Nummer 380 - Februar 2006 | Sport

„Ich bin in den Fußball vernarrt“

Ein Gespräch mit Eduardo Galeano über Fußball und Politik, Maradona und die Arroganz der Intellektuellen

Indem der Fußball zum Geschäft wurde, hat er seine Fähigkeit zur Phantasie und Freude eingebüßt, klagt der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano. Die Regeln des Marktes dominieren, die Spieler werden ausgepresst. Und wer aus der Reihe fällt und sich politisch engagiert, erfährt massive Kritik. Allerdings nicht nur von rechts, wie der argentinische Ex-Star Maradona lernen musste. Denn viele Linke fühlen sich den Fußballspielern kulturell überlegen.

Gespräch: Karl-Ludolf Hübener

Uruguay hat sich nicht für die WM in Deutschland qualifiziert. Die glorreichen Zeiten, als Uruguay zu den weltbesten Mannschaften zählte, scheinen endgültig vorüber. Wie lässt sich der damalige Aufstieg des kleinen Uruguays zur Fußball-Großmacht erklären?

Das war dank eines Präsidenten Battle y Ordoñez möglich. Dieser verfolgte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine sehr progressive Politik in Uruguay. Er hatte den genialen Einfall, die öffentliche, laizistische und kostenlose Bildung durchzusetzen. Der Aufstieg des Fußballs – ansonsten in einem so kleinen Land eher unerklärlich – hat wohl mit der Energie, die der Staat in der Bildung freisetzte, zu tun. Denn die Bildung umfasste nicht nur Mathematik oder Grammatik, sondern auch Sport. Es gab eine integrale Auffassung von Bildung, die später verloren ging. Es gab noch nicht die spätere Trennung zwischen Geist und Körper.
Für mich ist einer der großen Unterschiede zu 1930: Heute ist der Druck zu gewinnen – und zwar um jeden Preis – ungleich größer als die Freude am Spiel. Jeder Sieg bedeutet viel Geld und Prestige. Dieses Prestige wird ja bereits an der Börse notiert. Jede Niederlage bringt dagegen auch Probleme mit sich, die über das Sportliche hinausreichen. Sie wirkt sich im politischen wie im geschäftlichen Bereich aus.

Den Rahmen für prestigeträchtige Spiele geben vor allem in Europa immer luxuriösere Stadien ab…

… das ist dann so, als würde ich ein Shopping Center oder einen super luxuriösen Flughafen betreten. Es kommt mir so vor, als seien sie irgendwie alle gleich. Es mangelt ihnen an Erinnerungen, an Geschichte und an Leben.
Es gibt eine Tendenz, Stadien in Kathedralen des Fußballs für diejenigen zu verwandeln, die in der Lage sind, die immer höheren Eintrittspreise zu bezahlen. Die Armen müssen sich das von außen, im Fernsehen, ansehen. Denn die Regeln des Marktes sind heute zu Regeln des Lebens geworden: wer mehr hat und zahlt, kann sich auch mehr leisten.

Das heißt Fußball als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen…

Der Fußball ist Teil einer Realität, die weit über den Fußball hinausreicht. Und er ist wichtig als Spiegel globaler Realität. Anders ausgedrückt: Um zu verstehen, wie die Welt funktioniert, ist es sicherlich nicht schlecht, sich in die Fußballwelt zu vertiefen.
Die armen Länder, vor allem alle lateinamerikanischen Länder, exportieren Arbeitskräfte, darunter auch diejenigen, die mit ihren Beinen und Füßen ihr Brot verdienen. Sie exportieren Ballarbeiter. Mehr als 200 Profikicker aus Uruguay spielen weltweit in verschiedenen Mannschaften der ersten Ligen. Unglaublich, mehr als 200 aus einem so winzigen Land! Hier leben wenig mehr als drei Millionen Menschen, weniger als in einem Viertel von Buenos Aires oder Sao Paulo.

…nicht nur Uruguay…

Die Politik und Auflagen von Weltbank und Internationalem Währungsfonds haben diese Exporte entscheidend gefördert – vor allem den Export von menschlicher Ware. Uruguay ist ein ausgeblutetes Land, das viele seiner jungen Menschen verloren hat. Auch in anderen Ländern gibt es einen beständigen Aderlass junger Arbeitskräfte. Nicht wenige sterben auf dem Weg in Länder, die mit besseren Löhnen locken.
Ich komme gerade von einer kleinen Rundreise durch Zentralamerika und Mexiko zurück. Dort habe ich diese Schlangen barfüßiger Frauen vor den Wechselstuben miterlebt. Ein Kleinkind auf dem Arm, umringt von Kindern tauschen sie die US-Dollar, die ihnen ihre in die USA emigrierten Ehemänner, Brüder oder Väter schicken. Ein traurig stimmendes Schauspiel – auch wenn Mexikos Präsident Fox das feiert, indem er behauptet, dass es die Phantasie und Initiative stimuliere. Es fragt sich nur, wessen Phantasie und Initiative.
Aus der ehemaligen kolonialen Welt strömen Menschenmassen in die früheren imperialen Nationen – auf der Suche nach Brot, Dach und Arbeit. Und im Fußball spiegelt sich das wider in einem beständigen Verlust, einem beständigen Aderlass von jungen Männern, die viel Talent in den Beinen haben.

Es gibt soziale Bewegungen, Parteien und Regierungen in Lateinamerika, die diesen Aderlass nicht mehr hinnehmen wollen. Ein Beispiel ist Evo Morales, der in Bolivien zum Präsidenten gewählt wurde. Er lud neben Südafrikas Nelson Mandela, Zapatisten, auch dich und Maradona ein. Maradonas Einladung ist sicherlich eine Überraschung, die nicht überall gut ankommt.

Es gab Kollegen, die in Mar del Plata dabei waren, die ich respektiere und sehr mag, die aber, als Maradona ankündigte, er würde sich an die Spitze der Demonstration setzen, sagten: „Was soll denn daraus werden, wenn selbst Maradona mitmacht.“ Das war ein herablassender Kommentar. Aber es fielen noch schlimmere Worte: „Es scheint so, als würde ihm erst jetzt einiges bewusst werden, denn bislang war er nicht gerade häufig auf solchen Veranstaltungen zu sehen.“ Das war ebenso von oben herab. All diese Äußerungen basieren auf Vorurteilen, die sich über Jahre hinweg gebildet haben und die sich gegenüber Fußball und Spielern nur noch verschlimmert haben. Vorurteile von Intellektuellen, von Erleuchteten, die meinen, sie hätten ein göttliches Recht, Einfluss auf andere Menschen auszuüben. Was hat da ein ungebetener Gast, ein Heuchler zu suchen, der auch noch versucht, die Leute zu beeinflussen, denn das ist doch unsere historische Aufgabe! Meinen jedenfalls einige Intellektuelle.
Es gibt eine öffentlich oder weniger öffentlich geäußerte Geringschätzung für Fußballspieler. Ein Vorurteil, das selbst bekannteren Persönlichkeiten unter den Fans nicht fremd ist: Sie lieben den Fußball, schätzen aber die Spieler gering, weil sie sich ihnen kulturell überlegen fühlen. Das gilt sowohl für die Linke, als auch die Mitte und die Rechte.

Die Linke verdächtigte stets das Fußballspiel als Falle: Fußball ist eine teuflische Erfindung der herrschenden Klasse, damit das Volk nicht zu denken beginnt. Aus rechter Sicht war Fußball immer der Beweis dafür, dass das Volk mit den Beinen denkt.

Die Verachtung für diesen Massensport dauert an und zeigt sich manchmal auf sehr niederträchtige Weise: Als Maradona seine Meinung über die Freihandelszone ALCA und die Politik von George W. Bush äußerte, rief das den Zorn vieler hervor. Darunter waren auch hochrangige Akteure der internationalen Politik, wie der Präsident Mexikos. Der sagte: „Dieser Mann versteht viel von Fußtritten, aber nichts von Politik.“ Also Schuster, bleib bei deinen Leisten. Oder: Fußballer, bleib beim runden Leder, aber wage dich nicht weiter vor.
Aber – mag es Fox nun gefallen oder nicht – die Menschen in der Welt hören mehr auf Maradona als auf Fox. Sie zeigen für das argentinische Fußballidol viel mehr Sympathie und Zuneigung. Auch weil er ein heiliger Sünder ist. Er ist ein Heiliger des dunklen Lebens, der immer alles verkehrt herum angepackt hat, der alle Verhaltensregeln der guten Lebensführung verletzt hat, der ein unheilvolles Leben geführt hat – mit aufeinander folgenden Katastrophen. Die Menschen erkennen sich in ihm wieder.
Und das schmerzt die Mächtigen, denn auch Maradona ist ein Mächtiger, aber er steht auf der anderen Seite. Seine Macht fußt auf der Verehrung durch die Bevölkerung. Diese stellt er in den Dienst einer Sache, die der anderen Macht nicht im geringsten behagt – einer Macht, die auf Geld und Waffen beruht.

Kommen da nicht auch Klassen- und Rassenvorurteile hoch, die mancher überwunden glaubte? Evo Morales, ein Aymara, wird vorgehalten, dass er noch immer nicht korrekt Spanisch spreche. Hugo Chávez, ein Mischling, wurde gar von der Opposition als Affe beschimpft. Maradona, der aus einem der ärmsten Vororte von Buenos Aires stammt, wurde häufiger vorgehalten, er rede dummes Zeug. Allen gemeinsam ist, dass sie mächtige Regierungen und Politiker kritisieren.

Das Stigma einer bescheidenen sozialen Herkunft oder einer mehr oder weniger dunklen Haut wird aktiviert, wenn diese Menschen – arm, schwarz, indigen – Dinge sagen, die den Mächtigen unbequem sind. Wenn sie der Macht jedoch zujubeln, sie also ein „yes man“ oder eine „yes woman“ sind, dann ist es kein Problem, Schwarzer, Mulatte, Indianer, Armer, Ärmster oder Kokabauer zu sein.
Als Maradona vor Jahren Erklärungen zugunsten des argentinischen Präsidenten Carlos Menem abgab, hat das keinen gekümmert. Da war keiner, der meinte, ein Fußballer dürfe sich nicht in die Politik einmischen.
Ein Fußballer darf keine Politik betreiben, wenn diese der Politik der Herren der Welt widerspricht. Oder den Herren der allmächtigen FIFA. Maradona jedoch wagte es, die Rechte der Spieler zu verteidigen – ungewöhnlich in der Fußballwelt.
Die FIFA ist wie ein großer Zirkus. Die Spieler sind die Affen, die ein Schauspiel bieten, aber nichts zu entscheiden haben. Maradona war der erste, der gegen die demütigende Behandlung aufbegehrte. Beispielsweise als die Spieler während der Weltmeisterschaft in Mexiko 1986 genötigt wurden, ihr Schauspiel um die Mittagszeit unter sengender Sonne vorzuführen, weil das die günstigste Stunde für das europäische Fernsehen war.
Ähnliches passierte, als er – wenn auch vergebens – eine internationale Spielergewerkschaft zu gründen versuchte, um die Interessen der Fußballer zu verteidigen. Das klappte leider nicht, es blieb bei der Hoffnung. Bis auf den heutigen Tag ist die FIFA eine Minderheit in der Minderheit, in der Technokraten und Geschäftsmänner sich einen Platz anmaßen, den eigentlich die Spieler einnehmen müssten. Jene, die nie um Rat gefragt werden. Maradona war der erste große Star des Weltfußballs, der es wagte, die Dinge beim rechten Namen zu nennen.
Damals sprachen sie ihm die Zuständigkeit ab, mit der Begründung weil sein ungehöriges Reden und Handeln sei auf übermäßigen Kokaingenuss zurückzuführen. Sein Gehirn sei von Drogen ausgebrannt.

Maradona als Fußballer – das ist Erinnerung. Wenn man dich hört und deine Bücher liest, könnte mancher auf die Idee kommen, dass Fußball früher mehr Spaß machte. Aber du schaust dir wichtige Spiele, ob nun der Champions League oder der uruguayischen oder anderer Nationalteams, durchaus an. Und sei es auf dem Bildschirm.

Ich predige keineswegs Nostalgie oder seufze vor mich hin: alles Vergangene war besser. Ich bin zudem viel zu sehr fußballsüchtig; ich bin in den Fußball vernarrt. Aber das hindert mich doch nicht daran, die Realität eines Fußballs zu sehen, der sehr merkantil geworden ist und ein Geschäft ist, das ihn verarmt hat. Verarmt in seiner Fähigkeit zur Phantasie und Freude. Der Fußball ist immer weniger ein Vergnügen und immer mehr eine Pflicht. Ich meine damit den Profifußball, nicht den Fußball, der hier an der Rambla in Montevideo gespielt wird – auf der Wiese oder am Strand. Da herrscht Begeisterung, diese Lust mit anderen Spaß zu haben, was im professionellen Fußball zusehends verloren geht.
Dennoch gibt es immer wieder diese Explosionen von Schönheit und Freude, die Pfiffigkeit in den Beinen, vor allem von Spielern, die aus ärmeren Vierteln stammen. Diese verwirklichen im Fußball so etwas wie Rache an der Tristesse, die sie in ihren ersten Lebensjahren durchgemacht haben. Sie haben sich diese Fähigkeit zur Freude bewahrt. Wenn man sie so spielen sieht, diese Ronaldinhos, Robinhos… und viele andere Brasilianer, aber nicht nur sie.
Bei der Weltmeisterschaft wird es Spieler geben, bei denen es sich lohnt zuzusehen und die einem den Glauben zurückgeben. Denn ich glaube, dass Fußball Kunst ist, eine Art Tanz mit dem Ball, fähig, Wunder der Schönheit zu vollbringen. Aber dieser Glaube wird auf harte Proben gestellt, denn die Superprofis müssen heute, vor allem in Europa, mehr leisten als Rennpferde. Dieser Spielrhythmus, der sie zwingt, jeden zweiten oder dritten Tag zu spielen – bis zur Erschöpfung, bis auch noch der letzte Schweißtropfen herausgepresst ist.
Da kommt mir dann ein Satz von Winston Churchill in den Sinn. Als er 90 Jahre alt wurde, fragte ihn ein Journalist der „Times“: Sir Winston, wie haben Sie es geschafft, 90 Jahre alt zu werden und so beneidenswert gesund bleiben? Welches Geheimnis verbirgt sich dahinter? Churchill antwortete: Ich habe nie Sport getrieben!

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