Dossier | Indigene Justiz | Nummer 457/458 - Juli/August 2012

Kanaima – die Perspektive der Geister

Über die nicht enden wollende Gewalt unter Indigenen der Gran Sabana in Venezuela

Im September 2006 wurde in der Nähe von San Francisco de Yuruaní (Gran Sabana/Venezuela) ein indigener Angestellter mit mehreren Messerstichen getötet. Er sei ein kanaima gewesen. Dieser Begriff beschreibt in der Pemón-Sprache von bösen Geistern befallene Menschen, die andere Menschen überfallen und vergewaltigen. Diese würden rauben, stehlen, morden – sie seien eben „schlechte Menschen“. Sprechen alle Indizien für einen kanaima, so wird der Auftrag erteilt, diesen zu töten. Die Täter_innen gehen in der Regel straffrei aus oder werden nach einiger Zeit von den venezolanischen Behörden laufen gelassen. Die Zahl der Morde steigt, auf Seiten der kanaima-Opfer genauso wie auf Seiten der angeblichen kanaima-Täter.

Mathias Lewy

„Wir mussten ihn umbringen, bevor er noch mehr Schaden anrichtet.“ Dieser Satz stammt von José, einem Taurepán-Indigenen, bei dem ich mich nach dem „kanaima“-Mord erkundige, den einige Taurepán in San Francisco de Yuruaní an einem Makuxí-Indigenen aus San Ignacio verübten. Die Orte liegen nur 15 Minuten per Auto auseinander, sie sind schnell zu erreichen auf der Bundesstrasse 10, die von Ciudad Guyana nach Santa Elena de Uairén und dann weiter nach Brasilien führt. Sie liegen in der Gran Sabana, einer touristischen Region mit Highlights wie dem Tafelberg Roraima und dem Salto Angel, dem höchsten Wasserfall der Welt.

Das Opfer, ein angeblicher kanaima, war allen bekannt. Er hatte im Tourismus gearbeitet und war, so wird mir erzählt, nicht beliebt. Immer gab es Probleme, etwa mit Geld-Auszahlungen an seine Kolleg_innen. Gerne setzte er das gesamte Tour-Budget schon im Vorfeld in Bier und Rum um. Er prügelte und verprügelte viel, mutmaßlich auch seine Frauen und Kinder.

Doch musste er deswegen sterben?

Entsetzt nahm ich die Antwort auf meine Frage zur Kenntnis. „Wir mussten ihn umbringen, bevor er noch mehr Schaden anrichtet.“

Um das Phänomen der kanaima-Morde zu verstehen, müssen die kulturell bedingten Beziehungen des Menschen zu den Subjekten und Dingen beachtet werden. Im Berliner Haus der Kulturen der Welt gab es in diesem Jahr eine Ausstellung zum Thema Animismus – und dort findet sich ein Schlüssel zum Verständnis.
In vielen Ausstellungsstücken wurde implizit auf den brasilianischen Ethnologen Eduardo Viveiros de Castro verwiesen, einen Schüler Claude Leví-Strauss‘. Viveiros de Castro entwickelte Ende der 1990er Jahre eine grundlegend neue Sichtweise, die als „indianischer Perspektivismus“ in die Ethnologie eingegangen ist. Nach dieser sehen Europäer_innen die Welt eher „multikulturalistisch“, während die philosophische Grundlage der amerikanischen Indigenen ein „Multinaturalismus“ ist. Hat sich in Europa das Gegensatzpaar von „Natur“ und „Kultur“ manifestiert, so sehen die Indigenen hier keinen Widerspruch: Mehrere „Naturen“ bedeuten „eine“ Kultur, wobei die Essenz aller dieser „Naturen“ eine menschliche ist. Alle Tiere und Geister haben eine menschliche Essenz und sind in ihrer Eigenwahrnehmung Menschen, im Kern ihres Wesens sind sie menschliche Wesen. Mit anderen Worten, der indianische Perspektivismus sagt, dass die europäische Beziehung zwischen Körper und Geist durch die Wahrnehmung einer Körperform, dem biologischen Körper und vielen Geistesformen, den unterschiedlichen psychologischen Geistesformen von Mensch und Tieren, unterscheidet. Die indigenen Amerikaner_innen hingegen unterscheiden zwischen „vielen Körpern“, die sich in der Beziehung von Raub- und Beutetier, Jäger_in und Gejagtem erleben. Diese Körper in der Räuber-Beute Beziehung sind zum Beispiel Jaguar und Tapir aber eben auch Geister und Menschen, wobei all diese Körper (Geister sind auch Körper) in ihrer Selbstwahrnehmung den „gleichen Geist“, haben, eine menschliche Seele.

Dies bringt uns näher an eine Antwort auf die Frage, was indianischer Perspektivismus mit dem zu tun haben könnte, was die europäische Sicht als Mord bezeichnet. Wenn die Essenz allen Lebens eine menschliche ist, der Körper aber ein unterschiedlicher ist und in erster Linie nach Jäger_in und Gejagtem unterschieden wird, so wird aus dem kanaima-Jäger mit moralischen Argumenten der Gejagte. Aus Sicht einer indigenen Perspektive ist jeder Tod eine Gewalttat, auch beispielsweise Krebs ist nur eine Folge von einem virtuellen Pfeil, was in unserer Weltsicht Hexerei darstellt.

Krankheitssymptome scheinen objektive Daten zu sein, aber diese Daten müssen interpretiert werden, damit der Arzt therapieren kann. Im Krankenhaus in Santa Elena werden jedoch immer häufiger indigene Patienten eingeliefert, die keine bekannte Krankheit haben, aber sehr hohes Fieber. Indigene sagen, diese Menschen wurden von einem virtuellen Pfeil getroffen, der in der Schulter oder Brust steckt, jenes hohe Fieber erzeugt und nur mittels Zauberspruch entfernt werden kann. Das macht der ipukenak, der sogenannte „Weise“, von denen es immer weniger gibt. Sie erklären die Ursache der Krankheit dann mit Ausdrücken wie: el vírus de los indios – der Virus der Indigenen, die eben keiner der nicht-indigenen oder dort tätigen kubanischen Ärzte diagnostizieren, geschweige denn verstehen kann. Auch von „ungewöhnlichen“ Folterungen, wie das Auffüllen des Magens mit Blättern bei den Opfern oder das Einführen von Schneidegras in die Harnröhre, was nicht oder nur unter starken Schmerzen entfernt werden kann, wird berichtet. Diese Folterungen seien kanaima-Angriffe. Die Menschen sterben häufig im Krankenhaus oder überleben wie durch ein Wunder. Doch wer greift wen an und warum?

Kanaima bedeutet auf Pemón „verborgener Feind“. Kanaimas, so höre ich immer wieder, halten sich vor allem in der Dunkelheit im Wald auf, sie sind nicht die einzige Gefahr, aber die hauptsächliche. Sie schleichen nachts um die Häuser, um zu vergewaltigen, zu quälen und zu töten, mit Vorliebe auch Missionar_innen, wie so oft berichtet wird. Selbst in Mana Krü, dem indianischen Stadtteil von Santa Elena, fürchten sich die Frauen, allein im Haus zu sein. Eine befreundete Biologin bekam in San Francisco einen nächtlichen indianischen Wachschutz vor die Tür.
In den letzten 20 Jahren haben Auseinandersetzungen zwischen den Dörfern auf „kanaima“-Basis zugenommen. Und es liegt auf der Hand, dass es sich hier nicht nur um Konflikte handelt, die außerhalb des ökonomischen Interesses liegen. San Francisco de Yuruaní ist das inzwischen reichste Dorf der Pemón. Es leistet sich eine eigene Polizei und die 100 Meter Asphalt, die die Bundesstraße 10 durch das Dorf darstellt, gleichen einem mit Flutlicht ausgestattetem Fußballstadion. San Francisco liegt auf dem Weg zum Roraima, einem der Tafelberge, alle Tourist_innen schauen hier vorbei, die Tourist_innengebühr der Unternehmen ist hier zu entrichten.

Angestellte Träger sollten aus diesem Dorf oder im benachbarten Paraitepuy unter Vertrag genommen werden. Makuxí- und Akawaios-Indigene sind unbeliebt, weil sie aus Guayana kommen und Englisch sprechen. Somit haben sie bessere Aussichten auf Jobs im Tourismus. Deshalb möchten die Taurepán nicht mit ihnen zusammenarbeiten, was aber nicht immer offen ausgesprochen wird. Der marktwirtschaftliche Wettbewerb ist vor allem von venezolanischen und ausländischen Reiseunternehmen vordiktiert worden.

Die Ökonomie ist sicherlich ein Ansatz zur Begründung zunehmender Rivalitäten, doch eine Auseinandersetzung bis aufs Messer scheint doch reichlich übertrieben. Die ökonomische Debatte heizt aber jene alte Formen der virtuellen und realen Kriegsführung wieder an, die das Leben der Indigenen seit Generationen bestimmen. Doch sind in dieser Auseinandersetzung die System tragenden Fugen komplett auseinander geraten.

Die westlichen Formen der Ökonomie kamen erst zu Anfang der 1960er Jahre in die Gran Sabana. Protestantische Sekten missionierten in der Grenzregion zum ehemaligen Britisch Guayana ab 1910 und die Katholik_innen wurden in den 1930er und 1940er Jahren aktiv. Alle christlichen Institutionen hatten die Schaman_innen als größte Feinde, da sie das „heidnische Konzept“ des Animismus symbolisierten. Die Jugend sollte in christlichen Internaten auf die westliche Lebensweise vorbereitet werden und nahm die vermittelten Werte des Warenwirtschaftssystems bereitwillig an.

Diese Generation gehört nun zu den Alten, die sich jedoch noch sehr gut an die Zeit vor der Missionierung erinnern und die Teile eines animistischen Wissens tradieren. Die letzte große Schamanin, Usan koro, verstarb Ende der 1980er Jahre bei Kamarata. Seitdem fehlt der oder die übermächtige Koordinator_in und Administrator_in. Denn Schaman_innen waren im Rahmen des gesamten überirdischen und irdischen Seelenmanagements die herausgestellten Persönlichkeiten. Sie waren gefürchtete Heiler_innen. Da das gesamte Leben durch verschiedene Naturen bestimmt ist, die durch eine Differenz der Körper wahrgenommen wird, ist der Mensch die Essenz aller Wesen. Tier- und Pflanzengeister, sowie alle anderen Arten von Geistern, wurden durch Schaman_innen kontrolliert. Es gab natürlich auch alle Formen von Zwischenstufen, auf dem Weg der Schaman_innenausbildung. In der Regel galten sie als entweder gut oder böse, je nachdem von welcher Seite, aus welcher Perspektive man sie sah. Sie halfen bei Krankheiten und sie waren aufgrund ihrer Zauberkraft gefürchtet. Doch der wichtigste Punkt ist die Kenntnis, dass sie miteinander in Krieg lagen. Sie lebten weit ab von den Siedlungen – und sahen und hörten dennoch alles, was sie sehen und hören wollten.

Dies bedeutet im Alltag, dass im Falle eines kanaima-Angriffes eine Schaman_in aufgesucht wird, die über die Person und deren Tötungsabsicht aufklärt. Man bekommt also alle Daten über den „Feind“ mit Namen und Adresse. Die aufgesuchten Schaman_innen unterrichteten die Person auch mit der Nachricht, dass man darum bat, diese Attacken sein zu lassen, sonst könne die Schaman_in auch andere Seiten aufziehen.

Diese Kommunikation war eine rein transzendente Interaktion, die vornehmlich über Rituale und Träume realisiert wurde. Nun bedeutete das Vorhandensein von Schaman_innen nicht, dass kanaima-Mordtaten nicht stattgefunden hätten. Dieses wurde aber in Grenzen gehalten, auch dadurch, dass die Bereitschaft, einen angeblichen kanaima zu töten, sehr viel niedriger war als heute. Häufig wurden als kanaima die Schaman_innen anderer Stämme bezeichnet. Das heißt, an die hat man sich auch nicht unbedingt heran getraut. Einen oder eine Schaman_in zu töten, überließ man in der Regel einem oder einer anderen Schaman_in. Diese Art der Auseinandersetzungen unterbanden auch größere kriegerische Konflikte.

Der eingangs erwähnte Tourismusmitarbeiter, der angeblich als kanaima identifiziert worden war, hatte sich schlecht seinen Mitmenschen gegenüber benommen, doch sein Problem war, dass er eben keine weiteren Kenntnisse und Kräfte im Rahmen der übernatürlichen Kommunikation hatte. Er war kein Schamane – und darum musste er sterben. Die wahren Gründe sind nicht leicht zu finden, aber der Rachemord folgte auf Schritt und Tritt und darauf die nächste Blutrache. Ein Zirkel der Gewalt, der sich über die Generationen tradiert und dessen eingrenzende Intervention seitens höchster spiritueller Amtsträger entfällt. Das Argument „er war Kanaima, wir mussten das tun“ wirkt dabei wie als moralische Rechtfertigung, die in der Pemón-Kultur akzeptiert wird. Es rechtfertigt die zeitlosen Zyklen der Fehden, bei denen eben auch besagte ökonomische Gründe zunehmend in den Vordergrund treten.
Nicht nur die Indigenen, die im Tourismus arbeiten, beklagen das Fehlen von Schaman_innen. Auch von anderer indigener Seite ist immer wieder dieselbe Klage zum Thema kanaima zu hören, denn in vielen Situationen fehlt der oder die Schaman_in. Die hohe Todesrate bei Unfällen an Wasserfällen wird auf die übermässige Macht des Wassergeistes rato zurückgeführt. Würde es Schaman_innen geben, würden diese Geister in die Schranken verwiesen.
Das System des Schamanismus sorgte für eine Vielzahl von Verhaltensregeln und moralischen Gesetzen, die zunächst von Adventist_innen und später von Katholik_innen beseitigt und ersetzt wurden. Die Schaman_innen bereiteten sich früh genug vor und transformierten ihre Praxis zu neuen kollektiven Trance-Ritualen, wie den areruya und den cho‘chiman, die jedoch nichts mehr gegen die gesamte negative Welt der Geister ausrichten können. Militär und Polizei versuchen erst gar nicht, westliche Gerichtsbarkeit in die indigenen Gebiete zu transportieren, beziehungsweise scheitern sie, wie unlängst der bewaffnete Konflikt im Oktober 2011 zwischen dem venezolanischen Militär und den Pemón in Paragua zeigte. Auch die Ärzt_innen bleiben ratlos, vertuschen, verschweigen und ignorieren all diese sonderbaren Krankheitsphänomene.

Das hilft am Ende den Opfern von „Angriffen“ genauso wenig wie den angeblichen „Tätern“, die wieder zu Opfern werden, wobei es auch nur eine Frage der Zeit ist, bis deren „angebliche“ Täter die nächsten sicheren Opfer sind. Im Falle des ermordeten Makuxí ließ die Antwort nicht lange auf sich warten, und auch diese wurde schon wieder beantwortet. Ein Zyklus der Gewalt, der verstanden werden kann, dem es aber nur wenig entgegenzusetzen gibt.

(Download des gesamten Dossiers)

 

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