Land und Freiheit | Nummer 447/448 - Sept./Okt. 2011

Hundert Jahre Vergeblichkeit

In Mexiko hat die marktorientierte „Landreform“ der Weltbank gemeinschaftliche Formen des Landbesitzes ersetzt

Nach dem Sieg der Revolution etablierte sich in Mexiko das ejido-System, das der armen Landbevölkerung Zugang zu gemeinschaftlichem Land ermöglichte. Seit Anfang der 1990er Jahre setzt Mexikos Regierung mit Unterstützung der Weltbank auf die „Modernisierung“ der Entwicklungsstrategie: Über Privatbesitz soll ein dynamischer Markt entstehen. Doch der kleinbäuerlichen Landwirtschaft geht es so schlecht wie lange nicht.

Alke Jenss

„Tierra y Libertad“ („Land und Freiheit“) lautete die zentrale Forderung, für die Hunderttausende mexikanische Landlose, Kleinbauern und Kleinbäuerinnen vor hundert Jahren in die Revolution (1910 bis 1920) zogen. Obwohl das daraus entstandene politische System keinesfalls zu einer gerechten Landverteilung führte, brachte die Revolution immerhin die Stärkung des ejido-Systems und somit Landzugang für einen großen Teil der mexikanischen Landbevölkerung mit sich. Dabei ist das ejido keine Erfindung der Mexikanischen Revolution, sondern eine juristische Figur aus der Kolonialzeit, als indigenen Bäuerinnen und Bauern sowie Siedler_innen kleine Landparzellen zugestanden und in lokale Verwaltung gegeben wurden. Ursprünglich bezeichnete ejido in Spanien Gemeindeflächen außerhalb des Ortes.
Im (post-)revolutionären Mexiko galt ejido-Land als Teil des „sozialen Landsektors“, es blieb im staatlichen Besitz und wurde den Nutzer_innen, den ejidatarios, zur zeitlich unbegrenzten gemeinschaftlichen Nutzung überlassen. Durch seine Unverkäuflichkeit war es den kapitalistischen Warenkreisläufen über den Handel mit Landflächen in gewisser Weise entzogen. Die bis heute gültige Verfassung von 1917 schrieb in Artikel 27 die Form des ejido als gemeinschaftlichen Landbesitz fest. Dabei hatte die Revolution nicht sofort einen grundlegenden Wandel in der Struktur des Landbesitzes gebracht, wie die revolutionären Bauernbewegungen um Emiliano Zapata und andere lokale Anführer damals immer wieder gefordert hatten. Erst unter der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934 bis 1940) kam es mit der Verteilung von 11.347 ejidos, einer Fläche von etwa 20 Millionen Hektar, zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensbedingungen vieler Menschen auf dem Land.
Wirklich kollektiv gewirtschaftet, wie von Cárdenas angedacht, wurde allerdings nur in einer Minderheit der ejidos und regional sehr unterschiedlich. Der Großteil der ejido-Familien bebaute jeweils eine kleine Parzelle, während politische Partizipation und Konfliktlösungen über die ejido-Verwaltung als lokaler Organisationseinheit funktionierten. In der offiziellen Revolutionsrhetorik spielten die ejido-Wirtschaft und die Vorstellungen über das ländliche Mexiko eine wichtige Rolle – und durch die Organisation der ejidos fungierten diese auch als ländliche Unterstützungsbasis der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI), die jahrzehntelang quasi als Staatspartei regierte.
Es sollte nicht aus dem Blick geraten: Über Jahrzehnte hatte Mexiko eine weit gerechtere Landverteilung als die meisten anderen lateinamerikanischen Länder. Dennoch waren die Phasen in der mexikanischen Geschichte nur kurz, in denen die Agrarpolitik dem Revolutionsmythos annähernd gerecht wurde. Staatliche Unterstützung war fast immer auf Agrarunternehmen gerichtet, die eine „moderne“, technisierte Landwirtschaft betrieben. Der ejido-Sektor und der kleinbäuerliche Landbesitz mit Parzellen von unter fünf Hektar beschäftigten noch in den 1960er Jahren 70 Prozent der ländlichen Arbeitskräfte, bekamen aber nur 38 Prozent der Agrarinvestitionen ab. Die ländliche Armut war (und ist) groß. Häufig reichte das, was eine Familie über die ejido-Parzelle erwirtschaften konnte, nicht zum Leben und musste doch wieder durch die Arbeit auf großen haciendas aufgebessert werden. Die alten Abhängigkeitsverhältnisse blieben also oft bestehen; häufig behielten die hacendados die produktivsten Ländereien und das Monopol auf Infrastruktur und Weiterverarbeitung, etwa in der Zuckerindustrie. Neue Abhängigkeitsverhältnisse gegenüber der PRI kamen hinzu. Immer wieder wurde das Ende der Landverteilung verkündet. Der letzte größere Versuch der Landverteilung fand Anfang der 1970er Jahre statt, als der Nahrungsmittelbedarf des Landes längst wieder teilweise mit Importen gedeckt werden musste: Unter Präsident Echeverría (1970 bis 1976) wurden noch einmal circa sechs Millionen Hektar Land verteilt.
Vor allem im Zuge der radikalen Liberalisierungspolitik, die der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank dem mexikanischen Staat seit Ausbruch der Schuldenkrise 1982 verordnet hatten, verlor das ejido-System kontinuierlich an staatlicher Unterstützung. 1992 war für die mexikanischen Bäuerinnen und Bauern sowie alle Landlosen das entscheidende Jahr, als Präsident Salinas de Gortari die Veränderung des Artikels 27 der Verfassung durchsetzte: ejido-Land war ab sofort nicht mehr unverkäuflich und die Verteilung von Land wurde für endgültig beendet erklärt – obwohl das Ministerium für Agrarreform bis heute existiert. Umgesetzt wurde die Verfassungsänderung über Programme, welche die Weltbank mit entworfen hatte: Entscheidend war dabei das Programm PROCEDE, das vor allem Parzellen registrieren und zertifizieren, Rechte auf die Nutzung von Gemeindeland festlegen und individuelle Besitztitel festschreiben sollte.
In den von der Weltbank vorangetriebenen marktgestützten Landreformen der 1990er Jahre, die laut Plan auch in Brasilien, Südafrika oder Kolumbien zu ländlichem Wohlstand verhelfen sollten, spielte die geregelte Enteignung ungenutzter Flächen in Privatbesitz, wie sie in früheren Initiativen zur Landreform immer mitdiskutiert – seltener durchgesetzt – worden waren, keine Rolle mehr: Die Umverteilung von Land sollte über Kauf und Verkauf von Parzellen auf freiwilliger Basis geschehen und so einen dynamischen Markt für Land erzeugen. Denn ein Grund für die ländliche Armut, so sah es die Weltbank, wäre eben das Fehlen dieses dynamischen Marktes, der für eine ausgeglichenere Verteilung des Landbesitzes und eine höhere Produktivität des bewirtschafteten Landes sorgen würde.
Für die ejidatarios bedeuteten die individuellen Besitztitel vor allem eine Privatisierung gemeinsam verwalteten Landes. Die Verfassungsänderung stellte die Idee des „sozialen Landsektors“ auf den Kopf: „In diesem Gesetz gibt es keine rechtliche Grundlage für soziale Modelle des Landbesitzes“, lautete eine weit verbreitete Kritik Anfang der 1990er Jahre. Dennoch: Mit 84 Prozent hat der Großteil der ejidatarios und gemeinschaftlich Wirtschaftenden am Prozess der Zertifizierung über PROCEDE teilgenommen – wenn auch nur 65,7 Prozent der ejido-Flächen zertifiziert wurden. Besonders größere und in Oaxaca viele kollektiv bewirtschaftete ejidos (tierras comunales) nahmen nicht am Programm teil, um den kollektiven Besitz zu bewahren. Gleichzeitig ist es offensichtlich über PROCEDE nicht gelungen, Besitztitel vollständig festzuschreiben; Konflikte über die Begrenzungen von ejido-Land sind heute an der Tagesordnung. Laut Ana de Ita, eine der wenigen Autor_innen, die zu Landkonzentration nach der Reform arbeiten, haben gerade mal 0,43 Prozent der ejidatarios vollständigen Privatbesitz aus ihrem Land gemacht. De Ita vermutet diejenigen vor allem am Rand von Städten, in der Hoffnung, ihre Parzellen teurer verkaufen zu können.
Die Zurückhaltung bei der Nachfrage nach Besitztiteln versuchte die Weltbank damit zu erklären, dass auf privates Land Steuern erhoben würden. Deren Autoren_innen, die offensichtlich nicht begreifen können, wieso gerade in Oaxaca, Guerrero und Chiapas – Bundesstaaten mit einer großen indigenen Bevölkerung – die Akzeptanz von PROCEDE sowie der Privatisierung kleiner und kleinster Parzellen so gering war, schreiben in einem Bericht von 2001: „Es gibt, wenn überhaupt, kaum Unterschiede zwischen zertifizierten ejidos mit großer indigener Bevölkerung und denen in nicht-indigenen Gemeinden. [..] Die zögerliche Annahme von PROCEDE in indigenen Gemeinden ist auf Konflikte, Ungleichheiten im Zugang zu Land und Ressourcen, und das fehlende Humankapital und wirtschaftliche Potential zurückzuführen“. Wie radikal der Wandel für viele kollektiv wirtschaftende Gemeinden gewirkt haben muss, wird aber dann deutlich, wenn Land nicht nur als tierra, als zu bewirtschaftendes Gut, sondern auch als territorio verstanden wird, ein Raum, der als zentraler Bezugspunkt des Gemeindelebens Identität birgt. Land in Kollektivbesitz ist häufig in langen Kämpfen errungen worden und funktioniert auch als soziales Netz. Die meisten zusätzlichen Aktivitäten richten sich auf den lokalen Konsum und Verkauf, als Nebenquelle für Einkünfte. Die gesellschaftliche Rolle von Land geht weit über ein einfaches Produktionsmittel hinaus.
Im Grunde gibt es zwei Sichtweisen zur Bedeutsamkeit der Änderung des Artikels 27. Die eine lautet, diese habe nur eine Entwicklung fort- und festgeschrieben, die bereits seit den 1960er Jahren die ejidos immer schlechter gestellt habe. Zudem sei ejido-Land schon seit Jahrzehnten illegal verpachtet worden. Gleichzeitig ist aber beispielsweise aus zapatistischen Gemeinden in Chiapas zu hören, dass die Verfassungsänderung durchaus als entscheidender Schnitt begriffen wurde, und die Angst ihr gemeinschaftlich bewirtschaftetes Land zu verlieren, ein wesentlicher Grund für den Aufstand 1994 war. So äußerte Subcomandante Marcos in jenem Jahr gegenüber der Zeitung La Jornada: „Als die Regierung die brillante Idee hatte, den Artikel 27 zu reformieren, wurde das zu einem mächtigen Katalysator in den Gemeinden. Diese Reformen haben jede legale Möglichkeit untergraben, zu Land zu kommen“. Die Auswirkungen waren also unterschiedlich, je nachdem, inwieweit die ejido-Wirtschaft in der Region wirklich umgesetzt worden war – und wie viele Landlose dort lebten. Denn mit dem endgültigen Stopp der Verteilung von ejido-Land gab der Staat auch das letzte Bemühen auf, den demografischen Veränderungen gerecht zu werden. So wuchs die mexikanische Bevölkerung von knapp 20 Millionen im Jahr 1940 bis 1990 auf über 80 Millionen (heute circa 112 Millionen).
Vor allem aber hat das Zusammenspiel mit den Konsequenzen des Nordamerikanischen Freihandelsvertrags NAFTA, der 1994 in Kraft trat, die Bedingungen für Landbesitz nachhaltig verändert. Nämlich die Tatsache, dass kaum eine mexikanische Kleinbauernfamilie noch vom Anbau von Mais und Bohnen für den mexikanischen Markt überleben kann, weil dieser von Mais aus industrieller US-Produktion verdrängt wurde. Zudem öffnete die Regierung den ejido-Sektor seit den 1980er Jahren sukzessive für ausländische Direkt­investitionen: Joint Ventures sollten zwischen ejidatarios und Privatwirtschaft entstehen. Mit dem industriellen Anbau etwa von Ölpalmen für Agrosprit in Chiapas ergeben sich damit auch im Süden Mexikos ganz neue Räume für Investitionen.
Das mexikanische Aktionsnetz gegen den Freihandel RMALC weist darauf hin, dass heute zwar nicht der Verkauf, aber die Verpachtung von ejido-Land sehr weit verbreitet ist. „Leute, die von den Erträgen der kleinen ejido-Parzellen nicht mehr leben können, wandern aus und verpachten teilweise an Unternehmen. Die Pacht ist meistens lächerlich gering“, so ein Sprecher. Für die Agrar­unternehmen scheint dies der günstigste Weg zu Land zu sein; wer an sie verpachtet, bekommt die Böden, wenn überhaupt, meist ausgelaugt zurück. Obwohl also die meisten Kleinbäuerinnen und Kleinbauern ihr Land nicht verkauft haben, sorgten diese Faktoren dafür, dass viele ihr Land verlassen haben. Sie gehören zu den Hunderttausenden Migrant_innen, die „auf der anderen Seite“ des Zauns, in den USA, zum Beispiel als Tagelöhner_innen in der Ernte arbeiten.
Unterstützungs-Programme für Kleinbäuerinnen und Kleinbauern gibt es kaum. Zwar wurde als cash-transfer-Programm für mexikanische Landwirt_innen das Programm Procampo eingeführt, das die erwarteten Einkommensverluste durch NAFTA abfedern sollte. Doch Subventionen und staatliche Hilfen konzentrieren sich meist in den oberen Einkommensschichten und im kommerziellen Anbau. Die liberalen Strukturanpassungsprogramme hatten als ein zentrales Element in Mexiko nicht nur die „Klärung“ privater Eigentumsrechte. Mit ihnen wurden auch die speziell für den ländlichen und ejido-Bereich gedachten Kreditinstitute „verschlankt“ oder abgebaut. Ohnehin schwindet nicht nur die wirtschaftliche Grundlage; auch wenn das Land anderweitig genutzt werden soll, müssen die Leute gehen: „Überall werden Leute enteignet, sei es über geringe Entschädigungszahlungen oder über Drohungen und Repression und sogar grupos de choque (bezahlte Schlägerbanden; Anm. d. Red.), vor allem dort, wo Bergbau eine Rolle spielt oder Staudämme gebaut werden sollen“, so ein Sprecher der Mexikanischen Liga für Menschenrechte. So setzen sich Privatisierung und Konzentration von Landbesitz langsam wieder durch. Und hundert Jahre, nachdem sich die arme Landbevölkerung für „Land und Freiheit“ der Revolution anschloss, ist diese Forderung für die Mehrheit ihrer Nachkommen weiter aktuell.

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