Erinnerung | Nummer 363/364 - Sept./Okt. 2004

Jüdische Archetypen der argentinischen Katastrophe

Die Verarbeitung der Militärdiktatur in der argentinischen Literatur

Die Verwüstung der argentinischen Gesellschaft während der Militärdiktatur 1976-1983 verursachte eine epistemologische Krise, die alle traditionellen, konzeptuellen und künstlerischen Modelle, mit denen man sozio-historische Wirklichkeit darzustellen und zu verstehen gewohnt war, in Mitleidenschaft zog. Besonders im Bereich der Literatur löste diese Krise die Suche nach neuen Formen der literarischen Vermittlung einer Erfahrung aus, der mit dem Modell realistisch-mimetischer Darstellung des Geschehenen nicht mehr beizukommen war. Dabei spielte der Rückgriff auf die „jüdische Katastrophe“ und die Rezeption der Frage nach der Darstellbarkeit des Holocausts für die „Erzählung“ des Terrors für argentinische SchriftstellerInnen eine wichtige Rolle.

Florinda F. Goldberg

Darüber kann man nicht schreiben. Das ist eine zu frische und schmerzvolle Geschichte. Unverständlich. Unerzählbar. Von überall wird Hilfe geholt: vom schwarzen Humor, vom Sarkasmus, von der Groteske“, schreibt Luisa Valenzuela 1983 und trifft damit den literarischen Nerv der Zeit. Seit Mitte der siebziger Jahre appellierte die argentinische Erzählung an eine Nacherzählung mit neuer Prägung. Diese „neuen Strategien, um das Unbenennbare zu benennen” bestehen in „symbolischen Lösungen, der Sinngebung über Metaphern, Anspielungen, Euphemismen, indirekte Appellative”, so Fernando Reati in seinem Buch Nombrar lo innombrable. Violencia política y literatura argentina 1975-1985 (Das Unbenennbare benennen. Politische Gewalt und argentinische Literatur 1975-1985). Auf diese Weise würde versucht, die Krise der Repräsentation zu kommunizieren. Bevorzugte Medien waren dabei der Kriminalroman, der historisch-revisionistische Roman, die Satire; das Motiv der Suche, der Krankheit, des Exils, der irrationalen Gewalt und auch – die Parallelisierung mit der jüdischen Erfahrung.
Die Wahrnehmung einer gewissen Ähnlichkeit zwischen dem Holocaust und dem Staatsterrorismus hat sich in einen Teil des kollektiven Gedächtnisses Argentiniens verwandelt. Auf der einen Seite besaß der Nationalsozialismus als maximale Verkörperung des Bösen schon literarische Tradition, vom Deutschen Requiem (1945) von Jorge Luis Borges bis hin zu El campo (1967) von Griselda Gambaro und Abbadón el Exterminador (1974) von Ernesto Sábato. Dazu kam die Präsenz von Nazi-Rhetoriken und Nazi-Symbolen auf Seiten der Unterdrücker. Der argentinische Diskurs über die Diktatur hat auf diese Weise Begriffe wie “Konzentrationslager”, “Ghetto”, “Genozid”, “Endlösung” und sogar “Holocaust” aufgenommen.

Juden des Südens

Zweifellos liegt beiden historischen Prozessen ein Mechanismus der „Absonderung-Ausschließung-Zerstörung“ eines „Anderen” zugrunde, der als „interner Feind” betrachtet und vom „gesunden nationalen Körper“ eliminiert wird. Zudem verstand sich die Gemeinschaft der argentinischen Exilierten selbst als Diaspora – ein Begriff, der tief in der jüdischen Geschichte verankert ist. Daher das Gleichnis, mit dem Miguel Bonasso in seiner Novelle Recuerdo de la muerte (1988) die ArgentinierInnen definiert: „Juden des Südens, Hirten der Halluzinationen, ewige Gäste aus Stein aller Breitengrade. Die Diaspora scheint unser nationaler Unterschied zu sein, unser Markenzeichen.” Zu diesen Ähnlichkeiten wurde den imaginären ArgentinierInnen eine dritte, nicht weniger wichtige hinzugefügt: die Passivität der Bevölkerung gegenüber der Unterdrückung. So schreibt Reati: „Wenn der Holocaust Georg Steiner von einem Homo Sapiens ‘Post-Auschwitz’ reden ließ, ist es möglich von einem ‘Post-Schmutziger-Krieg’-Argentinier zu reden“.
Die Parallelisierung in der Literatur funktioniert dabei auf zwei Ebenen: auf der der Geschehnisse selbst und auf der der (Un-)Möglichkeit ihrer Darstellung, ein viel debattiertes Thema im Fall des Holocausts. Die jüdische Erfahrung und insbesondere der Holocaust dienen argentinischen SchriftstellerInnen so als Muster für die historisch-sozialen Ereignisse und als „Maß für das Verschwinden aller Maße“: „Es geht nicht um ein rein theoretisches Experiment“, schreibt Reati, „sondern um das Bedürfnis, sich eine Realität zu erklären, die andernfalls unerklärlich bleiben würde.” Ricardo Piglia entwickelt das Bild George Steiners weiter – „die Welt von Auschwitz liegt außerhalb der Sprache, ebenso wie sie auch außerhalb des Verstandes liegt” und schreibt in seinem Roman Respiración artificial (1980): „Was würden wir heute sagen, was das Unsagbare ist? Die Welt von Auschwitz. Diese Welt liegt jenseits der Sprache.”
Im Falle von Piglia und Bonasso sind die Referenzen Teil eines „erklärenden” Diskurses des Erzählers. Die zwei Romane, auf die ich mich im Folgenden beziehen werde – Las muecas del miedo (Grimassen der Angst) von Enrique Medina (1981) und La Reina del Plata (Die Silberkönigin) von Abel Posse (1988) – teilen die literarische Strategie der Verwendung von Referenzen auf die jüdische Erfahrung. Sie nehmen dabei keine wichtige Stellung in der Argumentation ein, induzieren aber eine Leseweise des Erzählten, die die argentinischen Erfahrungen mit dem Holocaust überblenden.
In seinen Veröffentlichungen während der Diktatur hat Enrique Medina die individuelle Gewalt und sexuelle Brutalität benutzt, um die unbenennbare politische Gewalt zu suggerieren. Als Pornografie proklamiert, wurden seine Bücher toleriert. So konnte er über diese Camouflage seine Botschaft vermitteln. Der Protagonist aus Las muecas del miedo ist sich der Ähnlichkeiten zwischen der argentinischen Situation und der Nazi-Zeit bewusst. Die stärkste metaphorische Episode findet statt, als die Hauptperson zufällig Zeuge von Beleidigungen einiger Jugendlicher gegenüber einem Juden wird. Zu seiner Überraschung kontert der Beleidigte seinerseits, und spontan macht der Erzähler mit: „Vielleicht war es wegen dieses dummen Kopfwehs oder einfach wegen des Unglücks, im Jahr 1980 zu leben, ich weiß es nicht, ich finde mich inbrünstig mit erhobenem Arm schreiend wieder: „Dreckige Nazi-Faschistenschweine! Scheiß-Faschisten!” Der Jude dankt ihm mit einem stummen Blick, in dem er das „von den Vorfahren überlieferte Wissen einer langen Geschichte von Kämpfen“ erblickt.
Diese und andere Episoden haben keinerlei Bedeutung für den Fortgang der Geschichte. Ihr Wert besteht in der Erzeugung eines semantischen Feldes, indem ein Argentinier im Jahr 1980 die eigene Erfahrung mit der des verfolgten und erniedrigten Juden gleichstellt.

„Der ideale Sündenbock”

La Reina del Plata von Abel Posse (1988) benutzt die jüdische Geschichte als Modell. In dieser fiktiv-historischen Geschichte findet sich eine imaginäre Argentinierin in der Zukunft, von einer Kombination aus Autoritarismus und Sozialismus regiert, wieder. Die Politik wurde abgeschafft, internationale Organisationen und Bündnisse überwachen das allgemeine Wohlergehen einer jeglicher Initiative beraubten Bevölkerung.
In dieser Gesellschaft gibt es zwei Ausnahmegruppen: auf der einen Seite die administrative und militärische Elite, angeführt von zwei Brüdern, deren Namen aus den Komponenten der deutsch-italienischen Achse bestehen: die Generäle Ottorino von Rezzori und Cleto von Rezzori. Auf der anderen Seite befinden sich die Nicht-Assimilierten. Offiziell werden sie „die Externen” genannt und es gelten für sie besondere Gesetze. Das wichtigste ist ihre „Zwangsunterbringung in Wohnvierteln“, deren Grenzen sie nicht ohne Erlaubnis überschreiten dürfen.
Die Externen werden nicht idealisiert. Sie wissen selbst, dass sie „exzentrisch, gescheitert, der Realität unfähig” sind. Den einzigen Wert, den sich der Hauptdarsteller zugesteht, ist der, der „Normalität“ widerstanden zu haben. Aus Sicht des dominierenden Systems werden sie als lebendes Beispiel gesehen, „wie man nicht sein soll.” Posse schreibt: „Auf der ganzen Welt nahm man die Externen als Erklärung alles Bösen. Sie waren der ideale Sündenbock. Die Externen haben etwas Provokatives, Herausforderndes, das die Machthaber und die aktiven Internen einfach nicht tolerieren konnten.” Die Intoleranz gegen den, der „anders” ist, generiert ein offizielles Programm, das sie vom Nutzen, „so wie alle zu sein” überzeugen soll. Die implizite Referenz zur Ausgrenzung und Ausschließung der Juden führt dazu, dass der Verdacht nicht überrascht, dass sich in den hohen Schichten eine Idee der „Endlösung” anbahnt.
Für die gewalttätigen Externen gibt es ein Konzentrationslager in Patagonien. Dort findet ein vergeblicher „Aufstand“ statt. Er wird durch die jüdischen Externen Sylvia und Martinov angeführt. Der einzige spezifisch jüdische Akt von Martinov ist dabei, dass er sein amputiertes Bein auf einem jüdischen Friedhof vergräbt (eine rituelle Geste, deren Bedeutung wahrscheinlich den meisten LeserInnen entgeht).
Der narrative Diskurs von Abel Posse besitzt eine Ansammlung von Abschnitten voller Anspielungen. Aber das zentrale Paradigma, der gesellschaftliche Raum, auf den sich La Reina del Plata stützt, entstammt dem Gedächtnis der jüdischen Geschichte.

Unlösbare ethische Ambivalenz

Durch die Verwendung der jüdischen Geschichte als Metapher und Archetyp für die argentinische Erfahrung während der Diktatur wird eine Parallele zwischen beiden etabliert, bei der man nicht umhin kommt, sich zu fragen, ob dieser Vergleich nicht auf eine gewisse Weise missbräuchlich ist. Sidra Ezrahi versucht, diese unlösbare ethische Ambivalenz auszuarbeiten: „Wenn das Vokabular der Ereignisse zwischen 1933-1945 auf jede historische Erfahrung extremer sozialer und emotionaler Enteignung angewendet wird, löst sich die Maßlosigkeit und moralische Unfassbarkeit der Erfahrung der Konzentrationslager unweigerlich auf.”
Aber gleichzeitig „verneinen diejenigen, die auf der absoluten Unvergleichbarkeit des Holocausts bestehen, den Prozess, durch den sich Geschehnisse der Vergangenheit in ein von der Menschheit geteiltes Vermächtnis verwandeln.“
Auf diese Weise ist es möglich, dass die Verwendung von jüdischen Modellen im Diskurs über die argentinische Diktatur ihrerseits wiederum in den universellen Diskurs zurückfällt, der dazu verpflichtet, die menschliche Verantwortung für die Geschichte anzunehmen.

Florinda F. Goldberg ist Professorin für Lateinamerikanische Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem.
Dieser Artikel fasst ihre Arbeit „Juden des Südens: Das jüdische Modell in der Erzählung der argentinischen Katastrophe“ zusammen, zuerst erschienen in: Estudios Interdisciplinarios de América Latina y el Caribe XII-2, julio-diciembre 2001.

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