Mexiko | Nummer 477 - März 2014

„Ich bin sehr optimistisch!”

Interview mit dem mexikanischen Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II, Kulturbeauftragter der neuen Linkspartei Morena

Die LN sprachen mit Paco Ignacio Taibo II über die aktuelle Situation von Journalist_innen in Mexiko, die Wirkung alternativer Medien und sein Engagement bei Morena.

Interview: Jan-Holger Hennies, Tilman Massa

Bei Demonstrationen in der Hauptstadt gab es nun auch vermehrt Gewalt gegen Journalist_innen…
Das ist neu. Bis jetzt gab es nur in problematischen Zonen Konflikte mit den Medien, und das hing mit dem Drogenhandel zusammen. Aber plötzlich gibt es eine starke Veränderung im Verhalten der Regierung von Mexiko-Stadt. Einer Regierung, die mehrheitlich mit linken Stimmen gewählt wurde und seit Dezember 2012 einen starken Wechsel nach rechts begonnen hat – mit dem Ziel, die massive Präsenz von sozialen Bewegungen in den Straßen zu verhindern. Es geht nicht unbedingt darum, kleine Gruppierungen zu verprügeln, sondern ein Ambiente der Angst zu schaffen, welches die massive Beteiligung von Bürgern einschränkt. Schon bei mindestens vier Demonstrationen gab es Repressionen, bei der die Polizei Medienvertreter direkt angegriffen hat. Denn seit den medialen Kampagnen von Präsident Peña Nieto sind die angeblich „alternativen“ Medien extrem wichtig geworden.

Welche Verantwortung hat der Bürgermeister Mexiko-Stadts, Miguel Mancera von der sozialdemokratischen PRD, für diese Politik?
Die Regierung von Mancera ist ein Desaster. Es ist eine Regierung, die durch ein sehr breites Bündnis an die Macht kam. Tausende haben mitgewirkt. Auch ich habe in seiner Kampagne mitgearbeitet – mit einer sehr kritischen Sicht. Ich dachte, es wäre das kleinste Übel, das uns passieren könne. Auf jeden Fall sollte der PRI (Revolutionäre Institutionelle Partei, Anm. d. Red.) der Einzug in Mexiko-Stadt verwehrt werden und ein Kontrapunkt zu deren Bundesregierung geschaffen werden. Denn diese Regierung sah extrem gefährlich aus und ist es auch. Aber Mancera hat eine Regierung gebildet, ohne die politischen Kräfte in Mexiko-Stadt dabei zu repräsentieren. Und er hat systematisch die Zustimmung der Bundesregierung gesucht. Der ehemalige Chef der Polizei von Mexiko-Stadt, Manuel Mondragón y Kalb, ist im Dezember in die Bundesregierung gewechselt. Aber er behält seine Beziehungen zur Polizeivertretung und -leitung in Mexiko-Stadt, also der Politik der öffentlichen Sicherheit. Durch diesen Zug hat Mancera von vornherein die öffentliche Sicherheit der Stadt in die Hände der Bundesregierung gelegt.

Wie hat sich das Verhältnis von Journalist_innen und Politiker_innen seitdem verändert?
In letzter Zeit tritt verstärkt eine Taktik auf, die in Mexiko-Stadt eigentlich verschwunden war: Journalisten zu „kultivieren“. Es ist wie eine Pflanze zu pflegen – man gibt ihr Wasser, stellt sie ins Licht, lächelt ihr am Morgen zu. Vor einem Monat erhielt ich die Information, dass ein hoher Funktionär Mexiko-Stadts ein Sylvester-Dinner mit 20 Journalisten veranstaltet hat. Bei diesem Dinner wurden zwei Reisen nach New York verlost, jeder erhielt ein Silbertablett und es gab französischen Wein in rauen Mengen. So etwas war typisch für die Beziehungen zwischen Presse und PRI in den alten Zeiten, aber ist so lange nicht mehr vorgekommen. So wird die Presse korrumpiert und man erschafft eine Beziehung gegenseitiger Gefälligkeiten. Du willst nicht unbedingt, dass der Journalist deine direkte Stimme wird. Aber im gegebenen Moment übernimmt er deine Sichtweise und recherchiert nicht weiter.

Hat die Bundesregierung denn solche Angst vor alternativer Berichterstattung?
Nicht so sehr vor den Informationen, vielmehr vor den Massenmobilisierungen. Die Bundesregierung setzt ein großes Reformprojekt durch und will die Reaktion in der Bevölkerung bestmöglich minimieren. Ein Teil davon ist es, alternativen Medien Angst einzujagen. Aber sie hat es nicht geschafft. Die alternative Information wächst sogar. Wenn ein Monument für die compañeros von den alternativen Medien gebaut werden könnte, würde ich die Steine spendieren! Sie haben eine wunderbare Arbeit geleistet, um die Dinge aus den Schatten zu holen – oft unter Gefahr. Aber sie sind immer in der ersten Reihe und dokumentieren jeden Moment, folgen den Geschichten und verbreiten die Informationen.

Können ländliche Regionen ohne großflächige Internetanbindung überhaupt erreicht werden?
Es ist sehr seltsam. Man denkt, die Informationen würden nicht ankommen und wird dann überrascht. Auf einmal bist du in einem Dorf wie Pochutla im Bundesstaat Oaxaca und triffst einen Jungen, der die letzten sechs Videos kennt, die du für Fernsehprogramme gemacht hast. Wie hat er sie gesehen? Naja, die waren auf irgendeiner Plattform und er hat sie in irgendeinem Café runtergeladen – in Pochutla. Das ist wie ein Virus. Die Kombination von alternativen Medien, neuen Technologien und klassischen Medien potenziert die Chancen von alternativer Information um ein Vielfaches. Klar erschafft das auch künstliche Paradiese der immer gut Informierten. Es fehlt durchaus die Multiplikation, die klassische Medien erreichen. Aber man kann auch nicht erwarten, dass hier gezaubert wird – das ist ein langwieriges Problem. Und ich bin in dieser Hinsicht optimistisch. Sehr optimistisch!

Warum?
Wir haben in diesen letzten zwei Jahren Spektakuläres erlebt – Verbreitung und Mobilisierung durch nicht traditionelle Medien. Die Gegeninformation ist kein in sich geschlossenes Phänomen. Soll heißen, die Gegeninformation interagiert mit den Räumen, die es in klassischen Medien gibt. Ein Journalist der Jornada schreibt eine Meldung in seiner wöchentlichen Kolumne, diese Meldung ist am nächsten Tag von 150.000 Menschen getwittert worden. Aber irgendjemand findet einen anderen Aspekt dieser Meldung und gibt sie an Leute weiter, die irgendwo am Samstagnachmittag eine Radiosendung moderieren. Das ist ein großes Wachstum. Für die Politik ist es sehr schwierig geworden, unbemerkt zu lügen.

Welche Erfolge gab es durch die Gegeninformation?
Es gibt eine ganz konkrete Form, den Erfolg zu messen: Die Bundesregierung entwarf die Ener-giereform (siehe LN 476) und gleichzeitig eine millionenschwere Medienkampagne, um sie zu verteidigen. Das war eine spektakuläre Bombardierung im Fernsehen und im Radio. Zum Beispiel mit „Die ganze Welt modernisiert sich: Kuba modernisiert sich. Norwegen modernisiert sich. Warum sollte Mexiko seine Ölindustrie nicht auch modernisieren?“ oder „Cárdenas hätte gesagt, dass es interessant wäre, diesen Weg zu gehen, blablabla“. Es war brutal. In diesen Zeiten konntest du dir keine Cola im Laden um die Ecke holen, ohne die Werbung zu hören.
Aber am Ende, als die Reform verabschiedet wurde, waren 55 Prozent der Bevölkerung dagegen und nur 17 Prozent dafür. Trotz der ganzen Kampagne war die Regierung auf dem tiefsten Akzeptanzniveau seit Jahren. Und wer hat die Gegenkampagne produziert? Die alternativen Medien und die Aktionen auf der Straße haben den Menschen beigebracht, dass diese Reform pures Gift ist. Ich meine 55 zu 17… nie hatte die Regierung so ekelhafte Werte bekommen!

Allerdings hat die Medienkampagne Enrique Peña Nietos im Wahlkampf funktioniert: Er ist Präsident geworden…
Nein, sie hat nicht funktioniert. Kurz vor den Wahlen, im Mai 2012, gab es eine Versammlung der Gouverneure der PRI in Querétaro, in der sie genau das gesagt haben. Trotz der Medienkampagne standen sie in den Umfragen nicht gut da. Zu diesem Zeitpunkt waren sie sogar hinter Manuel López Obrador. Es war diese Versammlung, auf der entschieden wurde, Milliarden von Pesos in den Stimmenkauf zu investieren. Das wiederum hat funktioniert – fünf Millionen gekaufte Stimmen in den letzten zwei Monaten vor der Wahl (siehe LN 457/458, 459/460).

Du betonst immer wieder die Wichtigkeit der Gegeninformation. Jetzt bist du Funktionär für Kunst und Kultur in der neuen Linkspartei von Manuel López Obrador, Morena. Welche Möglichkeiten siehst du hier für die Schaffung einer kritischen Öffentlichkeit?
Wir haben auf diesem Gebiet eine lange und sehr wertvolle Erfahrung, vor allem mit der Brigade Para leer en Libertad (Um in Freiheit zu lesen). Diesen Februar werden wir vier Jahre alt. Wir sind ein Dutzend Menschen mit einer Vision: Wenn wir mehr Leute zum Lesen bringen, werden wir das demokratische Denken in Mexiko weiter verbreiten. Der Mexikaner, der liest, ist kritischer, schlauer und weniger anfällig für die Manipulationen der Macht. Deswegen haben wir angefangen, im Großraum von Mexiko-Stadt ein Literaturnetzwerk mit verschiedenen Aufgaben zu gründen. Zuerst organisierten wir Buchmessen in problematischen Zonen, wie der Peripherie der Stadt, wo es keine Buchhandlungen gibt. Jeden Tag gab es Konferenzen, Debatten und Präsentationen und immer wieder auch Musik oder Theater. Das Programm haben wir stark politisiert. Es ging vor allem um Bücher zur organisierten Kriminalität, der Kampagne von Peña Nieto, den Zapatistas und zur Lehrerbewegung. Außerdem haben wir Gäste eingeladen und alle bekannten Schriftsteller Mexikos haben mitgemacht: Montemayor vor seinem Tod, Monsiváis, Elena Poniatowska…
Parallel organisierten wir einen Kurs zur Geschichte Mexikos für Bürger im Widerstand. Die Erfahrung, die ich in den letzten Jahren auf über 300 Konferenzen in den Slums sammeln konnte, hat mir eines klar gezeigt: Die Kulturpolitik ist eines der effektivsten Mittel linker Organisationen, um kritisches Denken zu fördern und um eine in der Linken lange vernachlässigte Arbeit wieder aufzunehmen: die politische Bildung.

Du bist Funktionär bei Morena. Die Partei hat sich dir noch nicht in den Weg gestellt?
Sie hilft mir nicht, aber sie behindert mich auch nicht. Niemand hat mich jemals aufgehalten und in der mexikanischen Linken gibt es niemanden, der mir gesagt hätte: „Du darfst nicht kommen, weil du bei Morena bist.“ Weil es bekannt ist, dass ich hingehe, selbst wenn Morena nicht hingeht.
Das Problem bei Morena ist ein anderes. Es gibt einen internen Konflikt zwischen zwei Parteimodellen. Eine Seite möchte die Partei zu einem Instrument für die nächsten Präsidentschaftswahlen machen und für die andere Seite ist die Partei eine soziale Bewegung, also weniger an Wahlen als an sozialen Kämpfen interessiert. Der Konflikt ist nicht gelöst und derzeit ist die Partei eine Ko-existenz der beiden Strömungen.

Das heißt, für dich ist Morena kein Mittel, um sich bei Wahlen aufzustellen?
Nein, überhaupt nicht. Die Wahlen sind großer Mist und wir werden die PRI nicht über Wahlen besiegen. Für mich ist Morena die Möglichkeit, eine wirkliche Volkspartei zu gründen. Ich spreche hier von drei bis vier Millionen Mitgliedern und 300.000 Aktivisten – mit der Stärke, im gegebenen Moment den zivilen Ungehorsam auszurufen, ein Moratorium beim Zahlen der Steuern einzuleiten oder einen Generalstreik zu organisieren. Und dann, in diesem Prozess, mit Erfolg bei den Wahlen zu intervenieren. Derzeit müssen Wahlen genutzt werden, um auf der kommunalen Ebene, vielleicht auf Landesebene, neue Formen der Verwaltung zu schaffen. Andere denken nicht so. Sie sehen in Morena das Mittel, um eine große Partei für die Wahlen zur Abgeordnetenkammer 2015 aufzubauen. Das sehe ich nicht. Es ist die Gesellschaft, die sich bewegt. Die Partei hilft, Dinge zu artikulieren – mehr nicht.

Infokasten

Paco Ignacio Taibo II ist mexikanischer Schriftsteller und Aktivist. Neben seinen Kriminalromanen hat er sich als Historiker und Che-Guevara-Biograph einen Namen gemacht. Er gründete das Leseprojekt Para Leer en Libertad („Um in Freiheit zu lesen”) zur Verbreitung von Literatur und mexikanischer Geschichte. Seit 2012 gehört er als Kulturbeauftragter dem Vorstand der neuen Linkspartei Morena an. Auf Deutsch erschien zuletzt Die Rückkehr der Tiger von Malaysia (Assoziation A).

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