Film | Nummer 357 - März 2004

„Ich bin jetzt stimuliert weiterzumachen“

Interview mit dem Filmemacher Fernando Solanas

Auf der diesjährigen Berlinale erhielt der argentinische Regisseur Fernando Solanas am 10. Februar 2004 den Goldenen Ehrenbären für sein Lebenswerk im Kino International.
Fernando Solanas hatte vor 35 Jahren den eindrucksvollen politischen Dokumentarfilm La hora de los hornos (Die Stunde der Hochöfen) über die Geschichte Argentiniens gedreht. Während der Militärdiktatur musste er klandestin arbeiten. Danach ging er ins Exil nach Frankreich. Zahlreiche Spielfilme folgten (LN berichtete in der letzten Ausgabe).
Jetzt meldet Solanas sich zurück mit einer Bestandsaufnahme Argentiniens, das 15 Jahre durch eine neoliberale Politik seinem Bankrott entgegengesteuert wurde. Die Frage, wie es kommen konnte, dass Argentinien, die „Kornkammer der Welt“, Hunger leiden muss, führte Solanas zu seiner Bestandsaufnahme in Memoria del saqueo (Geschichte einer Plünderung). Sie ähnelt einer Kamerafahrt durch das in Trümmern liegende Land, das wirtschaftlich und menschlich dem Ende sehr nahe war.

Ute Hermanns

Herr Solanas, wann haben Sie beschlossen, Memoria del saqueo zu drehen?

Als Präsident Fernando de la Rua am 20. Dezember 2001 zurücktrat, gingen die Menschen zu Tausenden auf die Straße. Es war eine spontane Rebellion aller Bürger und Bürgerinnen, die sich von der Politik, den Gewerkschaften und den Banken betrogen fühlten. Wenn etwas in der Luft liegt, spüre ich das, nehme meine Kamera und gehe auch auf die Straße, um zu filmen. An diesem Tag habe ich ernsthaft beschlossen, mein Filmprojekt in Angriff zu nehmen.

Memoria del saqueo ist ein sehr dichter Film mit ungeheuer viel Information, aber auch mit einer großen Sogwirkung. Dennoch, könnte es sein, dass das Publikum mit so viel Information überfordert wird?

Ich glaube, dass der Film das Publikum ergreifen kann, denn er erzählt eine wahre Geschichte. Überdies ordnet er die Bilder, die alle schon aus den Nachrichten kennen, in einen historischen Zusammenhang. Dadurch tritt das abgekarterte Spiel der „Mafiokratie“ zutage: Zweifelhafte Verbindungen politisch-gewerkschaftlicher Zusammenschlüsse, gemeinsame Aktionen von Politik, Justiz, Banken, multinationalen Unternehmen und dem IWF – alles geschah doch auf Kosten der einfachen Bürger. Die neo-liberale Politik und die Globalisierung höhlen die Welt in einem schleichenden Prozess grausam aus. Die Bilder, die zuvor in den Nachrichten um die Welt gingen, entbehrten ihres Kontextes. Insofern ist der Film wesentlich präziser und klarer in der Darstellung.

Sie haben für die neoliberale Politik den Begriff des „sozialen Genozids“ gewählt. Warum?

In Argentinien wurden Millionen von Menschen in den letzten Jahren betrogen und systematisch ihrer Rechte auf Wohnung, Nahrung, Arbeit, Sozialversicherung, Ausbildung und medizinischer Versorgung beraubt. Die Erfahrung aus Argentinien und anderen Ländern Lateinamerikas, in denen das neoliberale Wirtschaftsmodell Eingang fand, zeigt, dass jährlich über 35.000 Menschen an den Folgen von Unterernährung und Krankheiten sterben müssen. Das ist ein schleichender Prozess – ein Völkermord – dessen Verantwortliche ihrer Strafe nicht entkommen dürfen.

Memoria del Saqueo lebt von der Rhythmisierung durch Zwischentitel, die an den Stummfilm erinnern, und den visuellen Gegenüberstellungen von Schauplätzen der Macht (Salons und Besprechungsräume der Banken, das Wirtschaftsministerium, das Regierungsgebäude, der Kongress), die mit emotional aufgeladenen Bildern von Armut und Zerstörung alternieren. Was war das Konzept hinter dieser Strukturierung?

Es war sehr schwierig, die Materialfülle zur ordnen und zu strukturieren. Wir haben dafür zwei Jahre gebraucht. Dabei halfen mir die Einteilungen in Kapitel, die mit den Zwischentiteln umgesetzt wurden.
Zum Glück konnte ich den Dokumentarfilmer Alejandro Fernandez Moujan gewinnen, denn er hatte mehr Erfahrung im Umgang mit großen Kameras als ich. Wir filmten also mit der Steadycam, wobei Alejandro mit seinem Team die Schauplätze der Macht filmte. Übrigens durften wir nur an einem Ort nicht filmen. Ein Dekret des Obersten Gerichtshofes verbot das Filmen im Gerichtspalast. Mit der kleinen Kamera filmten wir den Blickwinkel der Menschen, ihre Geschichten. Am Ende hatten wir über 100 Stunden abgedreht, darüber hinaus noch 32 Stunden Archivmaterial zusammengetragen, von dem am Ende nur ca. 30 Minuten übrig blieben. Die Montage, die Kürzungen, das Erfinden eines verständlichen Films – denn Überladung führt bekanntlich zur Verwirrung – war die eigentliche Herausforderung. Mehrere Male wurden die Texte verändert, neu geschrieben und neu montiert.

Macht die Armut der Menschen, ihre auswegslose Situation, Sie betroffen oder haben Sie sich an diese Realität gewöhnt?

Wenn man an schäbigen oder dramatischen Orten filmen muss, ist das nicht schön. Zum Glück musste ich keinen Kriegsschauplatz filmen, das stelle ich mir wirklich schrecklich vor. Vor einem zerstückelten Körper zu stehen oder vor einer Mutter, die weint, weil sie ihren Kindern nichts zu Essen geben kann, das schockt und quält jeden. Doch ein Kameramann hat eine Mission: Er muss sich um die Kamera kümmern, dafür sorgen, dass die Aufnahmen gut werden. Ein Kriegskorrespondent, der einen Film dreht, muss das Bewusstsein haben, dass er etwas Außergewöhnliches übermitteln wird. Also gilt es das Bestmögliche zu tun. Das ist eine schwere Aufgabe.

Was bedeutet der Goldene Ehrenbär für Sie und das argentinische Kino?

Für mich ist es natürlich eine große Ehre, eine Genugtuung. Ich bin jetzt stimuliert weiterzumachen. Der Preis ist auch gut für den Film, denn Dokumentarfilme in die Kinos zu bringen, ist nicht leicht. Jetzt finden sich hoffentlich bald Verleiher, Kinos und Festivals, die ihn zeigen möchten. Das ist für alle Beteiligten und natürlich auch für mich sehr wichtig.
Für Argentinien ist der Preis insofern wichtig, als die Unabhängigkeit des Nationalen Filminstituts sich wieder einmal bewährt hat. Das argentinische Kino hat diesem Institut viel zu verdanken.

Der Film wird am 13. April 2004 in Argentinien anlaufen. Wie meinen Sie, werden die ArgentinierInnen den Film aufnehmen? Haben die mitwirkenden PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen, Ärzte und Ärztinnen mit Repressalien zu rechnen?

Ich hoffe, dass die ArgentinierInnen, wenn sie diesen Film sehen, die Zusammenhänge noch besser verstehen können, die zum Zusammenbruch geführt haben. Darüberhinaus bleibt zu sagen, dass wir in Argentinien in einer Demokratie leben, also hat keiner der Mitwirkenden Repressionen zu befürchten.

Carlos Menem und seine Leute werden den Film nicht mögen.

Wer das größte Risiko bei diesem Film eingeht, bin ich selbst. Argentinien ist wie Italien, urplötzlich gibt es ein mafiöses Attentat. Das sind Risiken, die man eingeht, aber ich hab ja schon Erfahrung: Sechs Kugeln in meinen Beinen habe ich immerhin überlebt. [Anmerk. d. Red.:Nach seiner Rückkehr aus dem Exil war Fernado Solanas selbst zeitweilig Abgeordneter im argentinischen Parlament. Ein Attentat überlebte er nur mit Glück.] Ich glaube jedoch, seitens der Regierung nichts befürchten zu müssen. Das INCA, das Nationale Filminstitut, hat schon ein Abkommen mit dem Ministerium für Bildung unterzeichnet, das die Vorführung des Films in Schulen und Universitäten vorsieht.

Fernando Solanas (Regie): Memoria del Saqueo (Geschichte einer Plünderung), 118 Minuten, 35mm, Farbe

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