Nummer 503 - Mai 2016 | Zentralamerika

IMMER DIE GLEICHEN FEHLER

Die Gewaltspirale in Zentralamerika dreht sich weiter – und daran ist nicht nur der Drogenhandel schuld

Nirgendwo in der Welt sind die Gewaltraten so hoch wie in Zentralamerika. Als Grund dafür gilt die Schlüsselposition der Region für den Drogentransport in die USA. Die Ursachen für die scheinbar nicht endende Gewaltspirale sind allerdings vielfältiger.

Von Carlos A. Pérez Ricart, Übersetzung: Laura Haber
Foto: Markarinafotos (CC BY-NC-ND 2.0)
Foto: Markarinafotos (CC BY-NC-ND 2.0)

Die Zahlen sind erschreckend: Mit durchschnittlich 41 Morden pro 100.000 Einwohner*innen jährlich liegt die Mordrate in Zentralamerika doppelt so hoch wie in Zentralafrika und sieben Mal höher als in Südostasien. Vier der sechs Länder und drei der sechs Städte, in denen weltweit die meisten Gewalttaten verzeichnet werden, befinden sich in Zentralamerika. In San Pedro Sula, Honduras, erreichte die Mordrate 2015 pro 100.000 Einwohner*innen 141 Morde – und war damit viel höher als in Acapulco, Culiacán, Ciudad Juárez oder Tijuana, die in den Medien weitaus präsenter sind. Wie lassen sich diese Extreme erklären? Welche konkrete Rolle spielt dabei der Drogenhandel?
Durch seine geographische Lage erfüllt Zentral- amerika für den Drogenhandel die Funktion einer Brücke. Ein bedeutender Anteil des Kokains, das aus Kolumbien in die Vereinigten Staaten eingeführt wird, wird durch die zentralamerikanischen Staaten geschleust. Dabei hat diese Route durchaus ihre Tücken. So ist die Region Darién zwischen Kolumbien und Panama ein Streifen dicht bewachsenen Urwaldgebiets, das den Transport zu Lande behindert. Doch die Drogenhändler*innen haben Wege gefunden, indem sie ihr Gut auf kleinen Schiffen entlang der Nordküste Panamas und der Südküste Costa Ricas befördern. Weiter gelangt es dann über Landstraßen bis nach Guatemala. Von dort wiederum wird die Ware auf verschiedenen Wegen nach Nordmexiko gebracht, in den meisten Fällen über Straßen nahe des Pazifiks, um sie bis ans Ziel, auf den weltweit größten Drogenmarkt, zu schaffen: in die Vereinigten Staaten von Amerika.
Dass der Drogenhandel kriminelle Aktivitäten befördert, daran dürfte kaum jemand zweifeln. Der Mechanismus ist schnell erklärt: Da den Drogenhändler*innen keine legalen Mittel zur Konfliktlösung zur Verfügung stehen, greifen sie auf die Gewalt als Mittel zurück, um bei Konflikten untereinander eine Entscheidung herbeizuführen. Auf illegalen Märkten herrscht also deshalb stets mehr Gewalt als auf legalen, weil es weder Gesetze noch Richter*innen gibt – was natürlich nicht heißen soll, dass diese keinen Einfluss darauf ausüben, wie die illegalen Märlte in ihrer Produktions- und Handelslogik funktionieren. Dennoch ist die Verbindung zwischen Drogen und Gewalt komplex und weniger zwangsläufig, als es auf den ersten Blick scheint.
Am Fall Zentralamerikas ist zu sehen, dass sich das Gewaltausmaß nicht auf den Drogenhandel an sich, sondern auf die Stärke oder Schwäche des jeweiligen Staates zurückführen lässt. Zum Beispiel Nicaragua: Obwohl das Land beim Transport von Kokain in die USA eine Schlüsselrolle einnimmt, sind die Mordraten niedriger als in den Nachbarländern. Genauso verhält es sich mit Costa Rica, wo die aus Kolumbien angelieferten Drogen zum ersten Mal an Kontaktleute für den Weitertransport übergeben werden und gleichzeitig die Ziffern für Gewalttaten ähnlich niedrig sind wie in westeuropäischen Ländern.
Die Höhe der Einnahmen aus dem illegalen Drogenhandel kann die Zu- oder Abnahme von Gewalt nicht erklären. Die Menge produzierter und gehandelter Drogen ist zum Beispiel in Südostasien eben so hoch wie in Lateinamerika. Trotzdem verzeichnen Länder wie Thailand, Vietnam und Indonesien fünfmal niedrigere Mordraten als die Region Zentralamerika. Wie lässt sich das erklären? Mit der Stärke oder Schwäche staatlicher Strukturen und der Fähigkeit der jeweiligen Staaten dem Drogenhandel entgegenzutreten: Länder wie Guatemala oder El Salvador, die jahrzehntelang unter Bürgerkriegen zu leiden hatten, sind offensichtlich nicht in der Lage, den Drogenhandel effektiv zu bekämpfen. Immer wenn ihre Regierungen US-amerikanische „Finanzhilfen“ aus verschiedenen zwischenstaatlichen und staatenübergreifenden Programmen zur Bekämpfung des illegalen Drogenhandels erhalten, akzeptieren sie rundheraus die Strategien des sogenannten Drogenkriegs; nämlich mit Bestrafung und Verbot gegen den Drogenhandel und -konsum vorzugehen. Dadurch lösen sie einen Teufelskreis aus, der die staatlichen Strukturen nur noch weiter schwächt. Denn das Verbot des Drogenhandels ermöglicht ein parasitäres Beziehungsgeflecht zwischen dem Staat und kriminellen Gruppierungen. Der Drogenhandel dringt in die politischen Institutionen ein und bringt die demokratische Stabilität in Gefahr. Da die politischen Institutionen es nicht schaffen, die Einhaltung der Gesetze abzusichern, wächst das Misstrauen gegenüber den Sicherheitsbehörden. Das verringert wiederum die Legitimität der staatlichen Institutionen und macht das Regieren noch schwieriger.
Es wird eine Dynamik in Gang gesetzt, bei der die Staaten immer weniger Einfluss auf die Entwicklung der Gewaltkriminalität in der Region nehmen können. Ihre Politik funktioniert nicht mehr. Daneben werden andere Faktoren wichtiger: In El Salvador zum Beispiel reduzierte sich die Zahl von Gewalttaten von 2012 auf 2013 drastisch, nachdem sich die beiden wichtigsten kriminellen Banden, Mara Salavatrucha 13 und Mara 18, auf einen Waffenstillstand geeinigt hatten. Die salvadorianischen Institutionen  blieben bei der Aushandlung dieses neuen Gleichgewichts ausgeschlossen. Die Brückenfunktion Zentralamerikas hat sich im Drogenhandel seit den 1980er Jahren kaum verändert. Aber warum nimmt die Gewalt in Ländern wie Guatemala, Honduras und Mexiko noch weiter zu?
Als ihre Bürgerkriege zu Ende waren, verkleinerten Länder wie El Salvador und Guatemala ihre Armeen und Geheimdienste. Eine beträchtliche Anzahl ehemaliger Polizist*innen, Kämpfer*innen und Soldat*innen fanden jedoch keine anständig bezahlte Arbeit oder Aufnahme in eine der aufstrebenden politischen Parteien. Stattdessen versuchten sie sich im Drogenhandel. Der Überschuss an Waffen aus den Kriegen verschlimmerte die Situation umso mehr.
Eine weitere Konsequenz der Bürgerkriege waren die Kriegsflüchtlinge und Wirtschaftsmigrant*innen,
die sich Ende der achtziger Jahre in Richtung der Vereinigten Staaten auf den Weg machten. Unzureichende Integrationsprogramme, Armut und enttäuschte Erwartungen trieben tausende Jugendliche, die in den Großstädten der USA aufwuchsen, dazu, kriminelle Banden zu gründen, allen voran in Los Angeles. Konservative Politiker*innen forderten daraufhin strengere Gesetze für Migrant*innen oder Kinder von Migrant*innen mit

US-Staatsbürgerschaft. Schließlich begann die US-Regierung, tausende ehemalige Straffällige und Verdächtige in ihre Herkunftsländer zurückzuschicken.
Während über die „Hilfsprogramme“ weiterhin viele Millionen US-Dollar an die zentralamerikanischen Regierungen gezahlt wurden, um die Region zu „befrieden“, mussten zwischen 1998 und 2015 über 46.000 Jugendliche zwangsweise nach Zentralamerika – vor allem El Salvador, Guatemala und Honduras – zurückkehren und sprachen dabei weder gut Spanisch, noch hatten sie Verwandte, die sie hätten empfangen können. So gründeten viele von ihnen neue Banden. Eine weitere Absurdität dieser Situation offenbart sich, wenn man bedenkt, dass die zentralamerikanischen Regierungen weiterhin die US-amerikanischen Strategien zur Drogenbekämpfung anwenden, während in einigen Bundesstaaten der USA bestimmte Substanzen bereits legalisiert werden.
In Zentralamerika hingegen tobt der Kampf gegen die Drogenkartelle wie eh und je. Die Organisationsstrukturen der illegalen Drogenwirtschaft entwickeln sich derart, dass Maras und andere am Drogenhandel beteiligte Organisationen quasi arbeitsteilig agieren. In diesem Zusammenhang ist die Ausdehnung der mexikanischen Drogenkartelle auf Zentralamerika – neben den mangelnden Perspektiven für ehemalige Armeeangehörige und aus den USA zurückgeschickte junge Menschen – der dritte Faktor, der sich im letzten Jahrzehnt auf die Verbindung von Drogenhandel und Gewalt  ausgewirkt hat.
Der mexikanische „Drogenkrieg“ nahm im Dezember 2006 seinen Anfang. Während sich Mexiko militarisierte, sahen sich die wichtigsten mexikanischen Drogenbanden dazu veranlasst, sicherere Orte für ihre kriminellen Aktivitäten aufzusuchen. Immer mehr Methamphetamine und andere psychoaktive Substanzen werden seitdem in Zentralamerika hergestellt. In den guatemaltekischen Bergregionen und zum Teil in Belize wird Marihuana angepflanzt. Das führte nicht nur zu internen Kämpfen zwischen den Familien, die dort bislang den Drogentransport dominiert hatten, und den mexikanischen Drogenbanden, sondern – was noch wichtiger ist – auch dazu, dass Zentralamerika inzwischen außer einem Umschlagplatz auch eine Produktionsstätte für Drogen ist.
Die aktuelle Drogenpolitik ist nicht nur schädlich, weil sie indirekt die Gewalt fördert, die Rechte der Konsumierenden verletzt und Gelder verschlingt, die andernfalls in Gesundheits-, Präventions- und Bildungsprogramme fließen könnten; sie bringt darüber hinaus Schwierigkeiten beim Regieren mit sich, die über kurze oder lange Sicht die staatlichen Institutionen schwächen. Auch wenn illegale Märkte dazu tendieren, Gewaltdynamiken auszulösen, ist der Drogenmarkt an sich nicht von vornherein von Gewalt bestimmt: Es sind die schwachen Staaten, in denen sich die Bedingungen herausbilden, die zur vermehrten Gewalt im Drogenhandel führen. Das Drogenverbot schwächt die Institutionen und setzt einen Teufelskreis in Gang. Bei der Herausforderung ihn wieder anzuhalten, müssen die zentralamerikanischen Staaten letztlich aufhören, die „Drecksarbeit“ für die Vereinigten Staaten zu erledigen sowie die Konventionen der Vereinten Nationen zu missachten, und sich stattdessen auf ihre dringendsten Aufgaben konzentrieren: die Ungleichheit bekämpfen, die Gewalt mittels Präventionsprogrammen eindämmen und die Einhaltung der Menschenrechte garantieren.
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