Kuba | Nummer 432 - Juni 2010

„Ich will mit deinem Leben tauschen!“

Kuba setzt strategisch und geschickt auf den Tourismus als Devisenbringer

Devisenbeschaffung ist für Kuba dringlicher denn je. Das Land hat einen hohen Importbedarf. Seit 1990 setzt die mit Sonne, schönen Stränden und Landschaften überreichlich gesegnete karibische Insel deshalb auf den massiven Ausbau des Tourismus. Mit beträchtlichem wirtschaftlichen Erfolg. Gesellschaftlich ist die Forcierung des Geschäfts mit einkommensstarken AusländerInnen eine Gratwanderung, wird das Land doch mit Konsummustern konfrontiert, die mit dem Alltag der KubanerInnen nichts zu tun haben.

Martin Ling

Die Quintessenz des kurzen Dialogs spricht Bände: „Woher kommst du?“, fragt Alexandre. „Aus Deutschland“, antworte ich. „Ich will mit deinem Leben tauschen!“, meint der Mittzwanziger, der in der Altstadt von Havanna das Gespräch sucht. „Du willst ins kalte Deutschland?“ „Nein, ich will nicht das Land tauschen, sondern nur das Leben, einen vernünftigen Lohn erhalten, damit ich nicht mehr ausländische Touristen um Geld für Milchpulver anhauen muss.“
Milchpulver gibt es wie viele Güter des täglichen Bedarfs nur gegen den Peso Convertible (CUC) und nicht für den Peso Cubano, in dem die KubanerInnen überwiegend ihr Gehalt beziehen. Der CUC löste 2004 den 1993 aus der Not legalisierten US-Dollar als Zweitwährung ab. Der Lebensstandard einer kubanischen Familie hängt heute weitgehend vom Zugang zum CUC ab. 60 Prozent der Bevölkerung erhält Überweisungen von im Ausland lebenden Verwandten. Alle anderen müssen sich ihre CUC anderweitig besorgen, denn das Warenangebot, das es für den kubanischen Peso gibt, ist arg eingeschränkt. Für viele KubanerInnen in den touristischen Gebieten ist die Jagd nach dem CUC Alltag. Ein schneller Dank nach Erhalt des Milchpulvers im Laden und Alexandre ist mitsamt seiner Freundin flugs entschwunden. Ob sie das Milchpulver wirklich selbst brauchen (laut Alexandre als Säuglingsnahrung) oder aber mit informellen Handel ihr Einkommen aufbessern, lässt sich schwer sagen. Sicher ist, dass Milchpulver knapp und teuer ist.
Zu den touristischen Hauptattraktionen Kubas gehört fraglos die Altstadt Havannas, die 1982 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Um ihren Erhalt und die Sanierung kümmert sich die staatliche Habaguanex, benannt nach einem Taino-Ureinwohner, der vor der Eroberung durch Spanien das Gebiet um Havanna kontrollierte. Ihre Einkünfte erzielt die 1994 gegründete Gesellschaft aus dem Betrieb von Hotels. 45 Prozent des Gewinns fließen in die Altstadtsanierung, 35 Prozent in soziale Projekte und 20 Prozent in die eiserne Reserve.
So sind inzwischen 35 Prozent der Altstadt restauriert worden. Wie lange die Komplettsanierung noch dauern wird, wagt niemand zu prognostizieren. Der Restaurationsbedarf beschränkt sich ohnehin nicht auf die Altstadt, wo sich neben stilvoll hergerichteten Häuserblocks jede Menge Gebäude im Zerfallsprozess befinden: vernagelte Fensterläden, großflächig bröckelnder Putz, mit Holzpfählen notdürftig abgestützte Balkone bis hin zu kompletten Ruinen. Sehenswert ist die Altstadt wie ganz Havanna indes allemal, schließlich ist die Metropole – 1519 gegründet – eine der ältesten Städte der so genannten Neuen Welt und atmet Geschichte. Aus Havanna brach einst der Konquistador Hernán Cortés auf, um das Reich der Azteken zu erobern. Alexander von Humboldt schaute auf seiner Amerikareise gleich zwei Mal vorbei.
Amaryllis wohnt mit ihrer Großfamilie einschließlich einer 103-jährigen Urgroßmutter schon seit vielen Jahrzehnten in der Altstadt und führt aus freien Stücken durch Haus, Hinterhaus und -hof: alles bescheiden, aber auf extreme Armut deutet nichts hin. Viele KubanerInnen hatten die Hoffnung, dass sich mit dem als pragmatisch geltenden Raúl Castro wirtschaftliche Öffnung und vor allem eine Verbesserung der materiellen Versorgungssituation vollziehen würde. Bisher sei davon wenig zu spüren, meint Amaryllis, und bringt die Entwicklung in Kuba auf eine lakonische Formel: „Immer wenn wir denken, dass es aufwärts geht, geht es abwärts.“
Dass Raúl Castro noch im Jahr seiner offiziellen Amtsübernahme 2008 mit drei schweren Hurrikans konfrontiert wurde, die Schäden von 10 Milliarden US-Dollar (15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes) verursachten, hat den Reformbemühungen sicher keine Flügel verliehen. Zumal die Stürme die potenzielle Wirkung der im Frühjahr 2008 gestarteten Landreform torpedierten. Sie ist der Kern von Raúls bisherigen Reformen und zielt auf eine Reanimierung des Agrarsektors und eine Produktivitätssteigerung mittels Landverteilung. Allen KubanerInnen ist es möglich, brach liegendes Land zu pachten, von Privatbauern- und bäuerinnen über Kooperativen bis hin zu staatlichen Betrieben. Mit der Produktionsausweitung soll die Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten von derzeit annähernd 80 Prozent sukzessive gesenkt werden. Die Hurrikans drückten auch das Wirtschaftswachstum, das 2009 statt den anvisierten sechs Prozent nur deren zwei erreichte.
Im Aufschwung ist derweil nach wie vor der Tourismus. Selbst 2009, als Weltwirtschaft wie Reisebranche in die Rezession trudelten, verzeichnete Kuba gegen diesen Trend ein Wachstum der Besucherzahlen von 3,5 Prozent, wie Tourismusminister Manuel Marrero bei der Tourismusmesse FIT Cuba ausführte. Die 30. Auflage dieser Messe fand vom 3. bis 8. Mai in Havanna statt, genauer gesagt in El Morro, der alten, zum Schutz gegen Piraten erbauten Festung.
Doch ein wenig Wasser musste Marrero in den Wein gießen: Die 2,4 Millionen Menschen, die 2009 auf die Karibikinsel strömten, spülten elf Prozent weniger in die Kassen als im Vorjahr: rund zwei Milliarden US-Dollar. Nichtsdestotrotz hat sich der Tourismus längst zum wichtigsten Devisenbringer der Insel gemausert und in dieser Rolle Nickel und Kobalt abgelöst. Längst hat der Tourismus die Zuckerrohrproduktion als strategischen Sektor abgelöst. Zucker ist selbst unter den agrarischen Exportprodukten auf Platz zwei (hinter den Tabak) gerutscht. Beliefen sich die Exporterlöse 1996 noch auf knapp eine Milliarde US-Dollar, so sind es inzwischen nur noch zwischen 100 und 200 Millionen US-Dollar.
Die FIT Cuba ließ keinen Zweifel daran, dass Kuba die Erfolgsgeschichte Tourismus fortschreiben will. 1900 akkreditierte Teilnehmer zeigen den hohen Stellenwert, den das Reiseziel Kuba inzwischen genießt. Kamen in den 1980er Jahren keine 200.000 BesucherInnen pro Jahr auf die Insel, so wird mittlerweile die Zwei-Millionen-Schwelle regelmäßig locker überschritten. Dafür gibt es viele Gründe: Kuba gilt als sicheres Reiseland, die Einheimischen sind freundlich, die Sonne scheint nahezu unentwegt und ist so omnipräsent wie Cocktails auf Rum-Basis und die kubanische Musik rund um den Son. Zudem haben die allermeisten Hotels längst gehobenen Standard, der vor allem im Preis-Leistungs-Verhältnis keinen Vergleich scheuen muss. Mangel gibt es für TouristInnen nicht.
Bei Kubas Bevölkerung hingegen ist oft Schmalhans Küchenmeister: Mit den extrem billigen Lebensmitteln, die der Staat in den Bodegas gegen Vorlage der libreta (Heftchen) verteilt, kommt man nicht weit. In den Heftchen wird notiert, was jede Familie im Monat an subventionierter Nahrung kaufen darf: ein paar Pfund Reis, ein paar Pfund weißen und braunen Zucker, Getreide, Öl, Kaffee, Eier und hin und wieder Fleisch oder Fisch. Mehr als zwei Wochen, so die Faustregel, kommt man damit nicht hin. Den Rest muss man sich auf den Bauernmärkten hinzukaufen, gegen CUC und zu relativ hohen Preisen. Ein Kilo des bei KubanerInnen äußerst beliebten Schweinefleischs kostet umgerechnet 1,40 Euro – bei Monatslöhnen von 15 bis 20 Euro kein Pappenstiel.
KubanerInnen, die im Tourismus arbeiten, werden direkt mit dem Gegensatz zwischen dem touristischen Leben im Überfluss und ihren Alltagserfahrungen zuhause konfrontiert. Yolania äußert sich zurückhaltend auf die Frage, ob dieser krasse Gegensatz für eine Gesellschaft, die seit der Revolution 1959 Egalität als einen wesentlichen Grundpfeiler des sozialen Zusammenhalts verankert hat, nicht ein Problem sei. „Es ist nicht einfach, aber so ist eben das Leben.“ Und sicher würde man gerne auch selbst mal reisen, allein um die Fremdsprachenkenntnisse vor Ort überprüfen zu können, fügt sie verlegen hinzu. Für die meisten KubanerInnen ist das freilich Wunschdenken.
So auch für einen Straßenkünstler, der auf der FIT Cuba auftritt. Dem deutschen Besucher stellt er sich mit den Worten vor: „Ich heiße Eric, nicht Erich wie Honecker.“ Honecker ist nach wie vor einer der bekanntesten deutschen Politiker auf der Karibikinsel. Die meisten deutschsprachigen KubanerInnen verdanken ihre Kenntnisse meist Aufenthalten in der DDR während seiner Amtszeit. Eric selbst war dafür viel zu jung, er spricht nur spanisch und in Raúl Castros Kurs sieht er keine nennenswerte Änderung. „In Kuba läuft alles weiter wie gehabt, das System der zwei Währungen ist das größte Problem.“
Und was Eric besonders stört: „Seit 50 Jahren marschiert Kuba in die eine Richtung und die Welt in eine andere. Vielleicht würden wir ja unseren Kurs aus freien Stücken beibehalten, aber wir haben nicht einmal die Möglichkeit, in andere Länder zu reisen, um uns die Gesellschaftssysteme dort anzuschauen.“ Im Gegensatz zu den TouristInnen, für die Kuba immer eine Reise wert ist.

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