstrafe wegen Drogenhandels und Gewaltverbrechen.
Nur wenige Wochen nach Cokes Teilgeständnis hatte Premier Bruce Golding am 25. September überraschend angekündigt, sowohl sein Amt als Premierminister als auch das als Chef der konservativen JLP niederzulegen, sobald ein geeigneter Nachfolger gefunden sei. Die Suche ging schnell über die Bühne: Die JLP einigte sich auf den 39-jährigen Erziehungsminister Andrew Holness, der beim Parteitag am 20. November ohne Gegenkandidat zur Wahl steht – und das als amtierender Premier, nachdem ihm Golding am 23. Oktober die Amtsgeschäfte übergeben hatte. Holness ist damit neunter und zudem jüngster Regierungschef in der Geschichte des 1962 unabhängig gewordenen Karibikstaates.
Golding gab unumwunden zu, dass die Diskussionen über seine Handhabung der Auslieferung von „Dudus“ ihn maßgeblich zum Rücktritt bewogen hätten. Er hatte zunächst argumentiert, dass die Beweise gegen Coke durch illegales Abhören von Mobiltelefonaten zustande gekommen seien und man daher nicht gegen ihn vorgehen könne. Aufgrund der guten Kontakte von Coke zur JLP wurde ihm jedoch unterstellt, seine schützende Hand über den Don in seinem Wahlkreis halten zu wollen. Damit konnte Golding die von den USA bereits 2009 beantragte Auslieferung zwar verschleppen, schließlich aber nicht verhindern. Tivoli Gardens, der Ausgangspunkt der so genannten Garrison-Politik, der Golding eigentlich den Kampf angesagt hatte, wurde ihm zum Verhängnis. Damit wird das Phänomen bezeichnet, wonach in städtischen Hochburgen in bestimmten Wahlkreisen keine anderen Meinungen oder gar Parteianhänger­_innen geduldet werden als jene der den Wahlkreis innehabenden Partei. Dafür sorgen im Zweifel parteinahe Gangs in der Regel mit Waffengewalt.
Den Grundstein für diese „Politik“ hatte Golding selbst mit gelegt, denn in der vergangenen Regierungszeit der JLP von 1980 bis 1989 unter Premier Edward Seaga war Golding Minister für Wohnungsbau. Seaga ließ in seinem Wahlkreis Tivoli Gardens Hochhäuser bauen. Mietverträge bekamen nur JLP-Anhänger_innen. Offiziell aus Protest gegen die Garrison-Politik kehrte Golding 1995 der JLP den Rücken, scheiterte mit seinem National Democratic Movement, um sich dann 2002 reumütig zwecks politischer Karrierechancen mit Seaga zu versöhnen und in den Schoß der JLP zurückzukehren – inklusive der Übernahme des Abgeordnetensitzes in Tivoli Gardens nach Seagas Rückzug. Dieser politische Zick-Zack-Kurs brachte Golding den Spitznamen Flip-Flop-Bruce ein. Politricks statt politics ist ohnehin das, womit die Jamaicaner_innen das Gebaren ihrer Politiker_innen gern beschreiben.
Die Tagesgeschäfte in Tivoli Gardens führen seit Jahrzehnten jedoch nicht die gewählten Abgeordneten, sondern die Dons, die Drogenbosse. Und als Boss der Bosse gilt zumindest den Behörden der USA Christoper „Dudus“ Coke. Für die Bewohner_innen des Armenviertels der Hauptstadt Kingston ist er indes ein Wohltäter ersten Ranges, der liebevoll „Prezi“ genannt wird, der Präsident des Viertels, ohne den dort nichts geht. Viele Kinder verdanken seiner finanziellen Unterstützung die Möglichkeit, eine bessere Schule zu besuchen, angehende Musikstars wurden von ihm gefördert, und Armenspeisungen für Bedürftige finanzierte dort Coke und nicht der Staat. Das ist das eine, soziale Gesicht des 42-jährigen Jamaicaners. Das andere Gesicht muss sich in New York vor Gericht verantworten und die Anklage hat es in sich: Coke soll der Anführer einer kriminellen Bande sein, der einst von seinem später in der Haft umgekommenen Vater gegründeten so genannten Shower Posse, die in großem Ausmaß in den Drogenhandel verwickelt ist und für unzählige Gewaltverbrechen verantwortlich gemacht wird. Lange hat Coke alle Vorwürfe kategorisch bestritten und auf seine formelle Existenz als Event-Manager und Geschäftsmann verwiesen – sekundiert von seinem Anwalt Tom Tavares-Finson, seines Zeichens JLP-Senator, der Coke inzwischen aber nicht mehr vertritt.
Mittlerweile hat Coke vor Gericht die Verantwortung für einen Teil der ihm angelasteten Taten übernommen. „Ich bekenne mich schuldig, weil ich es bin“, sagte er nach Angaben der New York Times dem Richter Robert P. Patterson. Nach Informationen der Zeitung legte Coke erst das Geständnis ab, als ihn die Anklage in New York mit Zeugen konfrontierte, die gegen ihn auszusagen bereit waren. Einer wollte demnach unter Eid beschreiben, wie Coke einen Mann mit einer Kettensäge tötete. Das Geständnis von Anfang September bringt ihm Strafnachlass: Statt lebenslang droht nun eine Höchststrafe von 23 Jahren.
In Tivoli Gardens reagierten die Bewohner_innen laut der jamaicanischen Tageszeitung The Gleaner mit Schock bis Mitleid auf das Geständnis – die Polizei erhöhte die Alarmbereitschaft. Schließlich hatte der Versuch, Coke im Mai 2010 in Tivoli aufzutreiben, die größte Militär- und Polizeioperation in der Landesgeschichte bewirkt und mindestens 76 Menschenleben unter den Bewohner_innen gefordert, die ihren „Prezi“ vor der Auslieferung bewahren wollten. Coke wurde dabei nicht gefunden sondern erst vier Wochen später festgenommen. Holness hat nun ein schweres Erbe zu verwalten: Auch nach der Umschuldung infolge des Staatsbankrotts im Januar 2010 ächzt Jamaica nach wie vor unter einer extrem hohen Verschuldung: Rund 60 Prozent des Staatshaushalts gehen Jahr für Jahr für den Schuldendienst, also Zins- und Tilgungszahlungen, drauf. Das ist trauriger Weltrekord, übertrifft griechische Dimensionen um Längen und geht vor allem zu Lasten von Bildung und Sozialem.
Die von den USA ausgehende Finanzkrise hatte Jamaica schwer getroffen und die Rückkehr des Internationalen Währungsfonds (IWF) nach sich gezogen. Von 1977 bis 1995 verband Jamaica und den IWF eine lange, für die Bevölkerung leidvolle Geschichte, ehe die Insel sich von den IWF-Fesseln befreien konnte. Bis 2009, seitdem geht ohne IWF-Kredite wieder nichts mehr. Nach der Zahlungsunfähigkeit im Januar 2010 konnte die Regierung die einheimischen Gläubiger_innen zu einer Umschuldung von umgerechnet 7,8 Milliarden Dollar an Staatsanleihen bewegen. Diese stimmten einer Reduzierung der Zinsen und einer Verlängerung der Laufzeit zu und somit einem teilweisen Forderungsverzicht.
Der schwierigen wirtschaftlichen Ausgangslage ist sich Holness bewusst. Jamaica sei in einem Teufelskreis gefangen, in dem Schulden aufgenommen werden müssten, um die Zinsen zu begleichen. „Der sicherste Weg, die Armut zu vergrößern, besteht darin, mehr Schulden aufzunehmen, als wir erwirtschaften”, so Holness. „Ich liebe die Armen, aber ich hasse Armut. Arme brauchen sinnvolle Arbeit und nicht weitere Überbrückungsprogramme“. Er habe mit seiner Regierung einen Plan vorbereitet, um die nationale Schuldenlast zu vermindern. Dabei sollten aber die Ärmsten verschont werden. Das hört sich gut an, aber der Beweis dafür muss noch erbracht werden. Zupass kommt Holness die derzeit für jamaicanische Verhältnise erfreuliche konjunkturelle Entwicklung. In den ersten acht Monaten des Jahres beliefen sich die Einnahmen aus dem Tourismus auf eine Rekordsumme von 1,5 Milliarden Dollar. Ein Plus von 3,4 Prozent gegenüber 2010. Zusammen mit den Rücküberweisungen von im Ausland lebenden Jamaicaner_innen, die sich nach dem krisenbedingten Einbruch nach 2008 wieder auf rund 2 Milliarden US-Dollar pro Jahr belaufen, ist der Tourismus mit Abstand der wichtigste Devisenbringer ­– weit vor dem Bauxitexport, der in den 1970er Jahren die Einnahmequelle Nummer eins war.
Holness steckte nach der Gelöbniszeremonie am 23. Oktober seinen politischen Kurs ab. Er wolle den von der Vorgängerregierung erfolgreich begonnenen Kampf gegen Kriminalität fortsetzen, eine Anti-Banden-Gesetzgebung einbringen und den Feldzug gegen die Korruption fortführen. Wie erfolgreich der Kampf gegen die Kriminalität ist, ist freilich umstritten. Zwar ist die Mordrate – mit 1.700 im vergangenen Jahr eine der höchsten der Welt ­– laut Regierungsangaben in den ersten Monaten 2011 beträchtlich gesunken, insgesamt um 44 Prozent, in Kingston gar um 60 Prozent. Gleichzeitig beklagen jedoch Menschenrechtsorganisationen eine Zunahme der extralegalen Tötungen durch Sicherheitskräfte, seit sie in den Ghettos „aufräumen“. Die jamaicanische Polizei steht seit Jahren im Ruf, zuerst zu schießen, und erst dann Fragen zu stellen. Holness scheint diese Praxis so wenig zu hinterfragen wie seine Vorgänger.
Als bisheriger Bildungsminister, dem Job, dem er seine Popularität verdankt, will er auf diesen Sektor weiter ein großes Augenmerk legen. „Ausgaben für die Bildung sind die beste Investition, um die generationenübergreifende Armut zu bekämpfen“, betonte der neue Regierungschef. „Ich ermutige deshalb alle Jamaicaner, Opfer zu bringen und in die Bildung der eigenen Kinder zu investieren.“
Analyst_innen gehen davon aus, dass Holness die Gunst der Stunde zu nutzen versucht und für Mitte/Ende Dezember vorgezogene Neuwahlen ausruft, was in dem am britischen Westminster-Modell angelehnten politischen System in Jamaica anstandslos möglich wäre. Turnusmäßig stehen die Wahlen erst für Ende 2012 an.

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