Literatur | Nummer 366 - Dezember 2004

Ich will nur weg – egal wie!

Ein Theaterstück vom Traum wegzugehen und der Sehnsucht wiederzukommen

Junge TheaterstudentInnen in Lima haben ein Stück über das Fortgehen aus Peru gemacht. Ihre Form des Theaters ist nicht nur thematisch aktuell, auch die Art der Umsetzung drückt den Wunsch nach Neuem aus: Das Stück wird nicht in einem Theater gespielt, sondern in einem verfallenen Haus im Zentrum von Lima. So schaffen sich die StudentInnen einen näheren Zugang zu den ZuschauerInnen und gewähren einen fast schon zu intimen Einblick in Träume und Ziele junger Menschen. Es ergibt sich hier die Möglichkeit, ihre Situation anders wahrnehmen und verstehen zu können.

Claudia Löhrmann

Nicht etwa die Empfangshalle eines Theaters erwartet die ZuschauerInnen, sondern ein Bus. Ähnlich wie Flugpassagiere werden die Gäste zu ihrem Zielort gefahren, nur ist die Fahrt um einiges länger: Sie führt quer durch Lima nach Barrios Altos, einem armen und dicht bevölkerten Viertel der Stadt. Der Bus hält schließlich vor einem alten, verfallenen Haus. Über eine enge Treppe werden die ZuschauerInnen drinnen in den ersten Stock geführt, noch immer ohne eine Vorahnung dessen, was sie dort erwartet. Und wiederum ist nichts zu finden, was einem herkömmlichen Theater ähnelt. Es gibt weder Stühle, noch beschränkt sich das Stück auf einen einzigen Raum. Die ZuschauerInnen werden vielmehr nacheinander durch alle Zimmer des ersten Stocks geführt – und erleben in jedem einzelnen eine neue Geschichte. Jedesmal treffen sie eine junge Frau in ihrem Hause an, die sie an ihren ganz intimen Wünschen und Träumen teilhaben lässt. Es ist ein bisschen wie heimliches Zugucken. Gleichzeitig mahnt der Name des Stücks zur Zurückhaltung: „Prohibido mirar con malicia (Es ist verboten, mit Bosheit zuzusehen)“. Niemand hat hier das Recht zu be- oder verurteilen. Auch nicht, wenn das Thema aller beteiligten jungen Frauen eines der umstrittensten und gleichzeitig präsentesten in der peruanischen Gesellschaft ist: „Weg aus Peru, egal wie“. Es geht also um Migration in reichere Länder.

Raus aus Peru –
nach Japan oder Miami
In einem Zimmer treffen die ZuschauerInnen auf eine junge Frau mit Mullbinden vor den Augen. Sie erzählt, dass sie sich die Augenlider hat operieren lassen, um japanisch auszusehen. Peruaner mit japanischer Herkunft hätten nämlich gute Chancen, ein Einreisevisum für Japan zu bekommen. Im nächsten Zimmer sind die Wände mit Kontinenten und Vogelflugrouten bemalt. Die junge Frau selber wirkt ein bisschen wie ein Vogel und spricht über Zugvögel. Eine andere wiederum sieht leicht vulgär aus und erzählt auf Englisch, wenn auch mit starkem Akzent, über die Sehenswürdigkeiten Limas. An den Wänden hängen Prospekte und Pläne der Stadt. Sie zieht einen jungen Mann zu sich heran, umschmeichelt ihn und fragt ihn, ob er sie in „your country“ mitnehmen möchte. Noch eine andere Frau spricht über Miami, wo die Strände nicht so schmutzig seien wie in Lima. Dort, so meint sie, könne sie bald sein, da sie jung und weiß sei, und keine chola (Peruanerin indianischer Herkunft). Sie verachtet die cholos, von denen sie glaubt, dass sie sowieso keine Chance haben, aus Peru herauszukommen. Die Wände hat sie mit Fotos und Plänen von Miami dekoriert, ihre Tasche ist gepackt, auf dem Boden liegt lediglich eine leere Matratze.
Doch das Stück ist mit dem Evozieren dieser Hoffnungen nicht zu Ende. Als nächstes werden die ZuschauerInnen zusammen mit den Schauspielerinnen wie „Ausreisende“ durch „Warteräume“ und „Kontrollen“ geleitet und landen schließlich im zweiten Stock des Hauses. Hier plötzlich: Offene Fenster mit Blick über die Dächer Limas auf die Berge, den Himmel. Dazu spielt jemand Quena (andinische Flöte). An den Wänden hängen Gedichte von Arguedas und Vallejo, die über Lima erzählen. Auf einem Tisch liegen zwei Bücher, in die man etwas schreiben kann. Betitelt sind die leeren Seiten mit „Por qué irse? (Warum weggehen?)“ und „Por qué quedarse? (Warum bleiben?)“. Die ZuschauerInnen werden damit aktiv einbezogen, sich Gedanken über Auswanderung und die Verbundenheit mit ihrem Zuhause zu machen, die sie hier festhält.

Die Entstehung des Stückes
„Prohibido mirar con malicia“ entstammt einem Theaterprojekt, das beim Entstehungsprozess des Stückes kein vorgegebenes Thema hatte. Die im Rahmen eines Abschlussprojekts der Universidad Católica vom bekannten Theaterregisseur Miguel Rubio gestellte Aufgabe bestand vielmehr darin, dass die StudentInnen während einer Reihe von Körpersequenzen Themen finden sollten, die dabei an die Oberfläche kamen. Diese spürten zunächst vor allem ein großes Bedürfnis nach Nähe und Kommunikation, gleichzeitig aber auch die Unfähigkeit, sich einander anzunähern. Dieses Bedürfnis nach Verbindung, das ständig frustriert wird und scheitert, bezogen sie im Folgenden auf ihre Stadt und ihr Land, sogar auf die Welt. Ihre Empfindung: Aus Angst vor dem Scheitern entfernt sich jeder vom anderen, obwohl er das Gegenteil möchte.
Zudem spürten sie das Verlangen zu reisen – irgendwo anzukommen und etwas hinter sich zu lassen. Bezogen auf Peru entstand daher das Thema Migration. „Peru, das Land, das uns Türen verschließt, die wir uns aber öffnen müssen.“ Warum gehen so viele fort aus Peru, und warum vermissen sie es dann so?
Ein weiterer Aspekt beim Zustandekommen des Stückes war, dass die StudentInnen von Anfang an ihr Stück nicht im Theater der Universität aufführen wollten, sondern die Idee hatten, andere Räume auszuprobieren. Ein Dozent vermittelte ihnen dann das leerstehende Haus im Zentrum Limas, wo sie von nun an weiter probten. Der ganz andere Ort gab neue Inhalte: Beim Durchlaufen der Zimmer und Korridore fühlte man sich ein wenig wie in einem Labyrinth. Sie beschlossen, dass jede Person des Stücks ihren eigenen Raum mit ihrem Thema ausfüllen sollte. Und schließlich gab das Haus sogar den Titel des Stücks vor. „Prohibido mirar con malicia“ stand dort auf einer der Zimmertüren geschrieben. „La casa habló“, sagen sie dazu (das Haus hat gesprochen) – nicht nur zu ihnen, sondern wohl auch zu jedem, der das Stück gesehen hat.

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