El Salvador | Nummer 511 – Januar 2017

„ICH HOFFE, DASS TRUMP SICH ALS LÜGNER ENTPUPPT“

Interview über die Gewalt det Jugendbanden in El Salvador

Das mittelamerikanische Land El Salvador gehört zu den gewalttätigsten Ländern weltweit. Für einen Großteil der Gewalt machen Politik und Medien seit Jahren die in Zentralamerika verbreiteten, als maras oder pandillas bekannten Jugendbanden verantwortlich. Laut Schätzungen verfügen diese alleine in El Salvador über bis zu 60.000 Mitglieder. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit dem Basisaktivisten José Santos Guevara und dem Psychologen Alexander Ocampo* über gescheiterte Sicherheitsstrategien, ausstiegswillige Bandenmitglieder und die Drohungen des künftigen US-Präsidenten Donald Trump.

Von Interview: Tobias Lambert

Was bringt einen Jugendlichen in El Salvador dazu, sich einer mara anzuschließen?
Alexander Ocampo: Das hat zum einen strukturelle Ursachen wie zum Beispiel Straflosigkeit. Wenn Jugendliche sehen, wie sich Leute bereichern oder morden, ohne dafür belangt zu werden, sagen sie sich, dass sie das auch können. Zum anderen werden in El Salvador systematisch die Menschenrechte verletzt. Das Recht auf Bildung, auf Gesundheit, auf Ernährung und vor allem auf Sicherheit sind nicht existent und das bringt Jugendliche in Situationen, die sie als ausweglos wahrnehmen. Als Vorbilder dienen vielen von ihnen die Bandenchefs. Sie sehen, dass diese über Macht, Geld, Waffen und Frauen verfügen. 90 Prozent der Bandenmitglieder sind männlich.

JOSÉ SANTOS GUEVARA ist Direktor von ACUDESBAL, einer Basisorganisation für wirtschaftliche und soziale Entwicklung in der Region Bajo Lempa. Seine Organisation und die nahe gelegenen Gemeinden sind direkt von der Gewalt durch Jugendbanden betroffen. (Fotos: Tobias Lambert)

Die rechten Regierungen der ARENA-Partei, die in El Salvador bis 2009 an der Macht war, scheiterten mit ihrer Politik der „harten“ und „superharten“ Hand zur Bekämpfung der Jugendbanden. Die linke FMLN wählte ab 2012 einen gänzlich anderen Ansatz. Worin bestand der?
José Santos Guevara: Die Regierung unter Mauricio Funes vermittelte ein als Waffenruhe bezeichnetes Abkommen zwischen den beiden großen maras MS 13 und Barrio 18. Zu diesem Zeitpunkt hatte El Salvador mit 13,6 Morden am Tag eine der höchsten Mordraten der Welt. Um diese zu senken, gewährte die Regierung den Bandenmitgliedern verschiedene Privilegien. Die Anführer wurden aus den Hochsicherheitsgefängnissen in gewöhnliche Haftanstalten verlegt, bekamen Kabelfernsehen, durften Besuch empfangen, darunter auch Prostituierte, konnten Feste feiern und frei nach außen kommunizieren. Die Anzahl der Morde ging dann tatsächlich auf 5,7 pro Tag zurück. Zum Ende der Amtszeit der Regierung Funes galt die Waffenruhe aber als gescheitert.

Woran lag das?
JSG: Die Regierung hatte ihr ganzes Vertrauen in die Bandenchefs gesetzt, was nicht sehr intelligent war. Die Mordrate ging zwar zurück, gleichzeitig häuften sich jedoch andere Straftaten wie das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen und Schutzgelderpressung. Und weil die Repression nachließ, konnten sich die Banden reorganisieren und in ganz neue Territorien vordringen. Als Folge der Waffenruhe fassten die Banden zum Beispiel erst in der Region Bajo Lempa Fuß. Aus vielen gesellschaftlichen Sektoren kam deshalb die Kritik, dass die Waffenruhe die Probleme nicht löst, sondern im Gegenteil verschlimmert. Am Ende wollte sich die Regierung um jegliche Verantwortung drücken. Sie behauptete, mit dem Abkommen nichts zu tun zu haben, da die zwei Banden es untereinander geschlossen hätten.

ALEXANDER OCAMPO arbeitet unter anderem Namen als Psychologe in der Gewaltprävention sowie mit ehemaligen Bandenmitgliedern. *Aus Sicherheitsgründen möchte er anonym bleiben.

Welche Strategie wählte Funes’ Nachfolger Salvador Sánchez Cerén, der Anfang 2015 die Regierung übernahm?
JSG: Da es wegen der Gewalt großen Unmut in der Bevölkerung gab, musste die Regierung schnell handeln. Als erstes berief sie einen Rat ein, der über die Sicherheitsstrategie debattierte und dem verschiedene Sektoren von Unternehmern über politische Parteien bis hin zu Regierungsinstanzen angehörten. Als Ergebnis entstand der Plan El Salvador Seguro („Sicheres El Salvador“) als integrale Strategie, die sowohl auf Repression als auch Prävention basieren sollte. Doch tatsächlich ging es vor allem um die offene Bekämpfung der maras. Die Bandenführer wurden erneut in Hochsicherheitsgefängnisse gesteckt und alle Privilegien beendet. 40.000 mutmaßliche Bandenmitglieder wurden festgenommen, die meisten wegen fehlender Beweise jedoch nach drei Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt. Etwas später verkündete die Regierung dann die sogenannten außergewöhnlichen Maßnahmen. Um die Banden frontal zu bekämpfen, gründete sie militärische Eliteeinheiten und verbesserte die Bewaffnung der Polizei.

Mit welchen Ergebnissen?
JSG: Nach drei Monaten hatten sich die maras aus einigen Regionen wie bei uns in Bajo Lempa wieder weitgehend zurückgezogen. Aber die Anzahl der Morde ist nicht nennenswert gesunken. Und die Banden töten nun gezielt Militärs und Polizisten, auch außerhalb ihrer Dienstzeit. Trotz der Repression ist die Gewalt also überhaupt nicht unter Kontrolle.

Herr Ocampo, Sie arbeiten im Bereich der Gewaltprävention und der Wiedereingliederung ehemaliger Bandenmitglieder. Wie erreichen sie die Jugendlichen?
AO: Wir selbst gehen nicht auf die Jugendlichen zu, das wäre zu gefährlich. Jugendliche, die aus einer Bande ausgetreten sind, bitten uns, ihnen bei der Wiedereingliederung und Arbeitssuche zu helfen. Es gibt sehr wenige Organisationen, die genau dazu arbeiten, von staatlicher Seite gibt es bisher gar keine.

Kann man denn aus einer mara einfach so austreten?
AO: Beizutreten ist einfach, auszutreten weniger. Aber es gibt Möglichkeiten. Man muss um Erlaubnis bitten, die dann nach einem längeren Prozess gewährt werden kann. Viele haben die Gewalt satt, sie wollen keine mehr ausüben und auch keine mehr selbst erleben. Das trifft vor allem auf Leute zu, die eine Familie gründen, weswegen dies auch ein häufiger Austrittsgrund ist. Auch wer sich zum Evangelikalismus bekennt, darf die Bande verlassen, denn dort stehen die Leute anders als bei der katholischen Kirche unter sozialer Kontrolle. Wer täglich zum Gottesdienst geht, kommt nicht auf den Gedanken, jemanden zu verraten. Wer aussteigt, muss zudem in dem Viertel wohnen bleiben, das die jeweilige mara kontrolliert. Andere Bandenmitglieder haben weiterhin ein Auge auf dich.

Wie läuft eine Wiedereingliederung ab?
AO: Häufig geht es darum, die Jugendlichen überhaupt erstmal in die Gesellschaft einzugliedern. Wir betreuen die Aussteiger psychologisch, entwickeln mit ihnen so etwas wie einen Lebensplan und arbeiten an wirtschaftlichen Perspektiven. Die Jugendlichen haben außerhalb der Bande meist kein soziales Umfeld und brauchen eine Arbeit. Es reicht nicht, wenn sie für sich wissen, dass sie ein anderes Leben haben wollen, man muss ihnen etwas Konkretes anbieten. Das Problem ist, dass es nur wenige Unternehmen gibt, die überhaupt ehemalige Bandenmitglieder einstellen. Und für die Aussteiger ist es auch nicht einfach. Sie müssen sich anpassen und für einen Mindestlohn von 250 US-Dollar im Monat täglich acht Stunden lang arbeiten. Bei der mara können sie soviel innerhalb von zwei Tagen verdienen. Aber dafür bekommen sie ein ruhiges Leben ohne Gewalt.

Was müsste der Staat aus Ihrer Perspektive tun, um das Gewaltproblem unter Kontrolle zu bekommen?
AO: Wenn wir die Situation mit jener vor zehn, fünfzehn Jahren vergleichen, haben wir heute wirklich eine Politik der harten Hand. Gleichzeitig hat sich das Phänomen der maras ausgeweitet, sie sind größer und besser bewaffnet. Es gibt keinen wirklichen politischen Willen, die Probleme ernsthaft zu lösen. Natürlich muss die Polizei gegen die Banden vorgehen, so lange sie dabei die Menschenrechte achtet. Aber wenn wir nicht die Korruption beenden und es nicht schaffen, den Menschen ein würdiges Leben zu ermöglichen, wird sich nichts grundlegend verändern. Dabei müssen alle Sektoren des Landes mitarbeiten. Wir brauchen gute Bildung, gute Schulen und nicht ständig neue Waffen. Das hat bisher noch keine Regierung verstanden.
JSG: Es schmerzt, Jugendliche zu sehen, die keine Zukunft haben, keine Bildung bekommen und keine Arbeit finden können. Für die Gewalt gibt es strukturelle Ursachen, etwa die ungerechte Verteilung des Reichtums und die fehlenden Möglichkeiten für die ärmeren Schichten. Und in allen politischen Parteien, ob rechts oder links, gibt es Korruption. Die Regierung liegt falsch, wenn sie denkt, das Problem sei allein durch repressive Maßnahmen in den Griff zu bekommen.

Der kommende US-Präsident Donald Trump hat im Wahlkampf angekündigt, Millionen lateinamerikanische Migrant*innen abschieben zu wollen. Die heutigen Jugendbanden wurden in den 1990er Jahren von aus den USA deportierten Jugendlichen in Zentralamerika etabliert. Welche Auswirkungen befürchten Sie, sollte Trump seine Drohungen wahr machen?
AO: Ich hoffe, dass er sich als Lügner entpuppt und seine Ankündigungen nicht umsetzt. Schon jetzt werden sehr viele Menschen nach El Salvador abgeschoben. Und das sind häufig Leute, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind.
JSG: Die Abgeschobenen könnten sich den maras anschließen, was die Situation in Zentralamerika verschärfen würde. Aber ich halte es nicht für sehr wahrscheinlich, dass Trump alles tut, was er im Wahlkampf angekündigt hat. Die US-Wirtschaft ist auf die Migranten angewiesen. Sie sind doch nicht dort und halten die Hand auf, sondern übernehmen häufig die Arbeiten, die die Weißen selbst nicht machen wollen.

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