Nummer 479 - Mai 2014 | Sport

In der Hand der Barras

Mafiöse Fangruppen beherrschen Argentiniens Fußball

Ultras – Fußballfans, für die ihr Verein der Hauptlebensinhalt ist – sind mittlerweile in vielen Ländern Teil der Fußballkultur. In Argentinien organisiert sich ein großer Teil von ihnen in den so genannten barras bravas (Wilde Horden), die gewalttätig und so einflussreich sind, wie nirgendwo sonst. Sie kontrollieren Teile des Ticketverkaufs und sind daneben oft im Drogenhandel und in der Schutzgelderpressung aktiv. Kein Funktionär oder Spieler kann sich ihnen offen verweigern. Die Politik stellt sich dem Problem nur halbherzig oder arbeitet sogar mit den barras bravas zusammen.

Martin Ling

No se venden entradas para este encuentro. Solo para socios de nuestro Club.“ („Wir verkaufen keine Eintrittskarten für dieses Spiel. Nur an Mitglieder unseres Vereins.“) Die Presseabteilung von Rosario Central ist auf Zack. Die Anfrage, ob ein Ticket für das nach dreijähriger Pause heiß ersehnte Stadtderby von Rosario käuflich zu erwerben sei, wird postwendend mit diesem Statement abgebügelt. Auch die Anfrage nach journalistischer Akkreditierung bleibt erfolglos. Grund: Die Akkreditierungsfrist für den Fußballklassiker zwischen dem gerade wieder aufgestiegenen Rosario Central und dem Titelverteidiger Newell‘s Old Boys sei abgelaufen. Pech, aber kein Zufall, denn Karten für Erstligaspiele gibt es in Argentinien seit Kurzem nur noch für Heimfans. Die Angst vor Ausschreitungen zwischen Fangruppen unterschiedlicher Vereine ist zu groß.
Auswärtsfans in Argentinien sind seit Beginn des torneo inicial (Hinrunde) im August 2013 war offiziell nicht mehr zugelassen. Damit wollen der Fußballverband AFA und die argentinische Regierung der weit verbreiteten Gewaltkultur rund um den Fußball Einhalt gebieten. „Auf diese Weise müssen wir wenige Polizisten einsetzen. Wir müssen die Auswärtsfans nicht mehr zum Stadion eskortieren, was sonst immer der Fall war. Vielleicht können wir so mehr auf andere Aspekte der Sicherheit und Organisation achten”, begründete Eduardo Villalba vom Fußball-Sicherheitskomitee diese Maßnahme. Schließlich hatte es im torneo final, der Rückrunde im ersten Halbjahr 2013, wieder einige Tote gegeben – wie eigentlich immer in den letzten Jahrzehnten.
Dass die Aussperrung von Gästefans durchschlagenden Erfolg haben wird oder auch nur durchgesetzt werden kann, darf bezweifelt werden. In Mendoza schafften es tausende Fans von Boca Juniors in neutraler Kleidung ins Stadion zu kommen, um sich dort ihrer Obertextilien bis auf das Trikot zu entledigen. Es blieb aber friedlich, ebenso wie beim genannten clásico rosarino zwischen Rosario Central und Newell´s im idyllisch am Rio Paraná gelegenen Stadion des Heimteams. Nach dem Spiel wurde freilich gemeldet, dass Gabriel Aguirre, ein 13-Jähriger Fan im schwarz-roten Newell’s Old Boys-Trikot von in gelb-blauen Central-Trikots gewandeten, mindestens siegestrunkenen Motorradfahrer_innen erschossen wurde. Laut der Organisation Salvemos al Futbol (Retten wir den Fußball), einer argentinischen Nichtregierungsorganisation, die sich 2006 gegründet hat, um aus der Zivilgesellschaft heraus mit friedlichen Mitteln die blutigen Ausschreitungen rund um den Fußball zu bekämpfen, war er das 279. Opfer fußballinduzierter Gewalt. Die Liste von Salvemos al Futbol beginnt 1922 und ist am 27. April 2014 bei Stand von 287 Todesopfern angelangt, wobei die Organisation keinen Anspruch auf Vollständigkeit reklamiert. Gabriel Aguirre war also nicht das letzte Opfer. Alleine seit Beginn der Gästefanaussperrung im vergangenen August gab es elf Opfer tödlicher Gewalt. Für diese bedarf es oft keines besonderen Anlasses. Es kann reichen zur falschen Zeit am falschen Ort das falsche Trikot zu tragen. Selbst in der Zeit ohne Fußball-Lokalderby wurden im Dezember 2013 in der, durch den Kokaintransithandel inzwischen waffenstrotzenden, Stadt Rosario zwei 34 und 39 Jahre alte Anhänger des Erstligisten Newell‘s Old Boys im Auto von einem mit einem T-Shirt von Rosario Central bekleideten Mann vom Motorrad aus erschossen. Zuvor soll es zu einem Streit zwischen dem Autofahrer und dem Täter gekommen sein. Allerdings können auch Ergebnisse von Spielen Einfluss auf tödliche Ausschreitungen haben. So ermordeten 1994 zwei barrabravas von Boca Juniors zwei Kontrahenten vom Erzrivalen River Plate, nachdem der vorangegangene superclásico zwischen den beiden populärsten Mannschaften Argentiniens 0:2 ausgegangen war. „Empatamos – Wir haben ausgeglichen“ lautete ihr lakonisch-zynischer Kommentar. Ganz normaler Fußballwahnsinn in Argentinien, wenngleich Mord die Spitze der Gewalt darstellt und nicht alltäglich ist.
Der Begriff barra brava ist neueren Datums und geht auf den Publizisten Amilcar Romero zurück, der ihn 1958 im Zusammenhang mit dem gewaltsamen Tod des River-Anhängers Alberto Linker erstmals benutzte. Der kam allerdings nicht durch gegnerische Anhänger sondern infolge eines Tränengaseinsatzes durch die Bereitschaftspolizei zu Tode. In besagtem Jahr entstand im Umfeld des Traditionsclubs Racing Club Buenos Aires, dem Lieblingsverein des ehemaligen Präsidenten Néstor Kirchner, mit La Guardia Imperial, die erste barra brava, die bis heute einflussreich ist. Seitdem bauten die „Wilden Horden“ ihre Macht aus. Romero, der die Gewaltkultur in seinem Standardwerk Muerte en la Cancha (Tod im Stadion) beleuchtet hat, beschreibt zweierlei Arten von Gewalt beim Fußball in Argentinien. Einmal die spektakuläre an Spieltagen, im Stadion, mit Flaggen, Gangs und Messern. Und dann die zweite Form zwischen den Spielen: Gewalt und Erpressungen, meist gegen Spieler. Aber auch hin und wieder gegen Vereinsfunktionär_innen, so sie nicht bereit sind, kostenlosem Einlass für die barras zuzustimmen, ihnen Ticketkontigente zum Weiterverkauf zur Verfügung zu stellen und Auswärtsfahrten zu finanzieren. In der Regel sind die Funktionär_innen aber willig. Ob und wie freiwillig ist dabei schwer auszumachen und wohl auch uneinheitlich. „Es gibt drei wichtige Faktoren beim Fußball: Gewalt, Informationen und Geld. Die barras bravas haben Gewalt und Informationen. Die Vorstände haben Geld“, beschrieb Romero gegenüber dem britischen Journalisten Simon Kuper den Zusammenhang. Wenn ein Spieler bei Vertragsverhandlungen zickt, bringen ihn nicht selten die barras auf Vorstandsgeheiß zur Einsicht. Sei es „nur“ mit der Drohung, pikante Informationen über seinen Lebenswandel zu veröffentlichen oder mit direkter Gewalt gegen des Spielers Eigentum, ihn selbst oder seine Familie.
Wer sich der Vettern- und Basenwirtschaft verweigert, bekommt gewaltige Probleme. Jorge Rinaldi, der Ende der 1980er Jahre bei Boca Juniors spielte, machte seine Erfahrung öffentlich. Er hatte einer Einladung zu einem Spieleressen durch La Doce (der zwölfte Spieler), die mächtigste barra brava des Vereins, nicht Folge geleistet. „Jedes Mal, wenn ich danach den Rasen betrat, wurde ich von den barras mit einer Flut von Verwünschungen begleitet. Es war als wäre ich einer der meistgehassten Feinde und nicht einer, der die Farben des Vereins verteidigt, den sie behaupten zu lieben.“ Rinaldi blieb nur der Vereinswechsel als Ausweg.
Der Boss von La Doce war lange Zeit Rafael Di Zeo. Er gab Autogramme, verkehrte in den hohen Kreisen der Stadt. Der amtierende Bürgermeister von Buenos Aires, Mauricio Macri, war von 1995 bis 2007 Präsident von Boca Juniors und gelangte so zu Bekanntheit, die ihm den Weg zur politischen Karriere ebnete. 2007 wurde di Zeo zu vier Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, weil er 1999 während eines Freundschaftsspiels verantwortlich für einen brutalen Angriff auf Fans des gegnerischen Clubs Chacarita Juniors war. Dank seiner guten Beziehungen mangelte es ihm im Gefängnis jedoch an nichts. Boca-Spieler schenkten ihm einen Plasma-Fernseher für seine Zelle, Vereinsrekordtorschütze Martín Palermo besuchte ihn im Knast.
Auch Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner steht nicht gerade im Ruf, trennscharf zwischen barrabravas und gewaltlosen, leidenschaftlichen Fans zu differenzieren. In der Diskussion um die Sicherheit rund um den Fußball äußerte sie 2012: „Ich möchte nicht von barrabravas sprechen, denn ich bin Tochter einer fanatischen Anhängerin, ich war Ehefrau eines fanatischen Racing-Fans und bin Mutter eines fanatischen Anhängers.“ Das schlägt sich auch in der Politik nieder: 2009 kaufte der staatseigene Sender TV Pública dem Fußballverband AFA die TV-Rechte für 110 Millionen Euro ab. Statt Pay-TV gibt es jetzt alles frei empfangbar, oft auf mehreren Kanälen gleichzeitig – an jedem Spieltag von Freitag bis Montag 900 Minuten lang, unterlegt mit politischer Werbung für den Kirchnerismo. Futbol para todos (Fußball für alle) sorgt auf alle Fälle für Pluspunkte bei der Bevölkerung.
Für eine andere Aktion gilt das weniger. Ein Jahr vor der Weltmeisterschaft in Südafrika wurden die Hinchadas Unidas Argentinas (Vereinte Fangruppen Argentiniens) gegründet. Die in der HUA zusammengeschlossenen barrabravas gaben als offizielles Ziel aus, genau das zu bekämpfen, was für viele ihrer Mitglieder bis vor kurzem noch ein einträgliches Geschäft war: die Gewalt in den Stadien. Da sie von Marcel Mallo, einem regierungsnahen Basispolitiker, angeführt wurden, vermuteten viele Argentinier_innen einen Deal: Unterstützung im Wahlkampf für die Kirchners gegen Freiflüge nach Südafrika. Doch dieser Schuss ging für die barrabravas nach hinten los: Dort angelangt, wurde ein Teil von ihnen als karteigeführte Gewalttäter direkt im nächsten Flugzeug nach Argentinien zurückgeschickt – darunter einer, der wegen versuchten Mordes auf Bewährung war. Die Regierung selbst stellt eine Zusammenarbeit in diesem Fall und generell jede Art von Deals mit der HUA in Abrede. Mallo steht allerdings inzwischen in der zweiten Reihe, die repräsentative Spitze der HUA hat nun eine Frau übernommen, die Anwältin Débora Hamba.
Die Frau an der Spitze von Salvemos al Futbol füllt ihr Mandat dagegen nicht nur repräsentativ aus. Mónica Nizzardo, die die Organisation gegründet hat, forderte die Fans auf, Fälle von Gewalt und Korruption anzuzeigen. So, wie sie es selbst in ihrer Zeit als Pressesprecherin bei einem Drittligisten einmal getan hat – und ohnmächtig mit ansehen musste, wie die Polizei nichts unternahm. Danach beschloss sie 2006, die Organisation zu gründen. Ende 2012 zog sie sich frustriert zurück. Die Organisation ficht mit Liliana Marta Suárez an der Spitze weiter: In der argentinischen Gemengelage ein Kampf, der jede Anerkennung verdient.

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