Argentinien | Nummer 359 - Mai 2004

“Ich entschuldige mich für 20 Jahre Schweigen”

Der argentinische Präsident Néstor Kirchner erklärt das größte Folterzentrum Lateinamerikas zum Museum

In Argentinien sind definitiv neue Zeiten angebrochen. Und die alten Zeiten werden aufgearbeitet: Präsident Kirchner versetzt 30 Generäle der Streitkräfte in den Ruhestand und setzt sich für die Aufklärung und Strafverfolgung der Verbrechen während der Militärdiktatur ein.

Klaus Schirmer

Vergrößerte schwarz-weiß Fotos hängen auf einer Länge von mehreren hundert Metern an einem Eisengitter mit Messing verzierten Spitzen. Unter den Fotos von jungen Frauen und Männern steht ihr Namen und das Datum, an dem sie das letzte Mal lebend gesehen wurden. Es ist das erste Mal in der Geschichte Argentiniens, dass sich die Tore der berüchtigten Mechanikerschule der Kriegsmarine, der Escuela de mecánica de la armada (ESMA), für die Besucher öffnen. Und das am 24. März, dem Jahrestag des letzten Militärputsches.
Das 18 Hektar große Areal liegt an der nördlichen Stadtgrenze von Buenos Aires. Menschrechtsorganisationen schätzen, dass hier in der Zeit von 1976 bis 1983 mehr als 5.000 Menschen gefoltert wurden und später verschwanden. Die ESMA war der Inbegriff des staatlichen Terrors für die landesweit über 300 Internierungslager der Militärdiktatur und gilt als das größte Folterzentrum, das Lateinamerikas Militärdiktaturen hervorbrachten.
Vor dem Eisenzaun wird ein Gedichtband tausendfach verteilt. Im Vorwort schreibt der argentinische Präsident Néstor Kirchner, dass es „einmal in diesem Land eine Generation gab, die vom Wunsch beseelt war, Ungleichheit und Ungerechtigkeit aus ihrem Land zu vertreiben“ und dass er selbst Teil dieser Generation sei. Die Autorin der Gedichte, Ana María Ponce, hat die Verse in Gefangenschaft hinter diesen Gittern geschrieben. „Ich schaue wieder/ auf meine Füße/ sie sind gefesselt/ meine Hände/ mein Körper/ er ist gefangen, aber meine Seele/ ja meine Seele/ kann so nicht zurückbleiben,/ ich lasse sie gehen, fort/ suchen was von mir noch bleibt,/ eine Welt machen aus Stücken/ und schon lache ich/ weil ich mich noch lebendig fühle.“ Ponce und Kirchner lernten sich in der peronistischen Jugendbewegung in der Universität von La Plata kennen. Am Rosenmontag 1978 verschwand Ana María Ponce für immer.

Nichts ist wie vorher
An 24. März 2004, als sich der Militärputsch zum 28. Mal jährt, ist nichts so, wie es in all den Jahren zuvor an diesem Tag war. Aus der Mechanikerschule soll ein Museum werden. Das hat Präsident Kirchner höchstpersönlich angeordnet und die Militärs damit ein weiteres Mal vergrault. Eine Woche vor der offiziellen Übergabe kehrte eine Gruppe von ESMA-Überlebenden an den Ort ihrer schlimmsten Pein zurück. Dieses Mal jedoch mit offenen Augen und in Begleitung Präsident Kirchners. Die Symbolik dieser Handlung kann nicht stärker sein. Die politische Geste richtet sich sowohl an die Opfer, die eine staatliche Anerkennung ihres persönlichen Leids erfahren, und sie ist zugleich ein deutliches Zeichen der Straflosigkeit gegenüber den Verantwortlichen der letzten Militärdiktatur. Die Amnestiegesetze Ley de Punto Final und Obediencia Debida wurden vor wenigen Monaten vom Kongress annulliert. Nun wartet man auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs. Die vom Expräsidenten Carlos Menem Anfang der 90er Jahre ausgesprochenen Begnadigungen wurden vom Richter Canicoba Corral erst vor kurzem für verfassungswidrig erklärt. Konkrete Pläne zur Gestaltung des Museums liegen indessen noch nicht vor. Aus der Diskussion mit Menschrechtsorganisationen, Intellektuellen und VertreterInnen politischer Parteien soll eine einvernehmliche Entscheidung bis Ende des Jahres getroffen werden. Die Ideen reichen von einer Rekonstruktion der Folterzellen bis zu einem leeren, verwaisten Ort der Stille und Reflexion.
Freilich stößt das forsche Handeln des Präsidenten in den letzten Wochen nicht bei allen auf Gegenliebe. Vor dem Eingangstor der ESMA protestierten Eltern von Marineschülern über den neuen Zweck der Schule. Sie pochen darauf, den Unterricht regulär an diesem Ort fortzusetzen. Die konservative Tageszeitung La Nación wirft Kirchner einen Rückfall in den Diskurs der 70er Jahre vor und dass er sich von „sektiererischen Menschenrechtsorganisationen“ unter Druck setzen lasse. Innerhalb der peronistischen Partei organisiert sich der Widerstand gegen den allzu populären, handlungswilligen Präsidenten und dessen eigenmächtige Vergangenheitsbewältigung. Fünf peronistische Provinzgouverneure ließen schon einen Tag vor dem Jahrestag in einer gemeinsamen Stellungnahme verlauten, dass sie der Gedenkveranstaltung in der Mechanikerschule fernbleiben und auf persönliche Weise den Menschenrechtsverletzungen gedenken würden. Vorausgegangen war die öffentliche Ankündigung von Hebe de Bonafini, Präsidentin der Madres de Plaza de Mayo, der offiziellen Veranstaltung in der ESMA fernzubleiben, falls Gouverneure daran teilnehmen, in deren Provinzen die Menschenrechte mit Füßen getreten werden und Folter an der Tagesordnung stehe.

Keine alten Portraits
Bereits der Vormittag dieses historischen 24. Märzes 2004 markiert die symbolische Zeitenwende in Buenos Aires. Kirchner ist mit seiner gesamten Kabinettsriege in die Militärschule der Nation nach El Palomar gekommen. Der oberste Heereschef, General Bendini, muss auf präsidiale Anordnung auf eine Leiter steigen und die Portraits der einstigen Diktatoren Videla und Bignone in der Hall of Fame der argentinischen Armee abhängen. Beide waren einst Leiter dieser Schule. In Armeekreisen stößt der Befehl des Präsidenten auf harsche Kritik. Er sei auf einem Auge blind, lässt man verlauten. Zwei Generäle bleiben nicht bei verbaler Kritik und beantragen die Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand. Kirchner hatte in einer seiner ersten Amtsausübungen nach der Wahl zum Präsidenten mehr als 30 Generäle und Admiräle aus der Führungsriege der Streitkräfte frühzeitig pensioniert. Generationswechsel hieß die offizielle Begründung für den Wechsel an der Spitze der Armee. Vor dem Präsidentenbesuch, der für die Militärs nichts anderes als eine öffentliche Demütigung darstellt, war das Originalbild Videlas verschwunden. Es wurde für den offiziellen Akt durch ein Duplikat ersetzt. Bei der knappen Ansprache vor den Kadetten und den verbliebenen Generälen erläutert Kirchner, dass „das Abhängen der Bilder eine klare Entscheidung des ganzen Landes und der Streitkräfte ist, mit dieser bedauernswerten Etappe unseres Landes Schluss zu machen.“ Damit sei die Demokratie ein für alle Mal gesichert und der Staatsterrorismus verbannt. Kirchner lässt an diesem Tag einen zögerlich applaudierenden Militärnachwuchs und zwei sinnentfremdete Nägel in der weißen Wand der argentinischen Militärahnengeschichte zurück.
Schon am Nachmittag dieses denkwürdigen Jahrestages dürfte sich Kirchner in Begleitung zahlreicher Menschenrechtsorganisationen mit mehr als 40.000 Menschen im ESMA-Areal wohler gefühlt haben. Bei der Kundgebung im Anschluss an die offizielle Überführung der Mechanikerschule der Kriegsmarine in ein Erinnerungsmuseum haben zunächst jene das Wort, für welche die ESMA etwas ganz besonderes bedeutet. Zum Beispiel Isabel Prigione und Juan Cabandié, die hier in Gefangenschaft geboren wurden und nie ihre leiblichen Eltern kennen lernten. Sie wurden von Militärs oder Polizisten aus dem Zellentrakt heraus adoptiert und lebten viele Jahre im festen Glauben, Kinder von Militärs zu sein, bevor ihnen die Abuelas de Plaza de Mayo nach jahrelanger Recherche ihre wahre Identität vermittelten. Kirchner applaudiert, als Isabel neben ihm die bedingungslose Strafverfolgung der Militärs, die Aufklärung über das Schicksal der 30.000 Verschwundenen und der geraubten Kinder der Menge verlangt. Nur bei der Forderung, nicht einen Dollar der Auslandsschulden an den internationalen Währungsfonds zurückzuzahlen, bleiben seine Hände hinter dem Rücken verschränkt.

Der 77. Enkel
Juan erfuhr erst im Januar dieses Jahres den Namen, den ihm seine erst 17-jährige Mutter vor 26 Jahren gegeben hatte. Bevor sie kurz nach der Geburt für immer verschwand, teilte sie den Namen einer Mitgefangenen mit, die jetzt den entscheidenden Anhaltspunkt für seine Nachforschungen lieferte. „Ich habe zwei Jahre nach meiner Identität gesucht. Jetzt weiß ich wer meine Eltern waren“, zittert Juans Stimme vor Tausenden von ZuhörerInnen, die jedes Wort mit andächtiger Stille begleiten. „Auch wenn es anfänglich schmerzt, es ist die Ungewissheit, die traumatisiert. Die Wahrheit bedeutet letztendlich die absolute Freiheit. Ich bin Enkel 77. Danke an meine Familie und die Großmütter, die mich ohne Unterlass gesucht haben.“ Die Organisation Abuelas de Plaza de Mayo, die sich zur Aufgabe gemacht hat, die Identität der geraubten Kinder ausfindig zu machen, hat bisher 77 EnkelInnen über ihre wahre Herkunft informiert, die in Gefangenschaft geboren wurden und deren Mütter verschwunden gelassen wurden. Man geht von ungefähr 500 geraubten Babys aus.
Jorge ist Kioskbesitzer und tief bewegt von Juans Geschichte. Er war eine Stunde unterwegs, um aus dem südlichen Quilmes zu diesem „historischen Ereignis“ in die ESMA zu kommen. Er schloss sein Geschäft früher und brachte seinen Sohn Daniel mit. „Um das alles nicht zu vergessen, und damit dies nie wieder passiert“, sagt er. „Die Militärs haben nur Unheil über das Land gebracht: die vielen Verschwundenen, die Schulden, die Wirtschaftskrise.“ Er nennt Zahlen, um zu verdeutlichen, wie die Schulden seit der Militärdiktatur exponentiell angestiegen sind. Für Jorge ist es aber auch aus einem anderen Grund ein Tag der Erinnerung, den er seinem Sohn vermitteln will. Die ersten zwei Monate seines Wehrdienstes hat er 1979 hier, in der ESMA, abgeleistet. „Ich fühle mich schuldig, ohne etwas getan zu haben, ich habe es damals nicht einmal gewusst.“ Wer in Argentinien bis in die 90er Jahre zum Wehrdienst eingezogen wurde, das war eine Frage des Zufall. Nicht eine Musterung, sondern ein Losverfahren entschied. „Es gab natürlich Gerüchte, dass hier gefoltert wurde, vor allem unter dem Aufmarschplatz vor dem Stabsgebäude und im Offizierskasino. Gesehen habe ich aber nie etwas, weil ich in einem anderen Teil des Geländes untergebracht war“, erklärt Jorge. Während der Militärdiktatur verschwand die komplette Familie seines Onkels. Auch ihre Fotos sind am Zaun befestigt. „Wir wollen endlich wissen, wo sie sind. Aber von Kirchner können wir nicht mehr verlangen, als er schon getan hat. Sonst ist er bald weg.“
Ein argentinischer Staatspräsident als Redner nach Kindern verschwundener Eltern, der sich die Tränen aus den Augen wischt, als ein Gedicht von Ana María Ponce rezitiert wird: das wäre noch vor einem Jahr unvorstellbar gewesen. „Man muss die Dinge beim Namen nennen. Als Präsident Argentiniens komme ich hierher, um mich stellvertretend im Namen des Staates für die Schande zu entschuldigen, dass in 20 Jahren Demokratie alle diese Verbrechen verschwiegen wurden“, macht Kirchner in seiner knappen Rede, in der er sich an die ZuhörerInnen mit „Großmütter, Mütter und Kinder“ wendet, keine langen Umschweife. Auch wenn er in diesem Augenblick von frenetischem Beifall unterbrochen wird, ist diese historische Abrechnung mit der Amnestiepolitik vorangegangener Regierungen eine Verkennung der Leistungen der Regierung Alfonsin in den 80er Jahren, die mit der Wahrheitskommission CONADEP und dem darauf folgenden Gerichtprozess gegen die Militärjuntas einen Meilenstein in der Aufarbeitung der Diktatur setzte.

Probleme mit den Peronisten
„Ich war selbst Aktivistin in den 70er Jahren und ich weiß, dass ich nicht nur humanitäre und edle Träume hatte, sondern diese durchaus autoritär und voller Gewalt waren.“ Derart introspektiv beschreibt sich in diesen Tagen Beatriz Sarlo, die gran dama der argentinischen Geisteswissenschaften. In einem Gastkommentar der ansonsten stark auf der Kirchner-Welle schwimmenden Tageszeitung Página/12 kritisiert die renommierte Essayistin die egozentrische Politikshow des Präsidenten, der auftrete, als sei er selbst in der ESMA gefoltert worden, oder sich wie ein „alter Revoluzzer“ gebärde, der „seine Wünsche in Staatszeremonien verwandle“, bei denen viele und vieles außen vor blieben. Die selektive Art und Weise, wie von der Regierung auf dem ESMA-Gelände ein vermeintlich zukunftsweisender und repräsentativer Erinnerungsdiskurs inszeniert werde, basiere auf Intoleranz und Vereinfachungen, die an die „Gespenster des Einheitsdenkens“ erinnerten, schreibt die Autorin und bekennt, dass es dieses Jahr der erste Jahrestag sei, an dem sie nicht teilnehme. Sarlo, 1978 Mitgründerin von Punto de Vista, der wichtigsten oppositionellen Kulturzeitschrift in der Diktatur und Denkfabrik in den ersten Jahren der Demokratie, als sie die Alfonsin-Regierung und deren Prozess gegen die Militärjunta unterstütze, sträubt sich gegen die ihrer Meinung nach dominante Rolle der Peronisten und Menschenrechtsorganisationen an diesem denkwürdigen Jahrestag. Auch wenn sie den Menschenrechtsgruppen wichtige und unbestreitbare Verdienste im Kampf gegen die Amnestiegesetze bescheinigt, findet Sarlo, dass sie sich in „Militante des Staates“ und eine Art „progressive Nomenklatur“ verwandelt haben. Ein Staatsakt in der ESMA, der die Vergangenheit und Zukunft aller Argentinier- Innen betreffe, sei wegweisend und müsse daher auf breite gesellschaftliche Basis gestellt werden. Neben dem „Massaker an jungen Idealisten“ habe es in den 70er Jahren auch eine „revolutionäre Gewalt“ auf Seiten der Linken gegeben, die in einigen Gruppierungen „terroristisch“ gewesen sei. In einer von einer demokratischen, repräsentativen Regierung organisierten Veranstaltung müssten beide Versionen über die konfliktreiche Geschichte der 70er Jahre dargestellt werden. Mit dieser Art der Kritik an der Gedenkveranstaltung läuft Sarlo jedoch Gefahr, die Aktionen der Guerilla mit dem organisierten Staatsterrorismus auf eine Ebene zu stellen.
Während die Leitartikel in La Nación unablässig versuchen, ihre Leser mit einem von der Subversion initiierten Krieg in den 70er Jahren bei Laune zu halten, stammen die sehr persönlichen Bemerkungen von Beatriz Sarlo aus dem Umfeld derer, die maßgeblich an der Gestaltung der Demokratie unter der Alfonsin-Regierung mitwirkten. Jene, die damals den für Lateinamerika einmaligen Aufbruch mitgestalteten, sehen sich mehr und mehr von der Aufarbeitung der Vergangenheit ausgeschlossen und in ihrer historischen Leistung verkannt. Die Debatte um die Rolle Kirchners am Jahrestag und seine Menschenrechtspolitik hat mit der sehr persönlichen, keineswegs unproblematischen Replik Sarlos erst begonnen. Und mit ihr der Kampf um die Erinnerung. Auch die anstehenden Diskussionen um die Gestaltung des ESMA-Museums werden davon ein Zeugnis geben.

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