Nachruf | Nummer 418 - April 2009

In der Höhle des Löwen

Erinnerungen an die uruguayische Tupamara Yessie Macchi

Im Februar dieses Jahres starb Yessie Macchi. Sowohl als Mitglied der Stadtguerilla Tupamaros als auch als Aktivistin nach der Rückkehr zur Demokratie kämpfte sie Zeit ihres Lebens für eine gerechtere Gesellschaft. Allem voran trat sie für die Rechte der Frauen ein. Zum Tode einer außergewöhnlichen und rebellischen Frau.

Theo Bruns, Angela Habersetzer

Eines Nachts begaben sie sich in die „Höhle des Löwen“. Ein Kommando der uruguayischen Stadtguerilla MLN-Tupamaros überfiel am 30. Mai 1970 kurz nach Mitternacht das Ausbildungszentrum der Marine CIM im Hafenviertel von Montevideo. Ohne dass ein einziger Schuss fiel, gelang es ihnen, die Kaserne einzunehmen und die anwesenden Soldaten zu überwältigen. Die halbe Nacht über verluden sie die Beute – mehrere hundert Gewehre und eine große Anzahl weiterer Waffen – in Lastwagen. Zum Abschluss der Aktion hissten sie am frühen Morgen am Fahnenmast der Kaserne die Flagge der Befreiungsbewegung MLN. Unter den zwanzig Männern und zwei Frauen befand sich auch Yessie Macchi.
Macchi wurde am 14. Juli 1946 als Spross einer uruguayischen Offiziersfamilie geboren. Mit 14 Jahren zog sie von zu Hause aus und stürzte sich ins Leben. Sie betrieb einen Kult des Risikos, raste über rote Ampeln. „Die Angst kam erst danach“, sagte sie später. Ihr selbstbewusstes, offensives Auftreten als Frau war in der konservativen Gesellschaft Uruguays eine Provokation. Als geschminkte und modisch gekleidete Sekretärin verstieß sie aber auch gegen den Kleidungskodex der Linken. „Ich werde die Revolution nicht in Jeans, sondern im Minirock machen“, verkündete sie.
Yessie Macchi politisierte sich zunehmend. Innerhalb kurzer Zeit durchlief sie mehrere politische Organisationen, von der Kommunistischen Jugend bis zum maoistischen MIR. Schon bald langweilten sie die sterilen ideologischen Grabenkämpfe. Sie suchte eine praktische Antwort. Über einen Genossen bekam sie Kontakt zur MLN, der entstehenden Stadtguerilla. Tagsüber Sekretärin einer multinationalen Firma, verwandelte sie sich nachts in eine Militante der MLN.
Ab 1967 wurde das Land zunehmend militarisiert und der neue Präsident Jorge Pacheco begann mit Notstandsdekreten zu regieren. Die Tupamaros gingen von Propagandaaktionen zu einer neuen Etappe des Kampfes über. Im Oktober 1969 führten die „Tupas“ ihre bis dahin spektakulärste Aktion durch: Als Trauerzug getarnt besetzten sie die Stadt Pando. Obwohl die Aktion militärisch in einem Fiasko endete – auf dem Rückzug wurden drei Genossen erschossen und weitere verhaftet – machte sie die Tupamaros mit einem Schlag weltweit bekannt.
Yessie Macchi war an der Vorbereitung der Aktion beteiligt, wurde aber wenige Tage vor der Durchführung verhaftet. Im Frauengefängnis Cabildo wurde sie anschließend von Nonnen bewacht. Doch schon nach kurzer Zeit gelang ihr mit zwölf weiteren Tupamaras während der Messe die Flucht aus der Gefängniskapelle. Macchi schloss sich nun der Kolonne des Landesinnern an, die vom Gründer der Tupamaros, Raúl Sendic, geleitet wurde. Am 31. Januar 1971 wurde Yessie Macchi zum zweiten Mal verhaftet, wieder kam sie in das Gefängnis Cabildo, wo die Nonnen mittlerweile durch weniger gottesfürchtige Gefängniswärterinnen abgelöst worden waren. Und erneut gelang Yessie die Flucht. Am 30. Juli 1971 entkam sie zusammen mit 37 weiteren Frauen durch einen Tunnel und weiter durch die Kloaken der Stadt. Nach ihrem erneuten Gefängnisausbruch war Macchi endgültig zu einer der meist gesuchten Frauen Uruguays geworden.
Im Februar 1972 lernte Yessie den Mann kennen, den sie später als die „Liebe ihres Lebens“ bezeichnete: Leonel Martínez Platero. Trotz aller Widrigkeiten des Lebens in der Illegalität beschlossen die beiden, ein Kind zu bekommen. Auch im Rückblick wird Yessie Macchi diese Phase der Klandestinität und des bewaffneten Kampfes als die glücklichste Zeit ihres Lebens bezeichnen, in der sie genau das tat, was sie für richtig hielt: Im Kollektiv leben und kämpfen, im Rahmen einer Organisation, der sie rückhaltlos vertraute.
Doch die Tupamaros unterschätzten den Gegner. Das Militär, dem mittlerweile die Bekämpfung der Guerilla übertragen worden war, und dem die MLN ihrerseits den Krieg erklärt hatte, zerschlug die Bewegung innerhalb weniger Monate – nicht zuletzt durch den systematischen Einsatz der Folter. Am 13. Juni 1972 geriet die Gruppe um Yessie Macchi in der Kleinstadt Parque de la Plata östlich von Montevideo in eine Konfrontation mit der Polizei. Leonel Platero wurde hinterrücks erschossen und Yessie schwer verletzt festgenommen. Nach der Verhaftung verlor sie ihr Kind aufgrund von gezielten Tritten in den Unterleib.
Sobald es ihr Zustand erlaubte, wurde sie aus dem Krankenhaus in eine Militärkaserne verschleppt. Es begann eine Zeit der Rotation durch verschiedene Kasernen des Landes – und der Folter, über die Yessie nie im Detail gesprochen hat. Von einem Militärgericht wurde sie zu über 40 Jahren Haft verurteilt und schließlich in das Frauengefängnis Punta de Rieles gebracht, wo sie ein stürmisches Wiedersehen mit ihren Genossinnen erlebte. Doch auch dies war nur ein kurzes Zwischenspiel. Ein Woche vor dem Putsch der Militärs am 27. Juni 1973 wurden neun Frauen, kurz darauf auch neun Männer, zu Geiseln des Staates erklärt, denen für den Fall einer weiteren Aktion der Tupamaros mit Erschießung gedroht wurde. Die Geiseln verbrachten die nächsten drei Jahre unter barbarischen Bedingungen in winzigen Verliesen in Militärkasernen. „Keine Woche verging ohne zwei bis vier Folterverhöre“, so Macchi.
Während der Geiselhaft in der Kaserne La Paloma im Stadtteil Cerro von Montevideo lernte Yessie den Mitgefangenen Mario Soto kennen, mit dem sie sich durch ein Loch in der Zellenwand verständigen konnte. Mit der Zeit entwickelte sich zwischen den beiden unter schwierigsten Verhältnissen eine „klandestine Romanze“. Trotz der unabsehbaren Folgen beschlossen die beiden, ein Kind zu zeugen. Dank der Solidarität eines Wachsoldaten gelang es ihnen, zwei- oder dreimal zusammen zu sein. Ihre Entscheidung war für Yessie ein Akt der Rebellion, eine Entscheidung für das Leben inmitten einer Atmosphäre des Todes. Doch das junge Paar wurde schnell wieder getrennt, Yessie in das Frauengefängnis Punta de Rieles zurück verlegt. Die gemeinsame Tochter Paloma wurde im Gefängnis geboren, aber nach wenigen Monaten von der Mutter getrennt und fortan von den Großeltern großgezogen.
Als nach langen Jahren am 1. März 1985 eine neu gewählte Zivilregierung die Militärs an der Macht ablöste, wurde ein Großteil der politischen Gefangenen freigelassen. Am 14. März 1985 öffneten sich schließlich auch für die letzten 63 politischen Gefangenen – unter ihnen Yessie Macchi – die Gefängnistore. Die ersten Tage und Wochen der Freiheit waren wie ein Rausch. „Dann kam die Zeit, die wir die Depression nach der Freilassung nennen.“ Die Wiedereingliederung in das Alltagsleben nach so vielen Jahren Gefängnis war für die frei gekommenen Frauen extrem schwer. „Freiheit heißt nicht, dass sie dir die Türen vom Knast aufmachen. Die Freiheit zu erlangen dauert viel länger“, erzählte Yessie Macchi später. Zeitweise konnte Yessie die Gespenster der Vergangenheit und die Zumutungen der Gegenwart nur mit Medikamenten und Alkohol ertragen. „Es war ein beständiger Kampf gegen die Selbstzerstörung.“
Nach ihrer Haftentlassung engagierte sich Yessie Macchi in verschiedenen sozialen und politischen Projekten. Ihr Interesse an der Frauenbewegung erwachte, in der MLN versuchte sie eine Frauenkommission zu etablieren und zu stärken. Es ging ihr um die Organisierung eines feministischen Raums. Sie thematisierte die Diskriminierung der lohnarbeitenden Frau, den Sexismus, die Gewalt in der Familie, das Recht auf Abtreibung.
Einen ersten Job fand sie bei einem Hilfswerk, das sich um entlassene Gefangene und RückkehrerInnen aus dem Exil kümmerte. Danach arbeitete sie als Hörfunkjournalistin für das Radio CX 44 Panamericana, das 1988 von den Tupamaros, die sich mittlerweile als legale politische Bewegung neu konstituiert hatten, übernommen worden war. Yessie war hier für das Programm „Vamos Mujer“ zuständig. Yessie Macchi war darüber hinaus Gründungsmitglied der Organisation Freundinnen der Alternativen Kommunikation ACA und der linken Nachrichtenagentur COMCOSUR, für die sie bis zu ihrem Tod das Programm Comcosur Mujer betreute.
Ab den 1990er Jahren entwickelte sie darüber hinaus ein intensives Verhältnis zur Linken in Deutschland. Sie war häufig zu Besuch, um die Erfahrungen der Tupamaros zu vermitteln und einen politischen Austausch über die Kontinente hinweg zu etablieren. Aus ihren vielfältigen Kontakten und Freundschaften entstanden unter anderem der Film Und plötzlich sahen wir den Himmel (1997), der zahlreiche Interviews mit ehemaligen Gefangenen und sozialen Kämpferinnen in Uruguay und Deutschland vereint, sowie der Interviewband Aber wir haben immer auf das Leben gesetzt (1998).
Mit den Jahren wuchs ihre politische Distanz zur MLN-Tupamaros, die ab 2004 als stärkste Fraktion innerhalb der Frente Amplio an der Regierung beteiligt war. Sie wählte den Weg der Rückbesinnung auf die sozialen Kämpfe und Probleme, insbesondere die der Frauen. Den Mund halten wollte und konnte Yessie Macchi nie. Sie war in jeder Hinsicht eine antiautoritäre, durch und durch rebellische Frau. Sie verkörperte die „andere“ Geschichte der Tupamaros, die der Frauen, die unabgegoltene, mit der „kein Staat zu machen“ ist. Als Freundin war sie solidarisch, humorvoll und zugewandt, aber auch aufbrausend, manchmal sarkastisch und für ihre Temperamentausbrüche gefürchtet. Oft ging mehr als Porzellan in die Brüche.
Weite Strecken ihres Lebens hat Yessie Macchi in der „Höhle des Löwen“ zugebracht. Rote Ampeln zu ignorieren war einer ihrer Wesenszüge. Am 3. Februar 2009 hörte ihr Herz in der Folge einer Krebserkrankung auf zu schlagen.
// Theo Bruns und Angela Habersetzer

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