Nicaragua | Nummer 440 - Februar 2011

Googlemaps contra uno

Nicaragua und Costa Rica streiten vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag um den Grenzfluss San Juan

Costa Rica und Nicaragua streiten seit Jahrhunderten um den Grenzfluss San Juan. Vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag geht es nun um eine 27 Quadratkilometer große Flussinsel in der Mündung zum Atlantik. Costa Ricas Regierung wirft dem Nachbarland die Invasion der Flussinsel und die Zerstörung des dortigen Bioreservats vor. Nicaraguas Präsident Ortega rechtfertigt die Rodungs- und Baggerarbeiten im Mündungsdelta mit der Schiffbarmachung des San Juan – und erneuert die Utopie vom „Großen Kanal“.

Jan Ullrich

Der San Juan ist mehr als ein Fluss. Rund 200 Kilometer durchquert er den zentralamerikanischen Isthmus auf seinem Weg vom Nicaraguasee zum Atlantik und bildet dabei mit seiner Vielzahl von Nebenflüssen und Mündungsbecken die un-übersichtliche Grenze der Staaten Nicaragua und Costa Rica. Heute bahnen sich die Migrationsströme der globalisierten Welt ihren Weg durch den Grenzraum San Juan in eine vermeintlich bessere Zukunft und setzen dabei die Geschichte des Flusses als Ort der Utopien fort. Scharen von Goldsuchern bereisten einst den San Juan auf ihrem Weg an die amerikanische Westküste. Für die internationale Solidaritätsbewegung begann die Reise in das sandinistische Nicaragua oft über den San Juan, während der Schriftsteller Ernesto Cardenal die Utopie des Tomas Morus auf den Inseln Solitiname am San Juan sich zu verwirklichen glaubte. Auch Gioconda Bellis Dystopie Waslala findet am San Juan eine Bühne. Vor allem aber prägte der San Juan von den spanischen Chronisten der Kolonialzeit über die Abenteurer der beginnenden Moderne bis heute die Utopie eines transozeanischen Kanals.
Seit der Entstehung der zentralamerikanischen Nationalstaaten streiten Costa Rica und Nicaragua um diesen utopischen Raum, an dem Mark Twain 1866 in seinen Reisetagebüchern auf dem Weg von San Francisco nach New York einen Bürgerkrieg heraufziehen sah. Im Vertrag von Jerez-Caña war 1858 das Gebiet nördlich sowie die Hoheitsrechte über den Fluss Nicaragua zugeschrieben worden. Doch weil Grenzen eben mehr sind als Linien auf Landkarten, bildet der San Juan bis heute das Konfliktfeld zwischen Costa Rica und Nicaragua. Ein Urteil des Internationalen Gerichtshof hatte die Souveränität des nördlichen Nachbarn zuletzt 2009 bestätigt und dabei Costa Rica untersagt, Mitglieder seiner Sicherheitsbehörden auf dem Fluss patroullieren zu lassen. Zu Beginn des Jahres 2011 verhandeln Costa Rica und Nicaragua nun erneut in Den Haag über den San Juan. Diesmal geht es um den Grenzverlauf im Mündungsdelta.
„Auf die Lagune von Harbour Head stoßend verläuft die Grenzlinie nach links, nach Südosten und fährt von dort am Ufer der Lagune entlang fort, um den Harbour herum bis sie am nächstgelegenen Flussbett auf den eigentlichen Fluss trifft.“ So lautete der Schiedsspruch des US-amerikanischen Ingenieurs Edward Portes Alexander über den Verlauf der Grenze zwischen Costa Rica und Nicaragua an der Atlantikmündung des Río San Juan aus dem Jahr 1897. US-Präsident Cleveland hatte Alexander als Schiedsmann gesandt, nachdem die jeweiligen Vermessungskommissionen Ende des 19. Jahrhunderts zu unterschiedlichen Ergebnissen bei der Kartographierung des Grenzverlaufs beider Länder gekommen waren.
Harbour Head, auf spanisch Laguna Portillo, ist das südliche Mündungsbecken des San Juan. Von dort fließt der Hauptarm des Flusses nach Norden, schlägt einen Bogen und zieht weiter nach Südwesten. Das Landstück, das dieser Bogen zwischen der Laguna Portillo und dem Fluss umschließt, ist die nördliche Spitze der Flussinsel Calera und nach dem Schiedsspruch Alexanders costaricanisches Territorium. Seit August 2010 wird dieser Grenzverlauf jedoch von Nicaraguas Regierung in Zweifel gezogen. Im Rahmen der Wiederschiffbarmachung der Atlantikmündung wurde zwischen San Juan und der Laguna Portillo ein 1.500 Meter langer Kanal ausgehoben. Luftaufnahmen der Vereinten Nationen belegen die Veränderung des Wasserlaufes im Zuge fortschreitender Rodungen und damit herbeigeführter Bodenerosion zwischen August und Dezember 2010. Die nicaraguanische Regierung behauptet jedoch, die direkte Verbindung zwischen San Juan und Laguna Portillo sei ein natürliches Flussbett und im Zuge der Wiederschiffbarmachung des San Juan von ihren Ablagerungen befreit worden. Vor allem sei, so die Ansicht der Regierung Ortega, die Verbindung zwischen San Juan und Laguna Portillo das „nächstgelegene Flussbett“, welches Alexander 1897 zur Grenze erklärt hatte. Der Nordzipfel der Isla Calero sei demnach nicaraguanisches Territorium. Unverhoffte Unterstützung bekam Nicaragua mit seiner Sichtweise von GoogleMaps. Der Internet-Kartendienst weist die nördliche Insel Calera bis heute als nicaraguanisches Territorium aus. Vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag hat Nicaragua deshalb die Neuverhandlung des Grenzverlaufs beantragt.
Costa Rica erhebt gegen das Nachbarland in Den Haag im Gegenzug Anklage wegen der Zerstörung eines sensiblen Naturschutzgebietes. Der Grenzverlauf sei unstrittig – so die Position der VertreterInnen aus San José – und müsse nicht verhandelt werden. Unterstützung bekommt die costaricanische Position dabei auch vom UN-Forschungsinstitut UNITAR und deren Satellitenprogramm UNOSAT. Die im Internet veröffentlichten Satellitenaufnahmen dokumentieren detailliert die Flussaushebungs- und Rodungsarbeiten des Nachbarlandes auf der Isla Calera. Der neu entstandene Kanal zwischen der Laguna Portillo und San Juan zeige keine Hinweise auf eine natürliche Entstehung. „Auch deutet die Anordnung der Vegetation nicht auf eine natürliche Strömungsänderung aufgrund saisonaler Hochwasser hin“, schreibt UNITAR in ihrem Bericht über die Auswertung von Satellitenaufnahmen des Mündungsdeltas zwischen 1979 und 2010.
Angesichts der klaren Faktenlage über den Grenzübertritt hatte im Dezember letzten Jahres die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) das Vorgehen der nicaraguanischen Regierung mehrheitlich verurteilt. 24 Mitgliedsstaaten stimmten einer Resolution zu, in der Nicaragua zum Rückzug von der Isla Calera aufgefordert wird. Einzig Venezuela stimmte damals für die Position Managuas. Ortega hatte daraufhin mit dem Austritt seines Landes aus der OAS gedroht und blieb bei seiner Sichtweise: Die Arbeiten am Flussbett des San Juan dienten der Wiederschiffbarmachung und damit der Aufrechterhaltung der Hoheitsrechte des Landes über den Fluss. Notwendig geworden seien die Flussarbeiten vor allem deshalb, weil Costa Rica durch die Ausbaggerung des südlichen Mündungsarms am Río Colorado die Flussbette des San Juan habe versanden lassen. Vor allem neue Bewässerungsanlagen zur Ausweitung industrieller Landwirtschaft im Nordosten Costa Ricas hätten die Pegelstände des San Juan negativ beeinträchtigt.
Tatsächlich führt der Nebenfluss Colorado auf costaricanischer Seite der Grenze weit mehr Wasser zum Atlantik als der nördliche San Juan. 25 km vor der Atlantikmündung teilen sich beide Flüsse. Allerdings sind die Ursachen für die unterschiedliche Entwicklung beider Mündungsarme umstritten. Costaricanische Wissenschaftler, wie der Geologe Freddy Pacheco, behaupten, die Wasserläufe des San Juan seien an der Atlantikmündung bereits zu Mitte des 19. Jahrhunderts versandet. Vor allem Segmentabspülungen von Vulkanen hätten das nördliche Flussbett verstopft und gleichzeitig den Colorado anschwellen lassen. Auch das Mündungsbecken um San Juan de Nicaragua (engl. Greytown), das im 19. Jahrhundert als Tiefseehafen für den Nicaragua-Kanal vorgesehen war, sei so weitgehend versandet. Aus diesen Gründen, so Pacheco, hätten sich die USA damals für den Panamakanal entschieden. Eine Machbarkeitsstudie Nicaraguas aus dem Jahr 2006 kam zu dem Ergebnis, dass eine schiffbare transozeanische Verbindung über den San Juan wegen der geologischen Bedingungen unmöglich sei. Die zwischen 16 und 46 Meter hohe Sandschicht ließe sich nur mit unverhältnismäßig hohem Einsatz von Mitteln entfernen und würde zudem dauerhaft das Schleusensystem eines schiffbaren Kanals gefährden, hieß es in dem Bericht.
Dennoch wird in den Medien beider Länder als Hintergrund des Konflikts vor allem über einen Kanalbau spekuliert. Haben doch der weltweit stark wachsende Seehandel und neue geopolitische Interessen der globalen Schwellenländer in den letzten Jahren die Pläne einer transozeanischen Verbindung wieder aktuell werden lassen. Nach Angaben der nicaraguanischen Tageszeitung La Prensa haben im Juli 2010 die Bauarbeiten für einen Tiefseehafen in Monkey Point an der Atlantiküste durch südkoreanische Investoren begonnen. Anstatt eines Wasserweges sollen von dem wenige Kilometer südlich von Bluefields gelegenen Hafen Eisenbahnschienen die Atlantikküste Nicaraguas mit dem am Pazifik gelegenen Punta de Pie Gigante verbinden.
Das von Ex-Präsident Arnoldo Aléman bereits 1999 beschlossene Projekt soll jedoch nur der Anfang für den Aufstieg des Landes zum globalen Handelszentrum sein. So konkretisierte eine Machbarkeitsstudie im Auftrag der Regierung Bolaños aus dem Jahr 2006 die Pläne für eine Wasserstraße durch die Landenge. Die Präsidialkommission bezifferte das Investionsvolumen damals auf 18 Milliarden US-Dollar. Der 280 Kilometer lange Kanal solle nach seiner Fertigstellung Schiffe mit Kapazitäten von 250.000 Tonnen passieren lassen und damit weit mehr als der Panamakanal. Auf der Suche nach internationalen KreditgeberInnen soll Ortega angeblich im Oktober 2009 in den Vereinigten Arabischen Emiraten erfolgreich gewesen sein. Auch Russland soll interessiert sein. Der Río San Juan spielt in diesen Plänen jedoch keine Rolle mehr. Die Machbarkeitsstudie der Regierung Bolaños empfiehlt eine Route von der Isla de Venado über den Río Rama und Río Oyate, über den Nicaraguasee nach Rivas und von dort nach Brito am Pazifik.
Und doch taugt die Utopie vom Kanal als perfektes Wahlkampfthema für Präsident Ortega. Denn obwohl der „Große Kanal“ wohl niemals über den San Juan führen wird – auch nach Erdbeben und Bürgerkriegen ist der San Juan ein Raum zum Träumen geblieben. Noch immer steht der Fluss, der im 19. Jahrhundert IngenieurInnen, InvestorInnen und PolitikerInnen weltweit als Favorit für den Bau eines Kanals galt, in Nicaragua für die Versprechen der Moderne, für Fortschritt und Wohlstand. Die Beschwörung eines nationalen Verteidigungskampfes des San Juan gegen den ewigen Rivalen Costa Rica kann deshalb in Nicaragua über alle Lagergrenzen hinweg WählerInnen mobilisieren. Für seine Wiederwahl im November hat Präsident Ortega also unabhängig der Entscheidung in Den Haag alle Trümpfe in der Hand.

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