Mexiko | Nummer 393 - März 2007

Im Schatten von Oaxaca

Die Andere Kampagne ist für die Zapatistas zu einer Herausforderung geworden

Es ist still geworden um die zapatistische Bewegung in Mexiko. Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen in den vergangenen Monaten die Skandale bei den Präsidentschaftswahlen und die Aufstände in Atenco und Oaxaca. Wenig beachtet von der Öffentlichkeit bauen die Zapatistas an ihrem Projekt der Anderen Kampagne – und üben sich in Solidarität mit den Protestierenden in Oaxaca. Ein Bericht von zwei Menschenrechtsbeobachtern aus der Zona Norte in Chiapas.

Antoine Vergne, Marius Haberland

Es ist früh am Morgen. Wir sitzen zusammen mit einigen Zapatistas aus der Gemeinde Roberto Barrios auf der Ladefläche eines Pick-up. An einer Kreuzung, die sich später als Kreuzung zwischen den Bundesstraßen zehn und 307 herausstellen wird, machen wir plötzlich Halt. Ein lauter Pfiff durchbricht die Stille und 200 vermummte indígenas springen aus zahlreichen Pick-ups, die am Straßenrand zusammen gekommen sind. Es ist der 1. November 2006, fünf Uhr morgens, und wir befinden uns im Osten des Bundesstaates Chiapas. An diesem Dìa de los muertos (Allerheiligen) gedenken die Zapatistas nicht nur ihrer Vorfahren, sondern auch der vier Toten der jüngsten Auseinandersetzungen in Oaxaca.
Innerhalb weniger Minuten werden zwei Bäume gefällt und Bretter mit Nägeln vorbereitet. Um 5.20 Uhr ist die Straßenkreuzung, eine der wichtigsten in der Region, blockiert. Die compañeros und compañeras teilen sich in vier Gruppen: eine positioniert sich auf der linken, eine auf der rechten Seite und eine in der Mitte. Die vierte Gruppe verschwindet im Wald und bald hören wir die Macheten arbeiten. Noch ein paar Minuten und jeder compañero und jede compañera erhält einen Holzstock. Währenddessen werden Transparente vorbereitet. Die Blockade beginnt. Von jetzt an wird die Straße im 45-Minuten-Takt blockiert und wieder geöffnet. „Das Ziel der Aktion ist die Information und nicht nur der Protest“, erklärt ein compañero. Die AutofahrerInnen bekommen Flyer mit Informationen über den Sinn und die Hintergründe der Aktion. Um 17 Uhr ertönt wieder ein Pfiff. Innerhalb von fünf Minuten wird die Straße geräumt. Alle Zapatistas steigen wieder in die Pick-ups und machen sich auf den Rückweg in ihre Gemeinden.

Verkehrte Welt

Die Blockade am ersten November ist eine Solidaritätsbekundung der Zapatistas für die Basisbewegung der streikenden LehrerInnen und AktivistInnen in Oaxaca. So heißt es im comunicado, das drei Tage zuvor von den Zapatistas herausgegeben wurde: „Wir, die zapatistischen Männer und Frauen, werden nicht schweigen, sondern werden uns in Unterstützung der Brüder und Schwestern von Oaxaca organisieren“.
Zapatistas, die für die LehrerInnen im 1000 km entfernten Oaxaca auf die Straße gehen – klingt wie verkehrte Welt. Waren nicht bisher die Menschenrechtsverletzungen in Chiapas und die Repressionen der Regierung gegen die Zapatistas der Grund für Kundgebungen, Demonstrationen und Solidaritätskonzerte? Dies scheint sich nun umgekehrt zu haben. Seit die Zapatistas mit der Anderen Kampagne ihre Aktivitäten erweiterten, suchen sie ein Bündnis mit Basisbewegungen, Arbeitervereinigungen, Indígena-Gruppen, und anderen von „unten und links“. Im April vergangenen Jahres reagierten die Zapatistas auf die Erstürmung des von den Blumenverkäufern besetzt gehaltenen San Salvador Atenco mit der Ausrufung des roten Alarms. Das gemeinsame Ziel der otra campaña, einer Art neuen sozialen Bewegung in Mexiko, ist die grundlegende politische Umgestaltung Mexikos. Seit Mitte 2005 reiste dafür Marcos, Sprecher der Zapatistas, durch Mexiko.
Im Laufe des vergangenen Jahres hat sich der Fokus der nationalen und internationalen Aufmerksamkeit zunehmend von Chiapas weg verlagert. Während die Zapatistas im Rahmen der Anderen Kampagne durchs Land zogen, zuhörten, erzählten und vernetzten, überschlugen sich an anderer Stelle die Ereignisse: Im Mai schlug die Polizei die Proteste der Blumenverkäufer in Atenco blutig nieder. Nach den Präsidentschaftswahlen ließen sich aufgrund des Vorwurfs des Wahlbetrugs sowohl der Sieger Calderón als auch der unterlegene López Obrador zum Präsidenten küren. Und im Oktober 2006 führte der Streik der LehrerInnen in Oaxaca zu einem Aufstand, auf den die Regierung mit brutaler Repression antwortete.

Der Rote Alarm

Für die Zapatistas eine Gelegenheit, zu zeigen, dass sie es mit dem Anliegen, lokale Basisgruppen in ganz Mexiko zu unterstützen, ernst meinen. Als Reaktion auf die gewaltsame Räumung der BlumenverkäuferInnen in Atenco verhängten die Zapatistas den roten Alarm. Die so genannten caracoles (Bezirksrathäuser) wurden geschlossen und viele Solidaritätsgruppen verließen Chiapas. Hinter vorgehaltener Hand kritisieren Mitglieder der junta de buen gobierno (Rat der guten Regierung) diesen Schritt: Seit neun Monaten fehle zunehmend die Unterstützung aus dem Ausland. Die verbliebenen internationalen BeobachterInnen bestätigen dies. „Roberto Barrios braucht dringend Menschenrechtsbeobachter“, sagt Nico, ein Aktivist aus Frankreich. „Seit einigen Monaten wird dort ein Dorf bedroht. Und kaum jemand ist vor Ort.“
Die Andere Kampagne soll die Verbindung zwischen Innen und Außen, zwischen den Auswirkungen und den Ursachen der Unterdrückung herstellen. Aber Erfolge stellen sich nicht von Heute auf Morgen ein – und das frustriert die Basis. Seit der Rote Alarm ausgerufen wurde, erzählt uns ein compañero, fehlen die internationalen Solidaritätsgruppen, fehlen Medikamente, Schulmaterial, LehrerInnen. Großspurig hatten die Zapatistas verkündet, der Rote Alarm würde aufrecht erhalten, bis die Regierung die Forderungen nach Freilassung der Gefangenen und den Rückzug des Militärs aus Atenco erfülle.
Doch obwohl die Regierung keine Anstalten macht, den Forderungen nachzukommen, lässt sich der Rote Alarm ein halbes Jahr später in den Gemeinden nicht länger aufrecht erhalten. Ende Oktober wird das caracol in Oventic wieder eröffnet. Die Feierlichkeiten werden klein gehalten. Ein Kranz schmückt den Eingang der Junta. Die Wiedereröffnung ist der Notwendigkeit geschuldet. Zurück bleibt ein bitterer Beigeschmack. Die Unterstützungsbasis zumindest ist zufrieden, dass die Juntas wieder öffnen und Solidaritätsgruppen empfangen werden können.

Eine gespaltene Gemeinde

In Roberto Barrios befindet sich eines der fünf caracoles der zapatistischen Selbstverwaltung: „Die Schnecke, die für alle spricht.“ Dieser Spruch ist der erste, den wir sehen, als wir im Dorf ankommen. Er steht an einer Wand und zeigt die stark symbolische, ja surrealistische Dimension der zapatistischen Welt. Direkt daneben lesen wir auf einem Schild: „Sie sind auf zapatistischem Gebiet: Hier regiert das Volk und die Regierung gehorcht.“ Diese Sätze auf den Wänden des caracoles bringen in wenigen Worten die Welt der Zapatistas zum Ausdruck.
Am Tag nach unserer Ankunft werden wir zur autonomen Regierung der Zapatistas gerufen. „Wir, die Zapatistas, bedanken uns für Euren Besuch und heißen Euch willkommen auf zapatistischem Territorium“, begrüßt uns die mit einer schwarzen Skimütze vermummte Zapatistin. Wir sind beeindruckt und berührt vom Stolz und der Stärke, die von der autonomen Regierung ausgehen. Wenige Tage später sprechen wir mit einem diesmal unvermummten Mitglied der junta de buen gobierno. Beim Kaffee plaudern wir über die Bedrohung durch die Paramilitärs, das Leben im caracol und über die beste Strategie, die Ameisen im Haus los zu werden. Er erzählt uns, dass er aus einem Dorf kommt, viele Stunden Fußmarsch vom caracol entfernt. Seine Gemeinde hat ihn geschickt. „Ich bin gern hier“, sagt er, „auch wenn ich nun zu Hause mein Feld nicht bestellen kann“. Das übernehmen die compañeros für ihn, solange er unterwegs ist – meist drei Wochen, dann wechselt die Besetzung der junta.
Roberto Barrios ist eine gespaltene Gemeinde. Die eine Hälfte der EinwohnerInnen sind Zapatistas, die andere Hälfte gehören der PRI an – der ehemaligen Einheitspartei Mexikos. In der Vergangenheit gab es von Seiten der PRI-AnhängerInnen gewaltsame Ein­­­schüchterungsversuche, bis hin zu Mord. Uns wird abgeraten, ins Dorf zu gehen. Als wir erstaunt schauen, beschwichtigt er uns: „Nein, nicht alle sind gewaltsam, es gibt auch compañeros im Dorf.“ Die Zapatistas erkenne man daran, dass sie die internationalen MenschenrechtsbeobachterInnen freundlich grüßen, während die anderen stumm vorbei trotten.

Eine Blockade für Oaxaca

Über den Satelliten gestützten Internetzugang der Bibliothek in Roberto Barrios verfolgen wir die Ereignisse in Oaxaca. Der Bibliothekar scheint schon vor uns gewusst zu haben, was wir gerade erst lesen. Um die Protestierenden in Oaxaca zu unterstützen, rufen die Zapatistas alle Teile der Anderen Kampagne auf, am 1.November die wichtigsten Straßen in Mexiko zu blockieren. Er selber wird am Mittwoch nicht dabei sein können: „Jemand muss auf das caracol aufpassen“. Mehr erfahren wir nicht.
Spannung macht sich breit. Was wird an diesem 1.November passieren? Die Zapatistas mobilisieren in ihren Gemeinden für eine große Blockade – angesichts der Bedingungen in den Dörfern eine logistische Herausforderung. Viele Gemeinden können nur mit einem Tagesmarsch durch den Dschungel erreicht werden. Ihnen müssen die Informationen überbracht werden. Versammlungen werden einberufen. Wer kann mitkommen? Wer kümmert sich um die Felder? Wie wird der Transport zur Straße organisiert und wie finanziert? Auch wenn seit Beginn des Aufstands Einzelne die EZLN verlassen haben, ist die Solidarität der zapatistischen Basis ungebrochen. Die Zapatistas finden für ihr Ansinnen zahlreiche MitstreiterInnen.
Es ist jetzt 14 Uhr am Tag der Blockade. Die Lautsprecher eines Pick-ups verkünden krächzend die Statistik des Tages: 2.000 Zapatistas blockieren an 19 Stellen die Straßen. Chiapas ist lahm gelegt. Auch in anderen Bundesstaaten und in der Hauptstadt sind die UnterstützerInnen der otra campaña auf der Straße. Die compañera auf dem Pick-up verliest die Forderungen: die Polizei muss Oaxaca verlassen, alle politischen Gefangenen müssen frei gelassen werden.
Dass die Blockaden zur Umsetzung dieser Forderungen beitragen, glaubt kaum einer der Teilnehmenden. Die Mobilisierung im ganzen Land ist vor allem ein Zeichen der Präsenz. Und auch in dieser Hinsicht sind die Blockaden am 1.November nur ein halber Erfolg. Die Beteiligung der internationalen Zivilgesellschaft bleibt verhalten, in der Presse erreichen die Aktionen der Zapatistas nicht die Aufmerksamkeit, die ihnen lange Jahre sicher war. Haben die Zapatistas an Rückhalt verloren? Haben Sie sich isoliert?
Auf dem Intergalaktischen Treffen vom 31. Dezember 2006 bis 02. Januar 2007 immerhin zeigt sich, dass Chiapas für die internationalen Solidaritätsgruppen immer noch von Bedeutung ist: SympathisantInnen aus 132 Ländern kamen zum 13. Jahrestag des zapatistischen Aufstands nach Oventic. Das lässt viel erwarten für den zweiten Teil der Anderen Kampagne: die Reise der comandantes durch Mexiko.

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