Nummer 240 - Juni 1994 | Venezuela

Im Schmelztiegel der Reformen wird’s immer heißer

Drei Monate nach der Amtseinführung Calderas steht das Land vor der inneren Zerreißprobe

Venezuela steckt tief in der Krise. Einst eines der Musterländer Lateinamerikas, macht das Land seit einigen Jahren nur noch negative Schlagzeilen. Mit der Wahl des neuen Präsidenten Rafael Caldera (s. LN 235) hat der Parteienver­druß gesiegt. Jetzt stehen sich zwei Reformbewegungen gegenüber. Die eine setzt auf einen radikalen Schnitt im politischen System: Dezentralisation ist das Schlagwort, hinter dem sich die Ideen und Wünsche nach einem offeneren Staat versammeln. Die andere proklamiert den freien Markt: Privatisierung und Öffnung der Wirtschaft, auch für Investitionen von außen. Das macht vielen Angst. Die ökonomische Sicherheit jedes/r Einzelnen steht auf dem Spiel. Zwei Reformbewegungen, die wenig gemeinsam haben: eine gefährliche Mischung.

Fred Rosen (Originaltitel: The Temperature rises in the Crucible of Reforms NACLA März/April 1994) Übersetzt und bearbeitet von Frauke Steuber

Am 2. Februar sollte der neue Präsident von Venezuela, Rafael Caldera, sein Amt in aller Ruhe antreten. Der Monat zuvor war von spontanen Aufständen und Brandanschlägen in der alten Kolonial­stadt Barcelona, nah der karibischen Kü­ste, der anliegenden Stadt Puerto La Cruz und dutzenden kleinen Städten im Inneren des Landes geprägt. Der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte: die Erhö­hung der lokalen Bustarife. Auch der Ver­such der Händler vor Ort, die neu einge­führte 10 Prozent Mehrwertsteuer zu er­heben, wurde mit spontanen Demonstra­tionen im ganzen Land beantwortet. Ihr war nur ein kurzes Schicksal beschieden. Kurz nach den Unruhen wurde sie wieder aufgeho­ben. Die Bevölkerung, die schon einein­halb Jahrzehnte lang mit ständigen Einkommensverkürzungen leben mußte, rea­gierte mit Gewalt.

Gewalt hat massiv zugenommen

Venezuela befindet sich in einem kata­strophalen Zustand. Die Gewalt, die nicht immer nur politisch erklärt werden kann, eskaliert. Letzte Weihnachten wurden über 100 Morde in Caracas begangen, und an nahezu jedem Wochenende werden 20 bis 30 Caraqueños getötet. Zum einen las­sen sich die Morde mit der fehlenden Po­lizeipräsenz in den armen Stadtteilen be­gründen. Der Polizeichef Orlando Her­nandez führt sie jedoch auf die “sich in den Städten ausbreitende soziale Zerset­zung” zurück. Die “soziale Dekomposi­tion” hängt mit der Verschlechterung des Le­bensstandards zusammen. War 1978, zur Zeit des Ölbooms, ein Maximum des durchschnittlichen Realeinkommens er­reicht, so fallen die Einkommen seitdem ständig, und es wird immer schwerer für die große Mehrheit, den täglichen Kampf ums Nötigste zu gewinnen. Im Gegensatz dazu fällt die geradezu luxuriöse Lebens­weise einer Minderheit von Venezolane­rInnen auf, die zum großen Teil von den marktorientierten Reformen profitiert ha­ben. Der Unterschied zwischen Arm und Reich nimmt kontinuierlich zu, Resigna­tion und Frustration machen sich breit. Die soziale Struktur insgesamt ist zerris­sen.

Die Mehrwertsteuer hat vielen den Rest gegeben

Die Einführung der Mehrwertsteuer sowie die Erhöhung von Benzin- und somit Transportpreisen waren zwei grundle­gende Punkte des marktorientierten Re­formprogramms, dem paquete, der alten Regierung von Carlos Andrés Pérez. In­ternationale Kreditinstitute befürworten diese Form der Besteuerung, da sie leicht zu erheben ist und daher einen sicheren Weg darstellt, den Staatshaushalt aus­zugleichen. BefürworterInnen der Steuer behaupten, daß dem Haushalt 1994 mit dem Wegfall der Steuer ohne die Erhö­hung der innerländischen Preise für staat­lich produziertes Öl 2 Milliarden US-Dollar fehlen würden. Präsident Caldera betonte jedoch, gerade das riskieren zu wollen und das Loch im Haushalt durch eine progressive Steuerpolitik füllen zu wollen, wobei er die Erhebung einer Lu­xussteuer oder einer erhöhten Einkom­menssteuer vorschlägt. Mit dem Antritt der Mitte-Links-Koalition findet die Haushaltsdebatte demnach in einem Spannungsfeld zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen statt. Die Besitzlosen haben das durch die Unruhen deutlich gemacht, die Besitzenden, indem sie klar­stellten, auf ihrem Rücken werde es kei­nen Haushaltsausgleich geben.

Revolten, Putschversuche, Unruhen

Auseinandersetzungen verlagern sich mehr und mehr auf die Straße. Die mili­tanten Aufstände im Januar waren die lo­gische Folge der prekären sozialen und politischen Situation in Venezuela wäh­rend der letzten fünf Jahre. Die drama­tischsten Unruhen kennen die traumati­sierten EinwohnerInnen Venezuelas, der am längsten existierenden konstitutionel­len Demokratie Südamerikas, kurz und knapp als 27F, 4F und 27N. Mit 27F sind die spontanen Aufstände und Plünderun­gen gemeint, die ganz Venezuela am 27. Februar 1989 heimsuchten und eine Re­aktion auf die Erhöhung der Bustarife wa­ren, sowie auf die Ankündigung des da­maligen Präsidenten Carlos Andrés Pérez, die IWF-Maßnahmen zur Reduzierung des staatlichen Defizits seien akzeptiert. Die offiziellen Angaben sprachen von 276 Toten durch die Aufstände, nach inoffi­zielle Einschätzungen waren es über 1000.
4F und 27N. Synonyme für zwei er­folglose Putschversuche – die inten­tonas -, die von populistischen Offizie­ren mittle­ren Ranges am 4. Februar und 27. No­vember 1992 getragen wurden. Obgleich die Unruhen schnell von loyalen Offi­zierseinheiten zerschlagen wurden und die Putschisten im Gefängnis lande­ten, sind sich viele VenezolanerInnen ei­nig, daß die intentonas, besonders der am 4. Februar, zu einer Verlang­samung der neoliberalen Reformen führte. “Auch wenn der Um­sturzversuch im Fe­bruar scheiterte”, so der Ex-Indstriemini­ster Moises Naim, “mobilisierte er gleich­zeitig andere Indi­viduen und Gruppen, die bis­her wenig am politischen Prozeß betei­ligt waren, und kurz darauf befanden sich tra­ditionelle PolitikerInnen in der Defen­sive.” Also rückte das paquete und eben nicht der Putsch in den Mittelpunkt inten­siver De­batten. Viele VenezolanerInnen glauben, daß Pérez nicht wegen der Un­terschlagung von 17,2 Millionen US-Dollar im Mai 1993 angeklagt worden wäre, hätte man ihn nicht für das Leid, das durch seine ökonomischen Reformen her­vorgerufen wurde, verantwortlich ge­macht.

Erwartungshaltung macht Wan­del schwierig

Es gibt viele Erklärungen für die wirt­schaftliche Krise in Venezuela. Ob ihnen geglaubt wird, hängt von der sozialen Si­tuation und der ideologischen Empfäng­lichkeit der einzelnen ab: Mal ist es die Abhängigkeit vom Öl und die ständig fehlende Planung; mal die Auslandsschul­den; mal die Korruption und ein aufgebla­sener Staatsapperat; mal die Abhängigkeit von transnationalem Kapital; oder mal neoliberale exportorientierte Wirt­schaftsstrategien. Einige Erklärungen tref­fen nur auf Venezuela zu, andere gelten für viele Länder Lateinamerikas.
Erklärungen, die sich speziell auf Vene­zuela beziehen, kreisen meist um Vene­zuelas Abhängigkeit vom Öl oder darum, daß sich ein ganzes Land daran gewöhnt hat, vom Öl zu leben. Eine generelle Er­wartungshaltung hat sich breit gemacht, von der Arbeit und den Investitionen an­derer zu leben. Im alten “Modell des Zu­rücklehnens und Abwartens” war der zen­tralisierte Staat in Form von politischen Parteien dafür zuständig, den nationalen Besitz zu verteilen und industrielles Wachstum zu fördern. Dilemma dieser Politik: Die berechtigte und wichtige Er­wartung, der Staat habe sich um die Rechte der Armen zu kümmern, war ver­breitet. Aber: Diese Rechte wurden nur passiv wahrgenommen, ohne die aktive Beteiligung, die für eine demokratische Gemeinschaft von so entscheidender Be­deutung ist. Die Parteien dominierten das politische und soziale Leben, die zivile Gesellschaft entpuppte sich als schwach und einflußlos, und es setzte sich eine kundenorientierte Politik durch. Die Kritik des neoliberalen Ökonomen Ri­cardo Hausmann an dieser Form des Po­pulismus ist nicht unberechtigt: “Die Bür­ger for­derten vom Staat einen annehmba­ren Le­bensstandard, trugen aber selbst nichts dazu bei. Der Populismus führte zu An­sprüchen ohne Verpflichtun­gen, Umver­teilung ohne Beschränkung des Haus­halts.” Als die staatlichen Res­sourcen während der 80er Jahre knapper wurden, verloren die Parteien an Glaubwürdigkeit, da sie die von ihnen erwartete Funktion – nur das Gute zu brin­gen – nicht mehr er­füllen konnten.

Statistiken belegen: Die Armut explodiert

Venezuelas staatliches Amt für Statistic und Information (OCEI) berichtet, daß 1993 acht Millionen VenezolanerInnen, ca. 40 Prozent der Bevölkerung, in Armut lebten, davon 20 Prozent in extremer Ar­mut. Dem OCEI zufolge hat die Armut zugenommen, da für 1986 eine Armuts­rate von 34 Prozent angenommen wird. Viele Studien gehen jedoch von doppelt so hohen Zahlen aus, so zum Beispiel die des Nationalen Institutes für Medizin, das erst kürzlich von einer “kritischen” Ar­mutsrate von 40 Prozent sprach. Damit sind Menschen gemeint, die an ernstzu­nehmender Unterernährung leiden, dazu­zurechnen seien aber nochmal 40 Prozent, die in relativer Armut leben. Zwar gibt es verschiedenste Möglichkeiten, Armut zu definieren und zu messen, eines bleibt aber klar: die Zahlen steigen dramatisch.
Es wäre zu oberflächlich, die Armut nur als Folge von sinkenden Staatseinkünften zu betrachten. Ein Teil ist sicherlich durch die Ineffizienz eines korrupten Staatsappa­rats bedingt.

Aufgeblähte Bürokratie lähmt Bildung

Die Weltbank berichtet zum Beispiel, daß Venezuela zwar 20 Prozent des Staats­haushalts für Bildung verwendet, was einmalig für Südamerika ist, davon aber wiederum 70 Prozent in die Verwaltung fließen. Überfüllte staatliche Schulen sind symptomatisch für den bürokratisch auf­geblasenen und uneffizienten Staat. Re­sultate dieser Bildungspolitik: 11 Prozent SchulabbrecherInnen und im ersten Schuljahr eine WiederholerInnenrate von 28 Prozent.
Die Kinder, die in der Schule bleiben, ha­ben weniger Lehrer und nur bedingt Ar­beitsmaterial. Die Tageszeitung El Nacio­nal aus Caracas meldet, daß viele Lehrer die Schulen verlassen und versuchen, im wachsenden informellen Sektor unterzu­kommen. Der Rückgang von Pflegeperso­nal in den staatlichen Krankenhäusern ist auf ein ähnliches Phä­nomen zurückzufüh­ren. Im Bereich der privaten Kinderbe­treuung ist heute bei­spielsweise mehr zu verdienen als die durchschnittlich 170 US-Dollar pro Mo­nat, die ein Lehrer oder eine Kranken­schwester nach Hause trägt. Folgt man den konservativen Schätzungen, so arbei­ten ca. 2,6 Millionen Menschen, was 38 Prozent der arbeitenden Bevölkerung ent­spricht, im informellen Sektor, zwei Drittel davon im kommerziellen Sektor, was mei­stens dem Verkauf auf der Straße gleich­kommt. Zwar hat das paquete die Si­tuation verschärft, doch es gab schon zur Zeit des Amtsantritts von Pérez 1988 einen informellen Sektor, in dem 35,8 Prozent der venezolanischen ArbeiterIn­nen beschäftigt waren.

Zwei Reformideen im Clinch

Mitte der 80er Jahre stand fest, daß auf die ökonomische Krise des Landes mit neuen Ideen reagiert werden mußte. Zwei Re­formbewegungen, die sehr unterschiedli­che Ziele im Auge hatten, fanden Unter­stützung bei der Regierung: Die Dezen­tralisation des politischen Systems, die mehr Macht für die Bevölkerung vorsah, auf der einen Seite; auf der anderen die Privatisierung und Deregulierung der Wirtschaft, die die ökonomische Sicher­heit des Einzelnen beschneiden würde. Diese Kombination von Ansätzen war und ist gefährlich, da einerseits mehr Demo­kratie eingeführt werden soll, gleichzeitig aber soziale Rechte angetastet werden. Staatliche Planung und Korruption wurde von beiden Reformansätzen kritisiert. Keiner der beiden griff jedoch die Klas­senstruktur an.
Die 1984 gegründete “Präsidentiale Kommission für die Reform des Staates” (COPRE) förderte mit Erfolg die Refor­men, die die politische Kultur öffnen sollten; unter anderem wurde die Dezen­tralisation der Macht zugunsten der Ge­meinden, die Direktwahl von regionalen und lokalen Vertretern sowie von einigen Kongreßabgeordnetern beschlossen. Hiermit war mehr Partizipation möglich geworden, auch für Außenstehende, und der Graben zwischen ziviler und politi­scher Gesellschaft war überwunden.
Den anderen großen Vorstoß gegen die Krise stellte das neoliberale paquete dar, das offiziell “el gran viraje”- die große Wende bezeichnet wird und 1989 von der Regierung Carlos Andrés Pérez vorgestellt wurde. Es bestand die Hoff­nung, daß das paquete die Wirtschaft durch Öffnung, Privatisierung und Um­strukturierung sta­bilisieren könnte. Die Stabilität wurde an folgenden Kriterien gemessen: Stimmig­keit der Preise, Aus­gleich des Haushalts und die Autonomie der Geldinstitute.
Unter stimmigen Prei­sen wurden die Preise verstanden, die sich im Rahmen des Marktmechanismus (Prinzip Angebot-Nachfrage) einpendeln würden, wobei Kontrollen von Wechsel­kursen, Zinsraten und Preisen im privaten Sektor wegfallen sollten. Mit der Forde­rung nach Haus­haltsausgleich war die Re­duzierung öf­fentlicher Gelder, die Einfüh­rung der Mehrwertsteuer und auch die Er­höhung von Preisen im öffentlichen Dienstlei­stungssektor gemeint. Eine autonome Zentralbank sollte etabliert werden, frei vom Einfluß des parlamantarischen Sy­stems. Dahinter stand die Idee, die Geld­politik zu entpolitisieren, da­mit nötige aber unbeliebte Änderungen möglich würden, z.B. könnte die Inflation durch die Reduzierung der im Umlauf befinden­den Geldmenge gebremst werden und neues Vertrauen in die venezolani­sche Währung, den bolivar, entstehen. Im Großen und Ganzen stand ein Härte­programm bevor: Die arbeitende Bevölke­rung befürchtete, bei geringerer Kaufkraft mit weniger staatlichen Angeboten aus­kommen zu müssen.
Mit der Strukturreform sollte versucht werden, die Wirtschaft exportorientierter und kapitalfreundlicher zu gestalten. Da­her wurden Handelsgesetze gelockert, fi­nanzielle Märkte dereguliert, direkte Inve­stitionen freudig aufgenommen und ge­fördert und viele Staatsbetriebe privati­siert. Der Verzicht auf Wechselkurskon­trollen führte zu einem Verfall des bo­livar, die innere Kaufkraft wurde noch ge­ringer und der Exportsektor explodierte.

Für den sozialen Rand: Prinzip Hoffnung

Im paquete wurde die Subventionen abge­schafft, um sich statt dessen gezielter um marginalisierte Gruppen zu kümmern, was in der Praxis bedeutete, den sozialen Be­reich zugunsten religiöser Gruppen und Nicht-Regierungsorganisationen zu priva­tisieren.
Am stärksten wurde der Volkssektor von den Preissteigerungen getroffen. Da Ve­nezuelas privater Sektor eine oligopoli­sche Struktur aufweist, führte die Aufhe­bung der Preiskontrollen nicht zu Preisen, die der Markt steuerte, sondern zu wel­chen, die die Oligarchien vereinbarten. Ein markantes Beispiel: Die Preise für Medikamente: Sie stiegen in der Zeit zwi­schen 1989 und 1991 um 513 Prozent. Die Regierung Perez schaffte es nicht, politi­sche Strategien zu entwickeln, die die Armen vor den Folgen des paquete hätten schützen können bzw die Last ge­recht hätte verteilen können. Im Gegen­teil: Die Regierung nahm an, ökonomi­sches Wachstum werde automatisch zu sozialer Gerechtigkeit führen, die alte Idee aus den 50er Jahren vom trickle-down Ef­fekt. Da die meisten VenezolanerInnen schon mit ständig fallenden Löhnen zu kämpfen hatten, war schon die kleinste Preissteige­rung eine enorme Belastung, die den Kes­sel zum Überlaufen bringen konnte.

Nur eine kurze Durststrecke?

Die Verteidiger des paquete hatten immer betont, daß es eine kurze Durst­strecke ge­ben werde, die sich aber nach wenigen Jahren durch die Früchte des ökonomi­schen Wachstums auszahlen würde. Al­lerdings ist das ökonomische Wachstum nun auf bedrückende Weise zum Still­stand gekommen, was vielleicht auch mit den Unruhen der Bevölkerung zusam­menhängt. Nach 3 Jahren, in denen das Wirtschaftswachstum 8 Prozent betra­gen hatte – die höchste Wachstumsrate Latein­amerikas -, ging das BSP auf 2,2 Prozent zurück, das Haushaltsdefizit wuchs auf 1,9 Milliarden US-Dollar an und die In­flationsrate stieg auf 46 Prozent, der zweithöchste Wert in der Geschichte des Landes.
Das paquete scheiterte, da es die so­ziale Sicherheit zerstörte, die bei der Ein­führung von kapitalistischen Strukturen unbedingt vorhanden sein muß. Perez, der immer die Richtung der historischen Ent­wicklung einzuschätzen wußte, wollte sich zum Ende des 20. Jahrhunderts auf der Seite der GewinnerInnen wissen. In seiner Erklärung an die Weltgemeinschaft stellte er fest, daß “schmerzhafte Um­strukturierungen, die den freien Markt zum Ziel haben, sich auszahlen, und daß ein demokratisches Regime die unbelieb­ten Entsscheidungen, die die Wirtschafts­reform verlangt, fällen kann, ohne dadurch die Macht abgeben zu müssen.”
Aber wenn sich diese schmerzhaften Verände­rungen in einer demokratischen Umge­bung auszahlen sollen, so muß der Ein­druck entstehen können, daß das Leid ge­teilt wird und von wahrnehmbaren Verän­derungen begleitet ist. Falls die Mitte-Links-Koalition Rafael Calderas den Ka­pitalismus anders gestalten will als die Rechte, so sollte sie sich um ein so­ziales Netz bemühen und solidarisches Verhal­ten im täglichen Leben zum Grundprinzip machen. Der freie Markt in seiner Dynamik zerstört diese Solidarität. Das paquete mag technisch machbar ge­wesen sein, es übersah jedoch die soziale Komponente und ignorierte die Erwartun­gen der Bevölkerung sowie die Tatsache, daß es keinen politischen Kon­sens für das Programm gab.

Schlaues aus dem Norden

Ein weiterer Grund für das Scheitern des paquete war, daß der Umbruch in der So­wjetunion falsch interpretiert wurde. Mit dem Ende des Kalten Krieges ging man von dem unzweifelhaften Sieg des “freien Marktes” und des “demokratischen Sy­stems” aus, staatliche Intervention und jede Form autoritärer Staatsführung war verpönt. Diesem vereinfachten Schema folgend, fanden Deutschland, Thatchers England und Japan zur Macht, indem sie sich auf unabhängige private InvestorIn­nen stützen; demgegenüber verharrten Polen, Labor Partys England und Vene­zuela bei alten Konzepten einer ineffizi­enten, staatlich geführten Wirtschafsform. Nicht nur in Venezuela, sondern in ganz Lateinamerika wurden historische Erfah­rungen ignoriert, um, so Jorge Castañeda, “sich dem ideologischen Fieber der 90er Jahre hinzugeben.”
Die überbordernde Menge an Problemen hat zu überstürzten Lösungsversuchen ge­führt. So argumentiert der Ökonom Vik­tor Fijardo, daß das paquete proble­matisch war, weil es nicht für Venezuela, sondern für ein künstliches, stereotypes Staatsge­bilde entworfen wurde: Für ein Land, daß unabhängige, risikofreudige In­vestorInnen besitzt, wo der Markt nach dem Konkur­renzprinzip perfekt funktio­niert, und die Armen Verschlechterungen protestlos hinnehmen. Zwar gab es in je­dem latein­amerikanischen Land geson­derte Wider­sprüche, der ökonomische Kollaps in den 80er Jahren war jedoch ein kontinentaler Trend, der auf die Schul­denkrise zurück­zuführen ist. Die den gan­zen Kontinent betreffenden Gemeinsam­keiten legten eine Gesamtlösung für alle betroffenen Länder nah, die unter dem Namen “Konsens aus Washington” be­kannt ge­worden ist und die am Markt ori­entierte Anpassung der Wirtschaft der einzelnen Länder vorschlug. Der “Konsens aus Washington” – Strukturan­passung als All­heilmittel – kommt einem sehr allgemein gefaßten Plädoyer gleich, die lokalen Un­terschiede zwischen den Ländern werden kaum beachtet. Pérez’ Minister betonten zwar des öfteren die spezifischen Bedin­gungen Venezuelas, wandten dann aber doch die allgemeinen “Gesetze” an.

Caldera in der Zwickmühle

In dieser immer drastischer werdenden ökonomischen Situation wurde der Au­ßenstehende Rafael Caldera zum Präsi­denten gewählt, Causa R, die Arbeiter­partei, bekam 22 Prozent der Stimmen, und generell hatten DissidentInnen größe­ren Ein­fluß auf den Ausgang der Wahl. Im Wahl­kampf hatte sich Caldera auf die Seite de­rer gestellt, die das paquete ableh­nen, was ja schon deutlich wurde, als er es nach dem ersten Putschversuch in einer Fernsehansprache massiv kritisierte. Aber Anklage allein wird nicht ausreichen, Caldera muß seine Wahlversprechen ein­halten und eine fortschrittliche Alternative zur Mehrwertsteuer anbieten. Er muß einen Weg finden, wie Defizite ausgegli­chen werden können, ohne den Preis für Benzin – der unter den Produktionskosten liegt – sowie all das, was vom Öl abhängt, unbezahlbar zu machen. Zudem liegt es an ihm, Wachstum zu stimulieren, ohne da­bei die soziale Solidarität und den Schutz der Bevölkerung zu vergessen.
Mit den Umsetzungen der Reformen ist die Rolle des Staates, des privaten Kapi­tals und der lokalen Gemeinde wieder in Frage gestellt worden. In Venezuela, ei­nem Land, wo die große Mehrheit in Ar­mut lebt und Sozialismus nicht aktuell ist, werden momentan drei mögliche Optio­nen diskutiert: Von rechts nach links ge­sehen fordert die erste Fraktion ein neoli­berales Programm nach dem Vorbild Pi­nochets oder Fujimoris. Auf diese Posi­tion stößt man automatisch, wenn man sich auf Gespräche mit Leuten aus dem Bereich des Business einläßt. Die zweite Position favorisiert “Neoliberalismus mit men­schlichem Antlitz”, es wird von einem so­zialen Netz gesprochen, das die Armen auffangen soll, außerdem sollte die Not­wendigkeit marktorientierter Reformen den Armen besser vermittelt werden. Diese Position geht auf die beiden tradi­tionellen Parteien, AD und Copei, zurück. Beide Positionen brechen nicht mit der neoliberalen Logik, die besagt, daß eine Durststrecke unvermeidlich ist und die Last nicht von den Reichen getragen wer­den kann, da sonst die privaten Investitio­nen gefährdet wären. Folglich muß die Notwendigkeit der Durststrecke den Ar­men verständlich gemacht und von ihnen getragen werden.

Auf der Suche nach der kreativen, menschlichen Lösung

Als letztes bleibt der sozialdemokratische Vorschlag, der die Beteiligung der Armen nicht nur in Form eines Dialogs vorsieht, sondern die Interessen der Armen in dem Modell vertreten sehen möchte. Da ein aufrichtiges neoliberales Programm nur mit autoritären Methoden umgesetzt wer­den kann, in ähnlicher Weise, wie Pino­chet und Salinas Politik verstanden, so bleibt als einzige demokratische Alterna­tive ein Modell des “sozialen Kapitalis­mus”, oder auch der Sozialdemokratie. Die meisten sozialistischen und regime­kritischen Christdemokraten, die die Ko­alition um Caldera bilden, sowie deren Koalitionspartner Causa R vertreten diese Position. Vielleicht holt Caldera auch ei­nige Modelle aus einer ganz alten Kiste: Einbindung der Armen durch höhere Ein­kommen, die die Kaufkraft erhöhen und somit die Wirtschaft ankurbeln; Förderung des inländischen Marktes und die Protek­tion ausgewählter venezolanischer Fir­men. Auch Elemente des paquete sol­len herangezogen werden: Die Entwick­lung einer Mikroindustrie, ausgewählte Privati­sierung und die Öffnung des Marktes nach außen. Privates Kapital soll weiterhin den Motor der Wirtschaft bil­den, jedoch kon­trolliert von einem demo­kratischen, öf­fentlichen Sektor. Caldera glaubt, daß eine gerechtere Verteilung möglich ist, wenn das wirtschaftliche Wachstum dafür ge­nutzt wird, das Humankapital zu fördern, sprich im Bil­dungsbereich und Gesund­heitswesen eine Priorität zu setzen.
Im Gegensatz zu den Erfahrungen in an­deren lateinamerikanischen Ländern ha­ben die politischen Reformen eine ver­stärkte Demokratisierung in Venezuela bewirkt, insbesondere in der Zeit, in der die wirtschaftlichen Härtemaßnahmen eingeführt wurden. Die politischen Unru­hen sind eine Folge. Die aktive Teilnahme von Basisorganisationen, unabhängigen Vereinigungen und politischen Parteien, die nicht von Eliten kontrolliert werden, läßt die Hoffnung für eine demokratische, basisorientierte Lösung realistisch er­scheinen. Auf alle Fälle wird vieles von der Caldera-Koalition und Causa R ab­hängen. Die Mitte-Links-Koalition muß versuchen, kreative, menschliche Lösun­gen zu finden, um die akuten Probleme wie die Inflation und den Haushaltsaus­gleich bewältigen zu können, langfristig ist die Sicherung des wirtschaftlichen Wachstums unabdingbar. Das alte Para­digma des Systems, in dem der Staat für alles Sorge trägt, ist noch nicht vollständig überwunden. Es besteht die Chance, die momentane “Systemkrise” kreativ zu nut­zen, da durch die Dezentralisierung ein neuer Blick auf die Basis möglich wurde. Die Form des neuen politischen Systems wird entscheidenden Einfluß darauf ha­ben, wie Venezuela seine Krise überwin­den wird.

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