Kirche | Nummer 437 - November 2010

Gottes Reich ist der Kommunismus

Ernesto Cardenal über Gott und die Revolution, die Theologie der Befreiung und den Sozialismus im 21. Jahrhundert

Der Theologe, Dichter und Revolutionär Ernesto Cardenal ist ein berühmter, beeindruckender und umstrittener Priester: Er nennt sich Marxist und glaubt an den Kommunismus. Er hat sich an Aufständen und an der Sandinistischen Revolution in Nicaragua beteiligt, die 1979 die Somoza-Diktatur hinwegfegte. Auf Solentiname, einer Insel im Großen See von Nicaragua, hat er über zwölf Jahre lang eine Art neuer Kommune, eine genossenschaftliche Gemeinschaft ausprobiert.

Interview: Martin Ling, Karlen Vesper

Sie haben einmal gesagt, die Liebe hat Sie zu Gott geführt und Gott zur Revolution. Wie passt das zusammen: ein gottesliebender und gottesfürchtiger Mensch zu sein, und zugleich ein Aufrührer, ein Revolutionär?
Im Alten Testament haben wir den Gott, den man fürchtet. Der Gott des Alten Testaments ist ein harter, grausamer Gott. Jesus ist gekommen, um uns einen anderen Gott zu zeigen. Einen gütigen, barmherzigen. Jesus zeigte uns, dass Gott Vater ist. Und nicht nur Vater, sondern ein zärtlicher Papa. Das Evangelium hat mich zur Revolution gebracht. Mehr als die Lektüre von Karl Marx.

Vermutlich sind die meisten ChristInnen keine MarxistInnen und scheuen Revolution oder Kommunismus wie der Teufel das Weihwasser.
Das ist unbegründet und falsch. Der Kommunismus hat einen christlichen Ursprung. Die ersten Christen waren Kommunisten. Lukas berichtet über sie: „Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hielten alle Dinge gemein. Keiner sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären.“ Der Kommunismus wird verteufelt, weil er verfälscht wird, wie das frühe Christentum. Bei Lukas heißt es auch, dass jedem nach seinen Bedürfnissen gegeben wurde. Ebenso hat es später Marx formuliert.

Wie sähe für Sie das Reich Gottes auf Erden aus? Wäre es identisch mit dem, was Linke unter Sozialismus verstehen?
Ich glaube, dass der Sozialismus uns erst zu diesem Reich Gottes auf Erden bringen wird. Das Reich Gottes auf Erden ist eine perfekte Gesellschaft – entsprechend dem Ideal, das Gott von der menschlichen Gesellschaft haben kann. Der Sozialismus ist ein Mittel, um zu dieser perfekten Gesellschaft zu gelangen. Wenn man voraussetzt, dass es nur zwei mögliche Wirtschaftssysteme gibt, den Kapitalismus und Sozialismus, also eine Gesellschaft, die auf dem Privateigentum beruht, und eine andere, die auf dem gemeinschaftlichen Eigentum basiert, dann ist das Reich Gottes auf Erden ganz offensichtlich die Gesellschaft des gemeinschaftlichen Eigentums, nicht des Privateigentums. Die perfekte Gesellschaft ist identisch mit Kommunismus.

Sie glauben, trotz des grandiosen Scheiterns des Sozialismus, dass Sozialismus machbar ist?
Der Sozialismus ist nicht gescheitert, weil er noch gar nicht richtig praktiziert worden ist. Was bisher gewesen ist, war noch nicht Sozialismus. Ich glaube, dass Sozialismus möglich und notwendig ist. Das ist die Doktrin der Heiligen Väter, der Bibel: Das gemeinschaftliche Eigentum ist heiliger als das Privateigentum; Gott hat den Reichtum für alle geschaffen und nicht nur für einige Wenige. Gott hat uns als Sozialisten erschaffen, weil er uns wollte und uns braucht.

Diese Meinung wird der Vatikan nicht teilen. Was ist übrigens aus der in den 1960er Jahren zunächst in Lateinamerika entwickeltenTheologie der Befreiung geworden, die sich über die ganze „Dritte Welt“ ausgebreitet hat? Verebbt?
Die Theologie der Befreiung muss eigentlich Theologie der Revolution heißen. Solange es Armut und Not auf der Welt gibt, muss es auch eine Revolutionstheologie geben, die sich mit der Befreiung der Armen und Elenden befasst. In jüngster Zeit ist eine neue Art von Theologie entstanden, die aus der Befreiungstheologie kommt. Das ist die Theologie des religiösen Pluralismus. Papst Benedikt der XVI. hat das erkannt und deshalb gewarnt: Diese Theologie des Pluralismus, die aus der Befreiungstheologie stammt, ist gefährlicher als jene war. Ich glaube, da hat er Recht.

Und wie sieht dieser religiöse Pluralismus aus?
Die neuen Befreiungstheologen haben erkannt, dass alle armen Menschen eine Religion haben, aber unterschiedliche Religionen. Und diese halten sie auch voneinander getrennt. Um die Befreiung der Armen zu erreichen, ist deren Vereinigung notwendig. Deswegen muss die Trennung überwunden werden, aber nicht in dem Sinne, dass es eine einzige Religion für alle gibt, sondern eine religiöse Pluralität. Alle Religionen sind gleichermaßen anzuerkennen, die großen wie die kleinen, bis hin zu den Religionen der Kannibalen. Keine Religion kann und darf für sich reklamieren, die einzig wahre zu sein. Alle haben ihre Existenzberechtigung, sind genauso falsch wie sie wahr sind. Sie müssen sich untereinander respektieren, damit es eine tatsächliche Vereinigung der Armen geben kann.

Unvergessen sind die Bilder, als Sie Papst Johannes Paul II. 1983 bei seinem Besuch in Nicaragua mit der erhobenen Faust grüßten und er Ihnen mit dem Finger drohte. 1985 hat er Sie dann als katholischer Priester suspendiert. Warum haben Sie sich nie um eine Rehabilitierung bemüht?
Der Vatikan hat mich dazu verurteilt, dass ich die Sakramente nicht mehr austeilen darf. Das macht mir nichts aus, denn ich bin nicht Priester geworden, um nur die Sakramente auszuteilen, sondern um ein kontemplatives Leben zu führen. Und deswegen besteht keine Notwendigkeit, dass ich den Papst bitte, die Sanktionen aufzuheben. Ich werde vor ihm nicht in die Knie gehen.

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