Costa Rica | Nummer 476 - Februar 2014

„Hab keine Angst“

Die Linkspartei Frente Amplio könnte vor einem historischen Wahlsieg stehen

Die Linkspartei Frente Amplio hat es geschafft, der sozialdemokratischen Regierungspartei Liberación den Glauben an einen sicheren Sieg der Präsidentschaftswahlen am 2. Februar zu nehmen. Der junge Präsidentschaftskandidat der Frente Amplio, José María Villalta, konnte sich als Alternative zu den etablierten Parteien präsentieren. Wenige Tage vor dem Urnengang ist er in Meinungsumfragen dem Favoriten Johnny Araya, dem Kandidaten der Liberación, dicht auf den Fersen. Die Drucklegung der Lateinamerika Nachrichten lag vor dem Wahltermin: Inzwischen ist das Wahlergebnis bekannt.

Markus Plate

Esteban Romero lebt mit seinen Eltern und seiner Schwester in San Antonio de Belén, einem ehemaligen Dorf im Westen San Josés, das sich längst zu einem Vorort der costa-ricanischen Hauptstadt entwickelt hat. Vor zwanzig Jahren erstanden die Romeros hier ein kleines Haus aus einem staatlichen Häuserbauprogramm. Costa Ricas sozialdemokratische Partei Liberación Nacional (PLN) hatte das Programm ihrerzeit aufgelegt.
Ein eigenes Haus, die Kinder konnten studieren, ein erschwingliches Gesundheitssystem. Dieses Modell Costa Ricas ist eng mit PLN und der christsozialen PUSC verbunden. Im demokratischen Wechsel schufen sie einen fortschrittlichen Sozialstaat. Die Armee wurde aufgelöst, ein öffentliches Gesundheits- und Pensionssystem aufgebaut, Bildung, Strom und Wasser in die entlegensten Winkel des Landes gebracht. Sogar die Banken hatte man nationalisiert, die dann das staatliche Bauprogramm finanzierten, dem die Romeros ihr Haus verdanken. Als eher kirchenferne Familie waren die Romeros seit jeher Stammwähler_innen von Liberación. Bis zu den letzten Wahlen.
Dabei ist Esteban eigentlich ein Gewinner der seit 20 Jahren auch von der PLN getragenen Neoliberalisierung Costa Ricas. Er arbeitet als leitender Angestellter in der Niederlassung eines weltweit operierenden Logistikunternehmens. Esteban gefällt sein Job im internationalen Umfeld, er verdient gut. Doch für ihn ist die PLN als Regierungspartei wie schon die Christsozialen vor ihnen im Korruptionssumpf versunken. Wie mittlerweile jede_r Fünfte glaubt Esteban nicht mehr, dass sich die von der PLN geführte Regierung für die Belange der Bürger_innen interessiert.
Bei den Präsidentschaftswahlen am 2. Februar will Esteban stattdessen die Linkspartei Frente Amplio (Breite Front) und deren Spitzenkandidaten José María Villalta wählen. „Die klaffende Schere zwischen Arm und Reich macht mir Sorge, die öffentliche Gesundheit wird immer bescheidener und die private immer teurer. Das macht mich wütend.“ Vor allem aber ist Esteban schwul und somit Teil einer seit ein paar Jahren immer mutiger und lautstärker werdenden Bewegung, die sich nicht mehr vom Erzbischof oder Politiker_innen diktieren lässt, was sie tun oder lassen soll.
35 Prozent der Costa Ricaner_innen gaben in einer Umfrage unlängst an, ein „nahes, nicht heterosexuelles“ Familienmitglied zu haben. Hier liegt ein Grund für die gestiegenen Zustimmungsraten Villaltas. Er ist der einzige Kandidat, der sich offen für die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften ausgesprochen hat.
„Hab keine Angst“, ruft Villalta auf Wahlkampfveranstaltungen in die Menge oder per Wahlkampf­spots in die Wohnzimmer. Keine Angst davor, dass er die staatliche Gesundheits- und Rentenkasse restaurieren statt privatisieren will. Dass man die Rechte der Beschäftigten stärkt, der Bevölkerung mehr Kontrolle über die Politik gibt. Dass man die Korruption bekämpft und das soziale Costa Rica wieder auferstehen lassen will.
José María Villalta ist ein Phänomen in der costa-ricanischen Politik. Der 36-jährige ist bislang der einzige Abgeordnete der Frente Amplio. Nun liegt er nach unterschiedlichen Meinungsumfragen auf Platz Eins oder Zwei der Gunst der Wähler_innen. Über 20 Prozent Zustimmung für den Kandidaten der linken Kleinstpartei, auf Augenhöhe mit Johnny Araya, dem Kandidaten der PLN. Das ist eine Sensation, denn frühere Umfragen hatten noch einen deutlichen Vorsprung von Araya verzeichnet.
Laut Montserrat Sagot, Soziologieprofessorin an der staatlichen Universität von Costa Rica und Politexpertin, habe es Villalta geschafft, vor allem die junge, urbane Generation für sich zu gewinnen: „Das sind Menschen mit sehr großer Präsenz in sozialen Netzwerken, die die öffentliche Meinung in Costa Rica in Zeiten des Internets entscheidend mitprägen.“
Im Parlament bringt es kaum ein Abgeordneter auf eine ähnlich hohe Anzahl von Gesetzesinitiativen, seit Jahren fehlt Villalta bei keiner wichtigen Demonstration sozialer Bewegungen. Der 24-jährigen Noelia Alfaro, einer beruflich wie politisch engagierten Medienschaffenden, gefällt die äußerst erfolgreiche Kampagne Villaltas in den sozialen Netzwerken sehr, vor allem, dass dort Inhalte transportiert werden, mit denen sich junge Menschen identifizieren können: Umweltschutz, mehr und bessere Jobs, Trennung zwischen Staat und Kirche, Homoehe, ein liberaleres Abtreibungsgesetz.
In Facebook und Twitter hat Villalta mit seiner Seite #ManKannSehrwohlWenWählen doppelt so viele Follower wie Araya. Diesen und den Rest des Polit-Establishments erwähnt Villalta nur als #DieSelbenWieImmer. Er erläutert, was seine Kampagne ausmacht: „Wir verfügen nicht über so massive Spenden wie andere Parteien, um große Werbespots in den Massenmedien schalten zu können. Aber die sozialen Netzwerke sind uns einfach näher, weil wir hier mit den Menschen interagieren und sie zum Mitmachen und Mitgestalten einladen können. Das entspricht einfach auch unserem Politikverständnis.“
Bislang ist der politischen Konkurrenz wenig eingefallen, um Villalta Paroli zu bieten. Man vergleicht ihn mit Chávez und den Castros, stellt ihn als Kommunisten dar. Das war über Jahrzehnte ein todsicheres Mittel, um den politischen Gegner zu erledigen. Doch die linke Programmatik scheine Villalta nicht zu schaden, so Montserrat Sagot, auch weil viele Menschen eingesehen hätten, dass die neoliberalen Konzepte der letzten Regierungen nur die Ungleichheit, die Armut und die Arbeitslosigkeit im Land vergrößert hätten. Villalta hingegen beziehe sich immer wieder auf die mittlerweile ausgehöhlten sozialen Errungenschaften Costa Ricas. Das mache Villaltas Ideologie bis in christsoziale und sozialdemokratische Milieus hinein salonfähig.
Die Politologin Gina Silba weist darauf hin, dass es Villalta gelungen ist, all diejenigen hinter sich zu vereinigen, die massiv gegen das Freihandelsabkommen zwischen Zentralamerika und den USA gestritten hatten. Die PLN hatte zusammen mit der politischen Rechten das Abkommen vorangetrieben. Das einzige je in Costa Rica durchgeführte Referendum ging 2007 knapp mit „Ja“ aus. Der Partei der Bürgeraktion (PAC), seit zehn Jahren die wichtigste Oppositionspartei im Land, war es bei den Wahlen 2010 nicht gelungen, aus den Protesten politisches Kapital zu schlagen, die PLN-Kandidatin Laura Chinchilla gewann deutlich. Villalta hingegen reaktiviert nicht nur die Anti-Freihandels-Koalition, er macht auch dem ländlichen Costa Rica Angebote, wendet sich an Bauern- und Fischerkooperativen, an Plantagenarbeiter_innen und kleine Unternehmen in der Provinz.
Einige halten Villalta hingegen für zu unerfahren, um Präsident werden zu können. Montserrat Sagot weist auch auf die dünne Personaldecke der Frente Amplio hin: „Villalta wird also nach fähigem, progressiven Personal, selbst aus anderen Parteien, Aussicht halten müssen.“ Der Kandidat selbst ist auf diese Zweifel vorbereitet. Natürlich gebe es vor allem in der PAC, aber auch bei der PLN und der PUSC gute und fähige Leute, mit denen zusammen arbeiten wolle, sofern sie sich mit den wesentlichen Programmpunkten der Frente Amplio identifizieren können.
Alarmiert von schlechten Umfragewerten versucht PLN-Kandidat Araya verzweifelt, der Villalta-Kampagne den Wind aus den Segeln zu nehmen. Seit 20 Jahren Bürgermeister von San José, ist er nur bedingt das Gesicht des Neuanfangs, den sich immer mehr Costa-Ricaner_innen wünschen. So verweist er auf die Errungenschaften seiner Partei vor Jahrzehnten und kritisiert offen die letzten beiden Regierungen seiner eigenen Partei. Die Korruptionsaffären hätten das Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie schwer beschädigt – und meint damit das Vertrauen in seine eigene Partei. Costa Rica sei das Land Lateinamerikas, in dem die Schere zwischen Arm und Reich am weitesten auseinander gegangen ist, daher fordert Araya: „Wir brauchen eine Anpassung unseres Entwicklungsmodells, der Reichtum Costa Ricas muss besser verteilt werden!“ Das dürfe aber nicht zur Konsequenz haben, dass man Extremist_innen verfalle, weder linken noch rechten, fügt er fast flehend hinzu.
Denn von Rechts wird seine PLN von den Libertären attackiert. Otto Guevara, Spitzenkandidat der Bewegung, wehrt sich zwar gegen Vorwürfe, die verbliebenen staatlichen Institutionen schnellstmöglich privatisieren zu wollen. Aber sie müssten deutlich effektiver arbeiten und weniger Geld kosten. Dass die Libertären aber gerade von denen unterstützt werden, die sich von einer weiteren Privatisierung von Gesundheitsdienstleistungen oder des Energiesektors üppige Gewinne versprechen, ist kein Geheimnis. Guevara versucht daher, Moralkonservative zu ködern, in dem er Homoehe, Abtreibung und künstliche Befruchtung ablehnt. Das reicht für ein knappes Fünftel in den Wahlumfragen.
Zwei Parteien dürften dagegen mit Wahlniederlagen rechnen: Die PAC kommt mit ihrem Kandidaten, dem Geschichtsprofessor Guillermo Solís, auf gerade nicht einmal zehn Prozent in den Umfragen. Noch vor acht Jahren hatte die PAC mit Parteigründer Ottón Solís nur hauchdünn gegen Oscar Árias der PLN verloren. Doch in den letzten vier Jahren zeigte sich die Fraktion ein ums andere mal gespalten. Zudem war sie von ihrer eigenen Rolle als Oppositionsführerin derart überzeugt, dass sie es nicht für nötig hielt, eine progressive Allianz zu schmieden. Als Guillermo Solís schließlich zum PAC-Kandidaten gewählt wurde, hatte sich Villalta längst als Gallionsfigur des progressiven Lagers etabliert. Zwar hat Solís im letzten Monat aufgeholt, trotzdem ist es unwahrscheinlich, dass er es noch in eine Stichwahl schaffen kann.
Die Christsozialen der PUSC, historische Gegenspieler der PLN, hatten kurzfristig mit dem Quereinsteiger, Dr. Rodolfo Hernández, Chef des nationalen Kinderkrankenhauses in San José, Morgenluft gewittert. Doch Anfang Oktober schmiss Hernández hin: Das korrupte Partei-Establishment der PUSC habe seine Kandidatur mit Intrigen und Verrat torpediert (siehe LN 474). Im Anschluss gelang es dem Ersatzkandidaten Rodolfo Piza nie, über einstellige Umfrageergebnisse hinaus zu kommen.
Drei Kandidaten um die 20 Prozent, damit wäre eine Stichwahl unausweichlich. Denkbar ist momentan sogar, dass es die PLN nicht einmal dorthin schafft. Damit würden erstmalig weder Sozialdemokraten noch Christsoziale die Regierung stellen. Doch soweit ist es noch lange nicht: Montserrat Sagot erinnert daran, dass die PLN über eine äußerst mächtige Wahlkampfmaschinerie verfügt. Man könne davon ausgehen, dass die Partei alle potenziellen Wähler_innen am 2. Februar zu den Wahlurnen karren werde. In den Umfragen sei das ländliche Costa Rica zudem unterrepräsentiert. Und gerade hier wählten die Menschen traditionell die PLN.
Allerdings ist gerade hier die Frustration über die PLN groß, über zurückgefahrene staatliche Programme für Kleinbäuerinnen und -bauern oder über die Vergiftung ganzer Landstriche durch die ungehinderte Ausbreitung der Ananas-Monokulturen. So bleibt das Wahlverhalten auf dem Land die große Unbekannte. Noch zeigt sich in den Umfragen über ein Drittel der Befragten unentschieden. Die Linke in Costa Rica ist allerdings jetzt schon die große Gewinnerin: Die bisherige Ein-Abgeordneten-Partei Frente Amplio ist dank Villalta eine richtig große Bewegung geworden.

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