Guatemala | Nummer 464 - Februar 2013

„Ich kann mir Pessimismus gar nicht leisten“

Interview mit der Journalistin und Lehrerin LucÍa Escobar über die Hoffnungen und Befürchtungen der guatemaltekischen Nachkriegsgeneration

Die an vielen Orten herrschende Gewalt ist eines der größten Probleme in Guatemala. Vor einem Jahr wurde der konservative Ex-General Otto Pérez Molina zum Präsidenten gewählt und versprach ein hartes Durchgreifen – bislang noch ohne große Wirkung. Die LN sprachen mit Lucía Escobar über die schwierige Suche nach Veränderungen und die Situation der sozialen Bewegungen.

Interview: Markus Zander

Eines der großen Versprechen von Präsident Pérez Molina in seiner Wahlkampagne war die Verbesserung der Sicherheitssituation in Guatemala durch den Einsatz der Armee. Hat sich seitdem wirklich etwas geändert?
Ich denke, dass sich absolut gar nichts verändert hat, die Probleme bleiben genau die gleichen. Es müsste eine komplette Umbildung des Justizsystems und der Polizei geben. Die wenigen sichtbaren Fortschritte müssen vielmehr Generalstaatsanwältin Claudia Paz y Paz angerechnet werden, die bestimmte Fälle vorangetrieben hat.
Die Regierung hat zwar mit diesem Betrug die Wahlen gewonnen, aber nichts gelöst. Die „harte Hand“ wurde vor allem auf die sozialen Bewegungen angewendet, auf die Demonstranten. Der Fall von Totonicapán (dort wurden im November 2012 sieben Demonstranten vom Militär erschossen, die Red.) ist schrecklich. Aber noch schrecklicher als die Vorfälle dort ist die Tatsache, dass der Präsident nicht sofort mindestens drei Minister entlassen hat. Oder auch die Informationspolitik der Regierung. Sie haben dauernd die Versionen gewechselt. Erst haben sie gesagt, dass Soldaten durch Machetenhiebe gestorben seien. Dann, dass sie sich durch Schüsse in die Luft verteidigt hätten. Und in der dritten Version, dass sie nur auf die Füße der Demonstranten geschossen hätten; und so weiter.

Wie kann dem Gewaltproblem begegnet werden?
Ich glaube jedenfalls nicht, dass es sich dadurch lösen wird, dass man Soldaten auf die Straße schickt. Vor Kurzem bin ich mit meinem kleinen Sohn in die Hauptstadt gefahren. Er sieht also die Colonias (abgeschlossene Wohnviertel der Wohlhabenderen, die Red.) mit ihren Gittertoren und bewaffneten Wachen und fragt mich: „Mama, warum gibt es so viele Gitter?“ Und ich sage: „Na ja, weil die Leute Angst haben, dass man ihre Sachen raubt.“ Und mein Sohn sagt: „Wäre es denn nicht einfacher, den Dieben Arbeit zu geben?“ Mhmmm – mein Sohn als Innenminister, wie wäre das? Wie ist es möglich, dass ein Kind so viel klarer sieht, was zu tun wäre?

Stimmt der Eindruck, dass es eine Veränderung in der Beziehung zwischen der Regierung und den sozialen Bewegungen gegeben hat? Im Sinne einer noch stärkeren Kriminalisierung des Protests als zuvor.
Es gab schon immer eine Kriminalisierung der sozialen Bewegungen. Vielleicht gibt es einen gewissen Fortschritt in der Hinsicht, dass sie dich früher – im Bürgerkrieg – direkt ermordet haben und jetzt kriminalisieren sie dich. Sie verunglimpfen dich oder stellen dich vor Gericht, die großen Unternehmen und Bergwerksbetreiber und diese Leute. Sie wissen, dass es nicht mehr ganz so einfach ist, dich umbringen zu lassen, und dass man ihnen auf die Spur kommen kann. Also zeigen sie dich an, beschuldigen dich des Terrorismus und versuchen, dich vollkommen in Misskredit zu bringen, indem sie sagen, dass du dich verkaufst, dass du Geld bekommst. In dieser Hinsicht hat sich die Art, wie sie angreifen, verfeinert; aber sie greifen weiter an.

Wie haben sich die Beziehungen innerhalb der Gesellschaft verändert?
Ein Jahr nach dem Machtantritt von Otto Pérez Molina habe ich das Gefühl, dass sich die Gesellschaft weiter polarisiert hat. In den Neunzigern gab es dieses Motto: „Ja, wir haben Frieden und werden ein neues Land aufbauen“ und was weiß ich, aber heute stellen sich mir die Haare zu Berge bei den Kommentaren in der Presse. Da erscheint ein Foto von Rigoberta Menchú und die Kommentare in den Medien sind absolut rassistisch; so etwas gab es in den Neunzigern nicht. Diese Radikalisierung ist in den letzten Jahren sehr stark geworden und die Medien haben sich geöffnet für Leute wie Oberst Méndez Ruiz, der diese ganzen Prozesse gegen Vertreter der guatemaltekischen Linken wegen angeblicher Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen durch die Guerrilla angefangen hat.
Und dann diese pathetische Demonstration der militärischen Veteranenvereine vor Kurzem, wo Zury Ríos (Tochter des Ex-Diktators Ríos Montt und Präsidentschaftskandidatin der von ihm gegründeten rechtspopulistischen Partei FRG im Jahr 2011, die Red.) mitdemonstriert hat… Sie mit ihrem Plakat voraus und hintendran der Leibwächter mit ihrem Täschchen und Sonnenschirm! Und dann trauen die sich bei der Anzahl von toten Journalisten und Dichtern während des Krieges mit Plakaten aufzutreten, wo draufsteht: „Dank unserer Soldaten und nicht der Journalisten gibt es Meinungsfreiheit!“ Das ist eine schallende Ohrfeige für alle Toten und eine komplette Verleugnung der geschichtlichen Tatsachen.

Welche Position nehmen die sozialen Bewegungen Guatemalas ein?
Ich sehe sie nicht als eine sehr starke oder in sich einige Gruppe. Sie sind von Personen beherrscht, die seit Jahren Nutznießer der Gewerkschaften und Kooperativen sind. Die Lehrerorganisation zum Beispiel könnte so stark sein, aber mit einem Anführer wie Joviel Acevedo kann niemand irgendeine Sympathie mit ihr fühlen. Er ist ein totaler Gauner! Diese ganze Bewegung, die so bedeutend war für die Geschichte Guatemalas, für die Revolutionen, hat diesen Typen da sitzen! Und das macht sie für meine ganze Generation unglaubwürdig. Du willst dich mit diesen Leuten einfach nicht einlassen, du willst auf keine Demo gehen mit ihm an der Spitze. Ich würde mich schämen!

Manche meinen, dass ein Teil des Problems auch darin liegt, dass die Führungsebene vieler Organisationen noch aus dem Bürgerkrieg kommt und auch das Denken des Bürgerkriegs mitbringt. Gibt es auch deswegen so wenig Veränderung, weil kein Generationenwechsel stattgefunden hat?
Ja, klar, viele der Jungen, die sich in diesen sozialen Organisationen einbringen wollten, sind daran gescheitert, dass die Strukturen dort immer noch total hierarchisch und paternalistisch funktionieren. Da sind diese Leute, die glauben, sie wüssten, wie die Dinge zu funktionieren haben, und nicht zulassen, dass die Jungen sich einmischen, dass sie reden oder ihre Meinung sagen. Neulich habe ich mit einer Freundin gesprochen, die sich in der Politik engagieren wollte, und von der Partei bekam sie zu hören: „Ihr Jungen müsst jetzt erstmal Plakate kleben oder nach dem Treffen saubermachen.“ Und sie geben ihnen keinen Raum, wo sie sich wirklich ausdrücken können. Genauso machen es die NGOs oder die sozialen Bewegungen. Die NGOs haben normalerweise eine Führungsfigur, die Geld besorgt und die Projekte plant und kontrolliert. Alle anderen müssen gehorchen und sich anpassen. Deshalb können sich viele junge Leute auch nicht damit identifizieren, was da passiert. Im Gegenteil, sie fühlen sich benutzt. Und deswegen sind die Leute auch von der Parteipolitik so enttäuscht. Die Mehrheit will – so wie ich – nicht Politiker sein.

Gibt es denn Alternativen?
Ich wenigstens denke, dass die Vertretung der 48 Kantone von Totonicapán eines der hervorragendsten Beispiele für eine erfolgreiche Organisationsform ist. (Die 48 Kantone sind die traditionelle politischen Vertretung der Maya K‘iche‘ des Departamentos Totonicapán, die Red.) Das früheste Zeugnis von ihnen ist die Geschichte von Atanasio Tzul, der sich weigerte, den Spaniern Tribut zu zahlen, ein Schiff mit Gold belud, nach Spanien fuhr und dort das Land seines Volkes von der Krone kaufte. Diese von den Ahnen weitergegebene traditionelle Organisation funktioniert schon seit 300 Jahren perfekt. Und hier sehe ich viele junge Führungspersonen; augenblicklich wird sie zum ersten Mal von einer indigenen Frau geleitet, die erst 27 Jahre alt ist. Die 48 Kantone haben dabei eine unglaubliche politische Macht. Sie sind so gut organisiert, dass das ganze Volk sich beteiligt, wenn sie zu einem Marsch aufrufen. Deswegen war es auch ein großer Fehler von Pérez Molina, auf die Demonstranten schießen zu lassen. Er hat sich mit einer Organisation angelegt, die von allen anerkannt wird, die sich nicht verkauft und sehr große politische Stärke gezeigt hat. Hier habe ich Hoffnung. Totonicapán hat es im Laufe seiner Geschichte geschafft, sich nicht fragmentieren zu lassen – und das kann ein Beispiel sein.

Das alles klingt so, als hätte es nach der anfänglichen Hoffnung in der Zeit nach der Unterzeichnung der Friedensverträge eine ungeheure Enttäuschung in Guatemala gegeben, weil sich so wenig geändert hat. Was müsste im Land passieren, damit sich etwas zum Besseren verändert?
Ja, es gibt eine ganz klare Enttäuschung. Aber sie kommt auch daher, dass wir die ganze Zeit mit schrecklichen Nachrichten bombardiert werden und eine furchtbare Gewalt herrscht. Fast alle haben irgendeinen Menschen, den sie vor Kurzem betrauern mussten. Wir alle haben einen Bruder, einen Cousin, irgendjemanden, der ermordet wurde… und das macht uns vielleicht derartig enttäuscht.
Aber auf der anderen Seite fühle ich, dass es keinen Weg zurück gibt. Man darf sich nicht desillusionieren lassen, und da bin ich vielleicht etwas schizophren. In vielen Dingen bin ich sehr pessimistisch. Aber in anderen kann ich nicht pessimistisch sein, weil ich mir das gar nicht leisten kann. Die Dinge werden sich verändern und sie verändern sich schon; ich würde gern glauben, dass viele Leute genauso denken.

LucÍa Escobar
lebt heute mit ihrem Sohn in Antigua de Guatemala, wo sie an einer Sekundarschule unterrichtet und als Journalistin für verschiedene Radios und Zeitungen arbeitet. Dorthin musste sie im Jahr 2011 von ihrem vorherigen Wohnort Panajachel am Atitlán-See fliehen, weil sie selbst mit dem Tod bedroht wurde, nachdem sie in einem Artikel Misshandlungen und Morde denunziert hatte, die von den lokalen Autoritäten geduldete Bürgermilizen begangen hatten. Sie gehört mit 36 Jahren einer Altersgruppe an, die den Bürgerkrieg nur noch als Kinder und Jugendliche erlebte und auf gesellschaftliche Veränderungen und einen Generationenwechsel bei den gesellschaftlichen Entscheidungsträger_innen drängt.

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