Literatur | Nummer 445/446 - Juli/August 2011

Hernán Rivera Leteliers Roman “Die Filmerzählerin”

Hernán Rivera Letelier, der Chronist der Atacamawüste, erzählt aus einer Zeit, als die Leute in den Salpeterdörfern noch kein Fernsehen hatten. Aber in seinem Roman wurden sie bestens unterhalten: von der Filmerzählerin.

Valentin Schönherr

Der Niedergang des Salpeterbergbaus in der nordchilenischen Atacamawüste hat eine lange Geschichte. Schon zur Zeit des Ersten Weltkriegs endete der große Boom, denn nun konnte Ammoniak auch synthetisch hergestellt werden, und das teurere „Chilesalpeter“ geriet ins Hintertreffen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde in einigen Minen zwar noch abgebaut, aber bereits unter den Bedingungen des Verfalls.
Hernán Rivera Letelier war dabei. 1950 im zentralchilenischen Talca geboren, zog seine Familie in den Norden, als er elf Jahre alt war. Mit 15 begann er in der Salpeterindustrie zu arbeiten, und erst mit 45 Jahren stieg er aus, weil er mittlerweile vom Schreiben leben konnte. Die „Pampa“, wie die Salpeterregion in der Atacamawüste in Chile genannt wird, wurde für Rivera Letelier nicht nur ein Zuhause. Sie bot ihm auch Stoff für seine Gedichte und Romane, mit denen er in den letzten 20 Jahren zu einem der produktivsten und bekanntesten Schriftsteller Chiles geworden ist – eine Karriere, die ihm zuletzt 2010 den Alfaguara-Preis für den Roman El arte de la resurreción (Die Kunst der Auferstehung) einbrachte.
Durch Rivera Letelier wurde die chilenische Pampa zu einem Kunst-Ort, der sich mit den Macondos, den Comalas, den Santa Marías der lateinamerikanischen Literatur vergleichen lässt. Wie bei García Márquez, Rulfo oder Onetti ist Rivera Letelier zugleich Chronist einer spezifischen Gegend und Epoche wie auch ihr Erfinder. Das zeigt sich in Lobgesang für eine Hure, 1999 als bisher einziges seiner Werke auch auf Deutsch erschienen, aber auch in vielen anderen seiner Bücher.
Auch der schmale Roman Die Filmerzählerin spielt in einer Bergarbeitersiedlung der Pampa. Im Zentrum steht eine Familie in tiefster Armut: Vater, vier Söhne, eine Tochter. Die Mutter hat sich irgendwann aus dem Staub gemacht, der Vater kann nach einem Arbeitsunfall nicht mehr laufen, und die Familie darf in der Hütte nur deshalb wohnen bleiben, weil der Vater „ein so mustergültiger Arbeiter“ gewesen war. Früher teilte sich die Familie das Vergnügen, ins Dorfkino zu gehen. Aber seit dem Unfall können sie sich das nicht mehr leisten. Da kommen sie auf eine gute Idee: Nur einer zahlt den Eintritt und schaut den Film an, dafür muss er ihn anschließend den anderen erzählen.
Bald stellt sich heraus, dass María Margarita, die einzige Tochter, eine schauspielerische Begabung hat. Sie kann die Filme so mitreißend nacherzählen, dass sie dieses Amt dauerhaft übertragen bekommt. Nun sitzen sie immer schon da, „frisch umgezogen und gekämmt“: Der einzige Sessel ist das Kinoparkett, die Holzbank der erste Rang, das Fenster die Loge. Und María Margarita legt sich ins Zeug, erzählt, singt, spielt, sie verkleidet und schminkt sich. Sie ändert heikle Passagen über eheliche Untreue ab, um den Vater nicht zu verletzen, und erzählt Filme aus dem Repertoire, wenn das Kino geschlossen ist. Bald kommen andere Leute aus dem Dorf dazu, oder sie laden die Filmerzählerin zu sich ein, und María Margarita wird ein klein wenig berühmt.
Geschickt hat Rivera Letelier diese kraftvolle Szenerie errichtet, mit ihrer Würde trotz des umgebenden Elends, um den unvermeidlichen Niedergang nur noch schmerzhafter spürbar zu machen. Erst wird María Margarita bei einem ihrer Engagements vom Dorfbösewicht vergewaltigt. Dann stirbt der Vater, und der Bruder landet im Gefängnis. Schließlich, als schlimmstes von allem, hält das Fernsehen Einzug und macht Kino und Filmerzählerin überflüssig. All dies folgt – wie in einem Spielfilm – auch dramaturgischen Erfordernissen. Dennoch ist Die Filmerzählerin ein starker kleiner Roman, der alle Untiefen eines Melodramas sicher umschifft.
Denn Rivera Letelier gestaltet die Handlung außerordentlich glaubwürdig und verzichtet darauf, seiner Protagonistin irgendwelche unwahrscheinlichen Fähigkeiten oder überraschenden Entwicklungen herbeizuerfinden. María Margarita ist einfach ein begabtes Kind, das von seiner Familie geliebt wird und aufblüht. Die ganz unverklärt erzählte Armut in dieser vom Niedergang betroffenen Siedlung ist ebenso der Wirklichkeit abgeschaut wie die verheerende Wirkung, die der Autor dem Fernsehen zuschreibt: Es „befiel die Siedlung wie eine unbekannte und hochgradig ansteckende Krankheit“.
Der knappe, genaue Duktus überzeugt bis auf einen immer wiederkehrenden Effekt, dem man schnell auf die Schliche kommt: Rivera Letelier beendet ein Kapitel oder auch nur einen längeren Abschnitt regelmäßig mit einem alleingestellten kurzen Satz, der zugleich überraschend und bedeutungsvoll sein soll. In dieser Häufigkeit wirken diese Sätze dann pathetisch, also falsch. Den Gesamteindruck des Buches aber trüben sie nur wenig.

Hernán Rivera Letelier // Die Filmerzählerin // Aus dem Spanischen von Svenja Becker // Insel Verlag // Berlin 2011 // 105 Seiten // 14,90 Euro // www.suhrkamp.de

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