Nummer 202 - April 1991 | Venezuela

In der “Musterdemokratie” zer­bröckeln die Illusionen

Der “Caracazo”, die gewaltsamen sozialen Unruhen vor zwei Jahren, haben nicht zu einer breiten Oppositionsbewegung geführt, Venezuela ist wieder “ruhig” geworden und taucht in den Medien kaum noch auf. Aber dennoch hat die fortschreitende Misere des südamerikanischen Öllandes auch den traditionellen so­zialen Konsens in Venezuela erschüttert. Das Vertrauen in den Staat und die Po­litiker ist dahin. Dagegen wachsen in der Stadtteilbewegung Ansätze einer Orga­nisation “von unten”.

Karola Block

Venezuela fällt aus dem lateinamerikanischen Rahmen: Die großen Erdölvorräte veränderten seit dem Beginn ihrer Ausbeutung in den 30er Jahren die politische und ökonomische Struktur des bis dahin armen Agrarstaates im Norden Südamerikas. Vorher war das Land in von einzelnen Caudillos regierte Regionen zersplittert, die Bevölkerung war abhängig von ihren jeweiligen Grundherren. Mit dem Öl folgte eine Phase der Diktaturen mit wenigen demokratischen Zwischenphasen. 1958 besiegelte der Pacto de Punto Fijo die bis heute gültige Partei­endemokratie, der viele einen Mustercharakter in Lateinamerika attestieren.
Dennoch kann von einer Musterdemokratie in Venezuela keine Rede sein. Der venezolanische Staat ist, vergleichbar mit anderen lateinamerikanischen Ländern, zutiefst populistisch-paternalistisch geprägt. Kurz vor den Wahlen werden in ei­nem finanziell und inhaltlich bizarren Wahlkampf plötzlich Straßen geteert oder Stromleitungen gelegt. Da erreicht die staatliche “Fürsorge” sogar die “Ranchos”, die Armenviertel von Caracas, in denen mehr als die Hälfte der rund sechs bis sieben Millionen Caraceños lebt.
Durch die hohen Öleinkommen war eine Rentenideologie, die auf Pump lebte und strukturelle Entwicklungsprobleme weitgehend ausblendete, bislang in hohem Maße konsensfähig und ohne große Konflikte möglich. Korruption und Pa­tronage im großen Stil prägen nicht nur die Regierungsgeschäfte und das Rechts­system, sondern sind auch im täglichen Leben maßgeblich. Doch nicht nur des­halb ist die öffentliche Meinung über Politiker, Regierung und Behörden auf dem Nullpunkt angelangt.
In den 70er Jahren konnte der Staat seinem paternalistischen Anspruch, für seine BürgerInnen “zu sorgen”, zumindest zeitweise gerecht werden, da der öffentliche Sektor durch die gerade vonstatten gegangene Nationalisierung des Erdöls und eine hohe Neuverschuldung noch über ausreichend Geld verfügte. Heute jedoch hat die permanente Erfahrung uneingelöster Versprechungen ein zunehmendes Mißtrauen gegenüber dem demokratischen System und den Politikern ausgelöst: “Prometen, pero no cumplen”, sie versprechen viel, aber halten’s nicht.
Zusätzlich führte die Tatsache, daß die Parteien und damit der Staat sich lediglich vor den Wahlen ernsthaft um die Wähler und ihre Probleme kümmern, ins­besondere in der letzten Zeit zu einem weitgehendem Vertrauensverlust in den Staat, zu Hoffnungslosigkeit und Resignation in den unteren sozialen Klassen. Immer weniger glauben sie daran, daß der Staat ihre Le­benssituation verbessern könne oder dies überhaupt ernsthaft wolle.

Konformismus, Aufsteigermentalität und Resignation liegen dicht beieinander

Gleichzeitig und vordergründig widersprüchlich beherrscht viele Menschen eine Art “Tellerwäschermentalität”, die jede Armut auf individuelles Versagen zurückführt, den Staat und die Gesellschaft von jeder Schuld freispricht und die Hoffnung auf den “großen Sprung nach oben” manifestiert. Man hofft, eines Tages dem Elend entrinnen zu können; wer dies nicht schafft, ist selber Schuld und hat seine Chance verpaßt. Auch das venezolanische Fernsehen läßt kaum eine Möglichkeit verstreichen, den Armen zu zeigen, wie unfähig sie sind, und ver­stärkt damit die gesellschaftliche Spaltung und Hierarchie nicht nur zwischen den Klassen, sondern auch innerhalb der marginalisierten Gruppen selbst.
Unter solchen Bedingungen liegen Konformismus, Aufsteigermentalität und Resignation dicht bei­einander. Ein “Klassenbewußtsein” ist in Venezuela kaum ver­breitet. Maßgeblichen Einfluß hatte in dieser Hinsicht die enge Anlehnung an die USA, auch über die Erdölgesellschaften und ihre Arbeiter (Trotzdem sind die “Gringos” in Venezuela, wie auf dem gesamten Subkontinent, äußerst unbeliebt).
Diese Mentalität trug mit dazu bei, daß soziale Bewegungen und Selbsthilfeinitiativen lange Zeit ein Schattendasein führten. Auch der zentralisierte Staat verhinderte bisher trotz der Wahlen und der Verankerung der Parteien eine echte Partizipation an den Entscheidungen. Neue Bemühungen um eine staatliche wie institutionelle Dezentralisierung könnten die Voraussetzungen für eine stärkere Bürgerbeteiligung schaffen; wohin sich die Reformen jedoch tatsächlich entwic­keln, ist momentan noch nicht absehbar.
Als die mit großen Hoffnungen gewählte Regierung von Carlos Andres Pérez in vorauseilenden Gehorsam gegenüber dem IWF im Februar 1989 harte wirtschaftliche Maßnahmen durchsetzte, waren gewaltige Unruhen und immense Plünderungen die Folge (vgl. LN Nr. 180). Sowohl das Militär als auch im Unter­grund in den Ranchos arbeitende Gruppen nutzten die Gelegenheit zu einer of­fenen Konfrontation, in deren Folge durch das brutale Vorgehen der Militärs – auch gegenüber Unbeteiligten – mehrere Hundert Menschen ermordet wurden. Nach wie vor gibt es zahlreiche Verschwundene und immer noch fast täglich To­desanzeigen in den Zeitungen von den Kämpfen.
Diese Ereignisse haben zwar nicht zu einer breiteren Opposition geführt, hatten aber dennoch Auswirkungen auf die poltische Kultur. Hand in Hand mit den sich verschlechternden ökonomischen Bedingungen der Mehrzahl der Bevölkerung, haben fast alle inzwischen den letzten Rest Vertrauen in den Staat und seine Akteure verloren. Die Menschen glauben an praktisch nichts mehr, was “von oben kommt”. Steigende politische Repression und die traumatischen Ge­schehen vom Frühjahr 1989 machen Angst und hemmen politische Aktivitäten.
Die zunehmende Aussichtslosigkeit der Hoffnung auf den “großen Sprung”, den sozialen Aufstieg, vor allem unter den Jugendlichen der städtischen Barrios, und der Vertrauensverlust in bezug auf die Politik begünstigt nun eine Entwicklung, die ihren eigentlichen Anfang einmal in der Mittelschicht nahm: die Stadtteilinitiativen (Asociaciónes de vecinos) oder auch Selbsthilfegruppen.
Sie sind eine Form von Bürgerinitiativen, die sich um alle Belange des eigenen Stadtviertels kümmern, vor allem jedoch um die von den zuständigen Behörden vernachlässigten Probleme. Einen unmittelbar an der Verbesserung der Lebens­bedingungen orientierten Ansatz haben die Vecino-Gruppen in den Barrios pobres, während die Gruppen der Mittelschicht zudem allgemeiner politisch und partei­enunabhängig wirken wollen. In Caracas sind die Wohnlagen klar getrennt: Die unteren Schichten wohnen ganz oben an den Hängen; je weiter unten die Woh­nung, desto besser gestellt sind die Leute.
Ein Hindernis der Stadtteilarbeit in den Barrios war vor allem deren heterogene Zusammensetzung, die immensen Einkommensunterschiede auch innerhalb der “Unterschicht”, und die daraus folgende Hierarchisierung. Diese erschwerte oft eine Solidarisierung, die ihrerseits jedoch Voraussetzung für eine erfolgreiche Arbeit ist.
Die staatliche Haltung den Gruppen gegenüber ist charakteristisch für das System Venezuelas: Zwar wurden die Vecino-Vereinigungen 1979 und verstärkt dann 1990 durch eine Gesetzesreform institutionalisiert, mit Rechten und Pflichten ausgestattet und 1988 sogar in die Stadt- und Gemeindeplanung miteinbezo­gen; doch werden ihre Aktivitäten vielfach nur solange begrüßt, wie sie propa­gandistisch ausgenutzt werden können. Ansonsten erfolgen die typischen Maß­nahmen, die übliche Hinhalte-Taktik, Versprechen und Nicht-Einhalten oder auch Einschüchterungsversuche. Manche Gemeinden jedoch versuchen auch, ernsthaft mit den Vecinos zusammenzuarbeiten.
Auch im Umweltbereich gibt es verstärkte Initiativen “von unten”, weil die Umweltsituation in Venezuela sich katastrophal darstellt und wenige staatliche Be­mühungen ernst zu nehmen sind. Ein Beispiel ist die Sociedad Conservacionista Aragua, die es in über 17 Jahren Arbeit geschafft hat, basisorientiert zu arbeiten, ohne sich etwa von den Parteien korrumpieren zu lassen – eine Gefahr, die bei allen Gruppen latent existiert und wodurch viele, auch der Vecino-Gruppen, ihre Glaubwürdigkeit und politische Energie verlieren.

Je weniger Funktionen der Staat noch erfüllt, desto wichtiger werden die Basis-Organisationen

Die Sociedad Conservacionista arbeitet im wichtigen Bereich Umwelterziehung direkt an den Schulen, mittels der Lokalzeitung und mit Hilfe ihrer Umweltbiblio­thek; daneben aber beispielsweise auch mit arbeitslosen Jugendlichen, die in der Feuerbrigade helfen, im naheliegenden Nationalpark während der Trockenzeit Brände zu löschen und in der Regenzeit bei der Aufforstung tätig sind. Die Zu­sammenarbeit mit anderen Umweltgruppen und der Versuch, auch die staatli­chen Institutionen für dieses Thema zu sensibilisieren, werden immer unerläßli­cher.
Diese zwei Bereiche – Asociaciones de vecinos und die Sociedad Conservacionista Aragua als ein Beispiel für Umweltorganisationen – zeigen, daß auch in einem Land mit traditionell wenig Basisorganisation wie Venezuela, diese umso wichtiger wird, je weniger der Staat solche Funktionen erfüllt.
Die Illusion seitens der Bevölkerung, einmal den großen Sprung in die reiche Gesellschaft schaffen zu können, die Wunschträume, der Staat sorge dann wenig­stens für diejenigen, die aus eigenem Versagen arm bleiben, und die Hoffnung der Politiker, die Widersprüche kapitalistischer Entwicklung mit Hilfe des Öl­reichtums umgehen zu können – alle diese während 30 Jahren Demo­kratie ge­pflegten Illusionen zerbröckeln langsam.
In Venezuela wird seit einigen Jahren immer deutlicher, daß bei sich verschlechternden ökonomischen und konfliktiver werdenden politischen Verhältnissen die Notwendigkeit, sich selbst zu organisieren, immer größer wird. Hierin liegen auch Chancen, die politische Kultur partizipativer und damit demokratischer zu gestalten. Inwieweit es gelingt, den äußerlich negativen Entwicklungen eine sol­che positive Wendung zu geben, hängt nicht zuletzt auch davon ab, ob der Staat ohne Eingreifen des Militärs die Freiräume läßt, daß die Menschen immer mehr Vertrauen in die eigene Kraft und die eigenen Erfolge entwickeln können.

Kasten:

Wir, die Gesellschaft für Umwelt- und Naturschutz in Venezuela (GUNV) sind ein 1990 gegründeter gemeinnütziger Verein, der sich bislang noch überwiegend aus StudentInnen der Geographie in Bonn zusammensetzt, was aber nicht so bleiben soll. Wir wollen vor allem zwei Hauptaufgaben erfüllen: Die finanzielle Unterstützung von Projekten im Bereich Umwelterziehung in Zusammenarbeit mit der Sociedad Conservacionista Aragua als einen Beitrag zur Verbesserung der Umwelt- und Lebensbedingungen dort. Schon seit längerem pflegen wir sehr enge Beziehungen zu dieser Organisation.
Der zweite Teil ist die Sensibilisierung von Menschen hier in bezug auf Umwelt- und Entwicklungsprobleme über eine möglichst breite Öffentlichkeitsarbeit, be­sonders zu dem in der “Entwicklungsszene” ziemlich vernachlässigten Vene­zuela. Für an diesem Land interessierte Leute wollen wir gerne Ansprechpartner sein, neue Mitglieder und Spenden würden wir sehr begrüßen!

Kontaktadresse: Hilde & Martin Selbach, Burbacher Str. 80, 5300 Bonn, Tel. 0228/231643 oder bei Autorin: 02222/63261;
Kontonummer: 251140 bei Sparkasse Bonn BLZ: 38050000.

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