Berlinale | Nummer 500 - Februar 2016

JUWELEN DER FILMSCHMIEDE

Die Bandbreite der lateinamerikanischen Kurzfilme reicht von liebevollen Kunstwerken bis zu ernsten und heiteren Jugendgeschichten

Caroline Kim

Kurzfilme kommen oft zu kurz – dabei sind die lateinamerikanischen Kurzfilme, die Generation, die Kinder- und Jugendsektion der Berlinale in ihren Programmen Kplus und 14plus zeigt, wahre Juwelen. Zwei davon stammen aus der Talentschmiede des Fachbereichs Bild und Ton der Fakultät für Kunst, Architektur und Design der Universität von Guadalajara. Beides sind Dokumentationen aus dem mexikanischen Hochland und porträtieren auf einfühlsame Weise das Leben der indigenen Gemeinden der Wirrarika.
Aurelia y Pedro erzählt von der alten Aurelia, einer Frau, der das Leben in faltigen Furchen ins Gesicht geschrieben steht, und ihrem Sohn Pedro, einem Jungen zwischen Kind und Mann. Die beiden leben in einer einsamen Holzhütte auf Pfählen im kargen Hochland von Jalisco. Geredet wird fast gar nicht im Film und wenn, in einer unbekannten Sprache. Dafür redet die Landschaft, die Wolken, das Wetter, die Blätter, sprechen die Bilder. Für den*die Außenstehenden kommt diese Welt einem Sehnsuchtsort gleich, atemberaubende Aussicht, einzige Kontakte mit der Außenwelt scheinen ein stotterndes Radio und kleine Propellermaschinen zu sein, die mal am Himmel kreisen und Pedros Träume anregen. Durch ein Spielzeugflugzeug und einen Drachen lebt Pedro diesen Traum vom Fliegen, durch ein vergilbtes Foto, vielleicht sein Vater, den (Traum von) Kontakt. So gehen Aurelia und Pedro ihren Tätigkeiten nach – weben, Ziegen hüten, kochen und die Kamera nähert sich Händen, Fingern, Mündern, man hört Mähen, Krähen, Zwitschern und die wunderschöne musikalische Untermalung lässt die Landschaft, die ständig in Dunst und Nebel und Wolken getaucht ist, noch mystischer erscheinen. Eine zärtliche und respektvolle Annäherung an die simple Kargheit des Lebens von Aurelia und Pedro.
Auch Neiwa ist ein liebevolles Kunstwerk, das sich dokumentarisch dem Leben der elfjährigen Zwillinge Orlando und Lisandro zwischen Traditionen und Moderne widmet. Statt der Bilder sprechen hier die Mythen und Menschen. Anders als in der Einsamkeit von Aurelia und Pedro, leben Orlando und Lisandro in einer kleinen indigenen Gemeinde, in der der Stadt-Land-Konflikt und das Thema Migration allseits präsent sind. Als Zwillinge nehmen die beiden Jungen eine besondere Rolle in der Gemeinde ein und langsam erfahren wir über die Interviews, dass Orlando als marakame (Schamane) berufen ist. Die marakame sind wichtige und respektierte Figuren in der Kultur der Wirrarika, die ihre Gemeinde durch ihre Gesänge und Träume leiten. Pari yakurame, „Der, der träumt“, ist denn auch der Wirrarika-Name von Orlando. Durch die sanfte zurückhaltende Art des Films, sich diesem speziellen Leben anzunähern, entsteht eine Nähe zu den Protagonisten. Man bestaunt mit ihnen die Landschaft, den Sternenhimmel, spielt mit dem Feuer in der Küche, sitzt in den Bäumen. Und vor allem ist so viel Lachen, schüchternes und ausgelassenes Kinderlachen in diesem Film, das ihn ganz besonders lebendig macht. Durch den Film trägt ein Mythos, der von Lisandros und Orlandos Schwester aus dem Off erzählt wird und der wie ein orchestriertes Drehbuch die Beziehung und Charaktere der beiden Kinder paraphrasiert: Es war einmal ein Kind ohne Namen, das jede Nacht weinte, wenn der Mond aufging. In einer Nacht hörte Großvater Feuer sein Weinen und eilte herbei, um ihm zu helfen. Als das Kind nicht aufhören wollte zu weinen, teilte es Großvater Feuer, verzweifelt wie er war, in zwei gleiche Hälften. Er schickte sie in zwei unterschiedliche Richtungen, damit sich jede einen eigenen Namen suchte. Eine Hälfte ging in das Land der Träume, die andere auf den Weg des Wissens. Und so gingen die beiden Hälften hin, mit dem Versprechen, sich am Ende ihres Weges wiederzutreffen. „Ich möchte wissen“, sagte die eine. „Ich möchte träumen“, die andere. Nach einer langen Reise trafen sich die beiden Hälften wieder. „Wir sind eins“, sagten sie sich und vereinten sich schließlich in einer ewigen Umarmung.
Der argentinische Kurzfilm El Inicio de Fabricio ist der einzige heitere Beitrag unter den Kurzfilmen, und der, der sich wohl am ehesten an die Altersklasse seiner potentiellen Zuschauer*innen richtet. El inicio de Fabricio spielt im Sommer eines argentinischen Kleinstadt-Idylls und vermittelt geradeheraus eine unbeschwerte Sommerlaune, in der die Jungs des Viertels mit viel Charme einen Plan aushecken, um ihr perfektes erstes Mal zu erleben.
In El Edén aus Kolumbien brechen zwei Teenager in eine verlassene Bungalowanlage ein. Ein Wachmann überrascht sie, während sie durch den verwunschenen Garten streunen. Wie nebensächlich lassen sie ihn bewusstlos liegen und setzen ihre Tour durch die von Pflanzen eingenommenen zerfallenen Gemäuer fort. Neben Mandarinen, Mangos und Skorpionen finden sie auch eine Pistole, mit der sie sich amüsieren. Einer, der coole Junge aus der Stadt, der andere, der Schüchterne vom Land. Sie sind einerseits Kinder, fetzen sich, witzeln, andererseits werden durch Spiel und Unterhaltung auf subtile Art und Weise die Gewalterfahrungen, die die Jungen durchlebt haben, offenbar. Der Charakter des Schüchternen verändert sich im Verlauf des Films. Als er an seinen ermordeten Vater zurückdenkt, ist die Kindheit aus ihm verflogen, bedrückte Blicke voller Sorgen und Trauer machen ihn erwachsen. So erzählt der Film mit behutsamer Langsamkeit indirekt von der Gewalt des konfliktgeprägten Landes, indem er erlebte Erinnerungen daran in den Gesichtern und Blicken der Jungen spiegelt. Das Ende ist überraschend und offen, um dann doch die Quintessenz der alltäglichen Situation wiederzugeben, der sich Jugendliche in Kolumbien ausgesetzt sehen.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren