Brasilien | Nummer 462 - Dezember 2012

Im kommunalen Wechselbad

Gemischte Ergebnisse für die Linken Parteien in Brasilien

Auf den ersten Blick lesen sich die Ergebnisse der Kommunalwahlen in Brasilien wie ein fulminanter Linksruck: Die Arbeiterpartei PT wurde mit 16,8 Prozent der abgegebenen Stimmen stärkste Partei und konnte nach acht Jahren in der Megalopole Sâo Paulo das Bürgermeisteramt zurückgewinnen. Auch andere Linksparteien legten deutlich zu. Dennoch liegen die traditionell klientelistische PMDB und die intellektuell-technokratischen Sozialdemokraten der PSDB bei der Anzahl der Bürgermeisterämter sowie der Gemeinderatsmitglieder insgesamt noch vorn. In Fortaleza wurde die sozialistisch und feministisch inspirierte Politik der einzigen Bürgermeisterin in einer Metropole beendet.

Antônio Candeia

In Fortaleza, Landeshauptstadt des nordöstlichen Bundesstaates Ceará, krachen am Wahlsonntag gegen halb acht die Böller. Raketen zischen in den Himmel über dem zentralen Wahlkampfbüro des Bürgermeisterkandidaten der sozialistischen Partei Brasiliens PSB, Roberto Claudio. Er hat es mit Unterstützung des Gouverneurs von Ceará, Cid Gomes, und einer politisch breiten Allianz geschafft, mehr Stimmen zu erhalten als der Kandidat der Arbeiterpartei PT, Elmano de Freitas. Die Niederlage war mit 47 gegen 53 Prozent deutlicher als man das von den ausgeglichenen Umfrageergebnissen erwarten durfte. Überraschend war dies auch, weil der bis zur Wahl eher unbekannte Elmano Unterstützung nicht nur von der vor acht Jahren gewählten PT-Bürgermeisterin Luiziane Lins, sondern auch des ehemaligen Präsidenten Lula da Silva erhalten hatte. Doch seit dem 28. Oktober sind in Fortaleza mit Roberto Claudio und seinen Gefolgsleuten die traditionelle politische Klasse und ihr soziales Milieu der bisherigen Mittelklasse im neu gestylten Gewand an die Macht zurückgekehrt.
Fortaleza ist eine von drei Metropolen, in denen die im nationalen Kongress eigentlich miteinander verbündeten Linksparteien PT und PSB gegeneinander antraten. In Belo Horizonte und Recife fiel die Entscheidung jedoch bereits im ersten Wahlgang zugunsten der PSB – auch dort jeweils mit Unterstützung der Gouverneure der Bundesstaaten. In allen drei Städten, aber auch insgesamt in Brasilien, konsolidiert sich die PSB, traditionell eine kleine, linke Partei ohne nennenswerte Massenbasis, heute als neo-sozialdemokratische Partei mit dünner linker Patina. Ihre wichtigsten Funktionär_innen besitzen kaum Bezüge zu Organisationen der Zivilgesellschaft und Gewerkschaften sowie einen ausgeprägt entwicklungstechnokratischen Politikentwurf und Politikstil. Die Partei wird kontrolliert von einer neuen Generation von Berufspolitiker_innen, für deren Karriereweg der junge, zukünftige Bürgermeister von Fortaleza beispielhaft steht.
Diese modernisierte Version traditioneller brasilianischer Politik traf in Fortaleza auf den wohl markantesten Versuch, linke, sozialistisch und feministisch inspirierte Politik in einer der ärmsten Metropolen Brasiliens umzusetzen. Die PT-Bürgermeisterin Luiziane Lins wurde vor acht Jahren als jüngste Politikerin und einzige Frau, damals sogar gegen den Willen der nationalen Führung der eigenen Partei PT gewählt; die PT hatte damals aus wahltaktischen Gründen auf andere Allianzen gesetzt. Lins gehört dem PT-Flügel Democracia Socialista an und hat gezielt Politik für Frauen gemacht und Frauen in Entscheidungspositionen der Präfektur geholt. Sie hat innovative Jugend- und Kulturpolitik auch in der Peripherie mit internationalen Jugendfestivals oder in Jugendzentren mit neuen, kreativen Angeboten umgesetzt. Zu ihrer Programmatik gehörten auch Respekt für die Vielfalt von persönlichen Lebensformen, das Ende rassistischer Diskriminierung und die Förderung von Internationalismus durch Kooperation mit Städten in Europa und Afrika.
Die Politik der PT-Bürgermeisterin, für die in vielen Bereichen auch Mitarbeiter_innen aus den sozialen Bewegungen gewonnen wurden, führte zu Widerständen der entmachteten Repräsentant_innen traditioneller Politik und konservativer Gruppen, auch in den Medien. Dadurch, aber auch durch fehlende Erfahrung in der Verwaltung und im Projektmanagement, konnten viele positive Ansätze und Projekte nicht, nur teilweise oder erst sehr spät umgesetzt werden. Die gleichzeitig etwas nachlässige Beachtung des politischen Marketings „Tu das Richtige und sprich darüber“ resultierte in deutlichen Abnutzungserscheinungen und einer negativen Resonanz in Meinungsumfragen.
So schien in Fortaleza ein Machtwechsel möglich, und die PSB, die bis dahin Partner der Präfektur gewesen war, ergriff diese Möglichkeit. Sie verabschiedete sich aus dem kommunalen Bündnis (in der Regierung des Bundesstaates und auf nationaler Ebene arbeitet man weiter zusammen) und stellte einen eigenen Kandidaten auf. Genauso machte es die kommunistische PCdoB, die im zweiten Wahlgang dann die PSB unterstützte. Die sozialistische PSOL, die in der ersten Amtszeit von Luiziane Lins in der Präfektur mitgearbeitet hatten, positionierte ebenfalls einen Gegenkandidaten und empfahlen im zweiten Wahlgang die Abgabe einer Nullstimme, was möglicherweise mitentscheidend für den Wahlausgang war.
Im zweiten Wahlgang standen sich dann die Kandidaten PT und PSB gegenüber. Es war sicher das Interesse am „Projekt Fortaleza“, dass Elmano de Freitas in diesem Lagerwahlkampf „reich gegen arm“ von so unterschiedlichen Politik-Ikonen wie João Pedro Stedile von der Landlosenbewegung MST, Marina Silva (nachhaltiges Entwicklungsmodell) Leonardo Boff („Eine andere Welt ist möglich“) öffentlich unterstützt wurde, obwohl alle drei das nationale Projekt der PT skeptisch sehen. Trotzdem reichte es aber nicht für einen Wahlsieg gegen die breite von den Democratas bis zur PCdoB reichende Koalition der Interessen, die unter dem unverdächtigen Motto „Fortaleza, es ist Zeit für Erneuerung“ für die Restauration bereits bekannter Verhältnisse angetreten war.
Letztlich ist das Wahlergebnis in Fortaleza aber auch das Resultat einer Materialschlacht, in der Roberto Claudio als Kandidat der Opposition sicht- und hörbar wesentlich mehr Mittel einsetzte als der Kandidat der PT. In nahezu allen Stadtteilen der Peripherie mit einem hohen Anteil an niedrigen Einkommen hatte im ersten Wahlgang Elmano vorne gelegen. Doch in den letzten Tagen vor der Entscheidungswahl waren auch die Stadtviertel, die noch im ersten Wahlgang rot gefärbt waren, von überwältigenden Mengen gelb gekleideter Wahlhelfer und Wahlkampfmaterialien praktisch geflutet worden.
Im Gegensatz zum Wahlergebnis in Fortaleza ist der Ausgang der Kommunalwahlen in São Paulo ein großer Erfolg für die PT. Fernando Haddad hat das Bürgermeister_innenamt und den drittgrößten Haushalt Brasiliens überraschend deutlich mit rund 55 Prozent der Stimmen und viel jugendlichem Elan gewonnen. Die politische Bedeutung dieser Wahl ist immens und von großer Bedeutung für die Präsidentschaftswahlen 2014. Haddad hat mit seinem Sieg gleichzeitig José Serra, den Dauerkonkurrenten der PT-Kandidaten in Stadt und Bund, auf das politische Altenteil und dessen Partei PSDB, trotz noch vorhandener großer Stimmenzahlen, in die allmähliche Bedeutungslosigkeit geschickt. Haddad ist damit zu einer der zentralen Figuren in der PT geworden, in der er bisher parteipolitisch keine wichtige Rolle spielte. Und sein politischer Ziehvater Lula da Silva hat wie bei der letzten Präsidentschaftswahl, seinen Instinkt für eine Erneuerung und, im Fall von Haddad, auch Verjüngung der PT bewiesen.
Neben São Paulo werden PT-Bürgermeister_innen auch in kleineren Landeshauptstädten wie João Pessoa im nordostbrasilianischen Bundesstaat Paraíba, Rio Branco im amazonischen Acre und Goiânia im zentralbrasilianischen Goiás regieren.
Die PSB hat ihre Position in der Koalition auf Bundesebene derweil gestärkt. Rui Falcão, Parteichef der PT, sprach in seinem ersten Interview nach den Wahlen nur über den Gesamterfolg und bagatellisierte die Wahlerfolge der PSB als legitime Auseinandersetzung unter Verbündeten nach dem Motto „alle wollen wachsen“.
Insgesamt zeigt sich für die Wahlen in den Metropolen, dass sich die Machtverhältnisse deutlich verschoben haben. Die PT, die vor dieser Wahl mit Fortaleza und Recife in zwei Metropolen des Nordostens seit vielen Jahren regierte und in Salvador als chancenreicher Anwärter auf die Präfektur galt, hat alle drei Städte verloren. Interne Querelen und Abnutzungserscheinungen trugen dazu bei. In Salvador konnten auch Veranstaltungen mit Dilma Rousseff und Lula da Silva, den Wahlsieg von ACM Neto, Erbe einer erzkonservativen Politdynastie, nicht verhindern. Die weiter hohe Popularität von Ex-Präsident Lula da Silva und der derzeitigen Präsidentin Dilma Rousseff, die als Garanten wichtiger Programme der Armutsbekämpfung und sozialer Veränderungen gelten, scheint im Alltagsgeschäft an Gewicht zu verlieren. Die PSB, Hauptnutznießer dieser Veränderung, wird für die Zukunft neue Perspektiven überdenken und Ansprüche auch national stellen.
Zu den Erfolgen der PT gehört, dass sie jetzt die Partei mit den meisten Gemeinderatsvertreter_innen in den Hauptstädten der Bundesstaaten ist, auch wenn sie auf nationaler Ebene eine geringere Anzahl von Bürgermeister_innen als PMDB und PSDB gewonnen hat. Die PSOL hat mit 2.388.385 Stimmen das elftbeste Ergebnis erzielt und damit die grüne Partei PV wie auch die kommunistische PCdoB eindeutig übertroffen. PMDB, PSDB, PDT sowie die PV, vor allem aber DEM mussten zum Teil dramatische Verluste hinnehmen.
Wichtig für diese Kommunalwahlen war auch der „Mensalão“ – Prozess, der sich fast über die gesamte Dauer des Wahlkampfs vor dem Verfassungsgericht mit extrem hoher Medienpräsenz und starker Polemik hinzog. Sicher hat er seine Spuren im Wählerverhalten hinterlassen und die Ergebnisse der PT nicht positiv beeinflusst. Auffällig ist die vergleichsweise hohe Zahl an Enthaltungen bei bestehender Wahlpflicht sowie der ungültigen und Nullstimmen. In São Paulo belief sich die Enthaltung auf knapp 20 Prozent in der Stichwahl, der höchste Wert seit 1988. In Fortaleza wählten 16 Prozent der Wahlberechtigten nicht und es gab rund neun Prozent ungültige oder Nullstimmen. Das Bundeswahlgericht äußerte seine Sorge über die hohe Wahlenthaltung.
Auch wenn sich mit dieser Wahl etliche Verschiebungen und neue Tendenzen im politischen Machtgefüge zeigen, eines hat sich in Brasilien nicht verändert: Das letzte Kapitel der aktuellen Telenovela „Avenida Brasil“, ein Straßenfeger von Rede Globo, interessierte die Wahlbürger mehr als die geplanten Wahlveranstaltungen. Gut eine Woche vor der Stichwahl kam es deshalb zu zahlreichen Terminverschiebungen und dem Einsatz von Zusatzleinwänden, um den Politstars und ihren Spindoctors peinliche Leere zu ersparen…

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