Chile | Colonia Dignidad | Nummer 415 - Januar 2009

Hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen

Colonia Dignidad – Der Mord mit dem Giftapfel

Die juristische Aufarbeitung der Colonia Dignidad verläuft schleppend. Nun wurden führende Sektenmitglieder erstmals wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Anhand brisanter Details wird belegt, was seit Jahrzehnten bekannt ist: Es gab eine institutionelle Zusammenarbeit zwischen der chilenischen Militärdiktatur und der deutschen Sektenkolonie.

Dieter Maier, Jan Stehle

Aufgrund der seit Jahrzehnten nur bruchstückhaft stattfindenden juristischen Aufarbeitung der Verbrechen der Siedlung blieb die Colonia Dignidad bislang vor ihrer endgültigen Auflösung bewahrt. Am 27. November 2008 verurteilte nun der chilenische Richter Jorge Zepeda die Sektenmitglieder Paul Schäfer, Kurt Schnellenkamp und Rudolf Cöllen wegen Mordes an Miguel Becerra im Jahre 1974. Damit wurden erstmals Sektenmitglieder wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Gleichzeitig bestärkt der Richterspruch aber auch die These, die Sektenchef Paul Schäfer als allmächtigen Einzeltäter darstellt. Das schützt bisher den Rest der Sektenführung vor dem Gefängnis und könnte auch zukünftig den Fortbestand der Siedlung sichern.
Miguel Becerra war als Agent der Geheimpolizei der chilenischen Militärdiktatur (DINA) auf dem abgelegenen Sektengelände stationiert. Als bekannt wurde, dass Becerra aussteigen wollte, gab Schäfer den Befehl, ihn mit einem vergifteten Apfel zu töten – er aß jeden Abend einen Apfel, ein Teller Äpfel stand neben seinem Bett. Um die Tat zu verschleiern, brachten Schnellenkamp und Cöllen die Leiche Becerras in dessen eigenem Auto an einen mehrere Stunden von der Colonia entfernten Ort. Der Getötete wurde hinter das Steuer gesetzt und ein Selbstmord durch Abgasvergiftung vorgetäuscht.
Neben einer genauen Beschreibung des Tathergangs durch die Geständnisse Schnellenkamps und Cöllens enthält das jüngst gesprochene Urteil den Wortlaut weiterer Zeugenvernehmungen, die die systematische und koordinierte Zusammenarbeit der Colonia mit den chilenischen Repressionsorganen belegen. Der damalige Regierungssprecher Pinochets, Federico Willoughby, erklärte beispielsweise, er sei schon vor dem Putsch mehrfach in der Colonia gewesen. Schäfer habe ihm damals seine Unterstützung bei der Destabilisierung der Allende-Regierung angeboten, nach dem Putsch habe die Colonia ihm Leibwachen für Haus und Familie in Santiago gestellt.
Desweiteren gab Willoughby an, am 20. August 1974 zusammen mit Pinochet und dem DINA-Chef Contreras bei einer Waffenschau in der Colonia gewesen zu sein, bei der in der Siedlung hergestellte Maschinenpistolen präsentiert wurden. Willoughby hatte damals den Eindruck, dass Pinochet bestens über die dortigen Vorgänge informiert war. Ein weiterer Heeresgeneral habe ihm bereits vorher dargelegt, dass die Alemanes durch ihr „Personal, ihre Waffen und ihre Artillerie“ in der Lage seien, die hunderttausend EinwohnerInnen zählende Stadt Los Angeles in der Nähe der Kolonie einzunehmen.
Doch das Urteil vom 27. November enthält noch mehr Datails. So zitiert es mehrfach aus Folterhandbüchern in deutscher Sprache, die als Leitfäden für einen gemeinsamen Folterkurs deutscher Siedler und chilenischer Geheimdienstler in der Siedlung Ende 1974 erstellt wurden. Anhand von Erfahrungen der SS mit politischen Gefangenen im zweiten Weltkrieg werden in kochbuchähnlicher Manier Folterrezepte beschrieben: „Der Gefangene wird in eine dunkle Holzkiste gequetscht […]. Nach etwa einer Viertelstunde beginnen die Muskelschmerzen. Nach einer halben Stunde bekommt er Krämpfe. Dann rausholen, auf einen Stuhl setzen, mit einem Scheinwerfer anleuchten und die Augenbewegungen beobachten. Man sagt ihm nun, dass er bei Falschaussagen eine Woche lang in die Kiste gesteckt wird […]“
Über 30 Jahre nach dem Erscheinen der amnesty international-Broschüre Colonia Dignidad – Deutsches Mustergut in Chile – Ein Folterlager der DINA, die Folteraussagen mehrerer politischer Häftlinge aus der Colonia dokumentierte, werden nun Führungsmitglieder der Sekte erstmals wegen Menschenrechtsverbrechen verurteilt. Juristisch möglich wurde dies erst durch die Kategorisierung der Tat als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die eine Verjährung aufhebt und das chilenische Amnestie-Gesetz außer Kraft setzt. Normalerweise verurteilt die chilenische Justiz nur Personen, die im Auftrag des Staates handelten, nach dieser Rechtsfigur, nicht jedoch Privatpersonen. Nun argumentierte das Gericht, dass im vorliegenden Fall Privatpersonen aus politischen Motiven Rechte eines Teils der Zivilbevölkerung systematisch verletzt haben. Damit wird die Colonia als parastaatlicher Akteur begriffen, der in systematischer Weise gemeinsam mit den staatlichen Repressionsapparaten Menschenrechtsverbrechen gegen politische Oppositionelle verübte.
„Die Haupttätigkeit dieser deutschen Siedler bestand zu jener Zeit [Juli 1974] in der Zusammenarbeit mit den Streitkräften bei Geheimdienstaufgaben, Verhaftungen und der allgemeinen Repression gegen Zivilisten, die der Zugehörigkeit der am 11.09.1973 abgesetzten Regierung verdächtigt wurden“, heißt es nun in erster Instanz. Verurteilt wurde der noch immer schweigende Paul Schäfer zu weiteren sieben Jahren Haft. Schnellenkamp und Cöllen bekamen nur 541 Tage auf Bewährung wegen Beihilfe. Das Gericht wertete ihre Geständnisse und die zum Tatzeitpunkt strafrechtliche Unbescholtenheit der beiden als strafmindernd.
Paul Schäfer ist heute das einzige Sektenmitglied, das im Gefängnis sitzt. Viele weitere Prozesse laufen, doch seine Mittäter bekommen meist niedrige Strafen, oft auf Bewährung. All sie sollen lediglich Befehlsempfänger des allmächtigen Schäfer gewesen sein. Menschenrechtsanwalt Hernán Fernández hält dagegen, die Colonia Dignidad sei ein umfassendes kriminelles System gewesen. Die strafrechtliche Aufarbeitung müsse daher alle 22 Personen der Führungsriege der Sekte mit einbeziehen.
Während Folterstätten der DINA wie Villa Grimaldi oder Tejas Verdes gleich nach der Diktatur auch von den Gerichten als Orte der systematischen Folter und des Mordes bezeichnet wurden und heute teilweise Gedenkstätten sind, schaffte es die Colonia Dignidad, das wahre Ausmaß der dort begangenen Verbrechen zumindest offiziell verborgen zu halten. Möglich machte das ein breites Unterstützungsnetzwerk in chilenischer Justiz, Militär und Politik – aber auch das Schweigen der deutschen Außenpolitik. Obwohl das Auswärtige Amt über erdrückende Beweise für Verbrechen der Kolonie verfügte, berief es sich jahrzehntelang auf das in dubio pro reo-Prinzip und ließ so die Verbrechensmaschinerie der Colonia gewähren. Ende der 70er Jahre, also zur schlimmsten Zeit der Pinochet Diktatur, hat der bundesdeutsche Botschafter Erich Strätling die Kolonie mehrfach besucht und sich dort wie bei einem Staatsbesuch empfangen lassen. In einer Begrüßungsrede schwärmte Strätling vor den versammelten Sektenmitgliedern, er fühle sich wie im Märchen bei Schneewittchen. An den vergifteten Apfel, der Miguel Becerra tötete, dürfte er dabei nicht gedacht haben.
// Dieter Maier, Jan Stehle

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