Nummer 429 - März 2010 | Venezuela

Kein Land in Sicht

Trotz neuer Verfassung bleibt die Landfrage für die indigenen Yukpa ungelöst

Die neue Verfassung stärkte 1999 die Rechte der Indigenen in Venezuela deutlich. Wie schwierig die Umsetzung in der Realität ist, zeigt das Beispiel der Yukpa. Diese kämpfen im Westen Venezuelas um ihr angestammtes Territorium und agieren in einer komplizierten Gemengelage zwischen GroßgrundbesitzerInnen, Großkonzernen, Militärs und verschiedenen staatlichen Instanzen.

Andrés Otálvaro und Maxim Graubner

Früher wurde in Venezuela am 12. Oktober alljährlich der „Tag der Rasse“ gefeiert. An jenem Tag betrat Christoph Kolumbus in der Karibik 1492 erstmals den amerikanischen Kontinent. Im Jahr 2002 war Schluss mit dem offiziellen Gedenken an den Beginn der Kolonisierung Amerikas. Die Regierung von Hugo Chávez taufte den 12. Oktober symbolträchtig in „Tag des indigenen Widerstands“ um. In Venezuela wird vor allem Guaicaipuro gewürdigt. Der Kazike, wie sich die Indigenenführer auch heute noch nennen, soll vor fünfhundert Jahren den Eindringlingen heldenhaften Widerstand geleistet haben. Seine leiblichen Überreste liegen heute im nationalen Pantheon in der venezolanischen Hauptstadt Caracas neben den Gebeinen anderer Nationalhelden wie dem Befreier Simón Bolivar.
Doch neben allen Anstrengungen und Symbolik sieht die Realität heute immer noch schwierig aus, wie die Auseinandersetzungen der letzten Jahre um ein Territorium für das Indigenenvolk der Yukpa zeigen. Die Yukpa beanspruchen ein zusammenhängendes Gebiet im nordwestlichen Grenz-Bundesstaat Zulia, der von der rechten Opposition regiert wird. Einflussreiche ViehzüchterInnen wollen ihre Ländereien nicht den Indigenen überlassen.
Diese GroßgrundbesitzerInnen verfügen über hervorragende Beziehungen zu Politik und Sicherheitsorganen, um ihre Privilegien zu sichern. Zudem sind UnternehmerInnen und transnationale Konzerne mit von der Partie, die in den Indigenengebieten umfangreiche Bodenschätze ausbeuten wollen. Dabei bekommen sie Unterstützung von der oppositionellen Regionalregierung, die ohne Konsultation der Yukpa Bergbau-Konzessionen vergibt. Aber auch Verantwortliche der nationalen Regierung in der Hauptstadt Caracas arbeiten mit den Konzernen zusammen, ohne die Selbstbestimmungsrechte der Indigenen zu beachten, denen die Zerstörung der Natur durch die Ausbeutung der Bodenschätze wie Kohle ein Dorn im Auge ist.
Ein weiterer Akteur in dieser komplexen Situation ist das Militär, das im Zuge der besseren Absicherung der Grenze zu Kolumbien gegen den erbitterten Widerstand der Yukpa einen Stützpunkt auf deren Land errichten will. So sind die Beziehungen der Yukpa zu den Militärs und der Nationalgarde vor Ort äußerst angespannt, auch weil diese immer wieder Yukpa-Gemeinden abriegeln.
Willkürlich werden dann BewohnerInnen an dem Verlassen ihrer Gebiete gehindert und Hilfslieferungen sowie BesucherInnen wie JournalistInnen und MenschenrechtsaktivistInnen abgewiesen. Die Sicherheitskräfte scheinen über enge Verbindungen zur örtlichen Elite zu verfügen und sehen sich den offenbar gut zahlenden ViehzüchterInnenn und InvestorInnen verpflichtet.
In Venezuela gibt es heute etwa eine halbe Million EinwohnerInnen, die den über 30 Urvölkern im Land zuzurechnen sind. Das sind nur etwas mehr als zwei Prozent der Gesamtbevölkerung. Zum Vergleich: Im lateinamerikanischen Land mit der größten indigenen Bevölkerung Bolivien sind es dagegen über 70 Prozent. Heute leben nur noch wenige von ihnen in den unzulänglichen Gebieten weit weg von den Städten. Viele der Indigenen kämpfen inzwischen mit neuem Selbstbewusstsein für ihre Rechte, die durch die neue Verfassung von 1999 garantiert sind. Ein ganzes Kapitel im Abschnitt über Menschenrechte widmet sich darin den Rechten der Indigenen Gemeinden. Damit sollte ein Ende der jahrhundertelangen Diskriminierung der Urbevölkerung eingeläutet und diese rehabilitiert werden. Bis zur Wahl von Hugo Chávez, der unter anderem auch indigene Wurzeln hat, Ende 1998, war Venezuela berüchtigt, die rückständigste Ureinwohner-Politik des Kontinents zu betreiben.
Seit knapp neun Jahren bemüht sich die chavistische Bewegung nun, die umfangreichen Vorgaben der Verfassung umzusetzen: Indigene profitierten von der bereits 2001 begonnenen Landreform. Zur Klärung der Landfrage für diese wurde 2004 eine spezielle Kommission zur Bestimmung der Demarkation von Indigenengebieten ins Leben gerufen. Zudem wurde ein spezielles Ministerium für die Belange der Indigenen gegründet, und die wichtigsten indigenen Sprachen sind heute als Amtssprachen anerkannt. Mit umfangreichen Sozialprogrammen soll den verbliebenen Ureinwohnern aus der oft extremen Armut geholfen werden: Sie bekommen Gesundheitsversorgung, Schul- und Weiterbildung, Stromversorgung sowie Arbeits- und Kommunikationsmittel zur Verfügung gestellt. Sogar eine spezielle indigene Universität, offen für alle Teile der Bevölkerung, wurde mit staatlicher Unterstützung gegründet. Doch diese Fortschritte haben den Yukpa in ihrem langen Kampf um Land bislang wenig genützt.
In den 1970er Jahren stiegen die Yukpa aus dem schutzbietendem Perijá-Gebirge hinab, um das Land ihrer VorfahrInnen wieder zu besiedeln. Heute leben sie auf beiden Seiten der unübersichtlichen kolumbianisch-venezolanischen Grenze. Doch der Großteil ihres angestammten Landes ist weiterhin in den Händen von vornehmlich weißen GroßgrundbesitzerInnen. Viele der heute 7.000 Yukpa kämpfen um ein würdiges Territorium. Dabei fordern sie die Restaurierung von Landrechten aus vorkolonialen Zeiten. Ihre Vorfahren waren seit der spanischen Eroberung gewaltsam von ihrem Land vertrieben worden, die meisten erst im vergangenen 20. Jahrhundert. Besonders intensiv war die Enteignung in den 1950er Jahren während der Diktatur von Marcos Pérez Jiménez.
Die Yukpa verbinden ihre Forderungen nach einem Territorium mit dem Anspruch, angestammte Lebens- und Produktionsweisen ausüben zu können, wie ihre Sprache zu erhalten und ihre Traditionen zu leben.
Einige kämpferische Yukpa-Gemeinden führen regelmäßig Protestkampagnen durch, um die Verletzungen der verfassungsmäßigen Rechte anzuklagen und ihrem Anliegen Gehör zu verschaffen. Sie wollen auf Basis der Verfassung die „Wiedergewinnung“ ihres angestammten Territoriums erreichen. KritikerInnen aus den Yukpa-Gemeinden sind mit der Arbeit der Demarkationskommission unzufrieden und werfen dieser Korruption vor,.Ihnen gehen die Fortschritte zu langsam und sie befürchten, dass sie mit faulen Kompromissen mit ViehzüchterInnenn und transnationalen Konzernen abgespeist werden sollen.
Radikale AktivistInnen, wie der Kazike Sabino Romero, sind zudem starker Repression ausgesetzt. Gefährdete GroßgrundbesitzerInnen nutzen alle Mittel, um einflussreiche Interessenvertreter wie Sabino Romero unschädlich zu machen. Regelmäßig erhält er Morddrohungen, zuletzt wurde er im Oktober 2009 unter fadenschneidigen Gründen von Staatsanwälten, die den Großgrundbesitzern nahe stehen, angeklagt. Kurz darauf verhafteten Behörden von Zulia ihn. Bis heute sitzt er im Gefängnis, sein Prozess beginnt nur schleppend. Die Anklagepunkte gegen ihn sind Mord und Viehdiebstahl. „Diese Vorwürfe sind vorgeschoben und die juristische Verfolgung politisch motiviert“, sagt Lusbi Portillo, Professor der Universität von Zulia, der sich für die Rechte der Indigenen engagiert.
Auch der Zeitpunkt der Anklage gegen Sabinos scheint kaum zufällig gewählt. Diese wurde nur kurz nach einem gewaltsamen Überfall auf die Gemeinde Sabinos durch so genannte sicarios (dt.: Meuchelmörder) im Dienste der Großgrundbesitzer erhoben und der Haftbefehl dann eine Woche später vollzogen. Während der Konfrontation waren eine schwangere Frau sowie ein Schwiegersohn Sabinos getötet worde. Andere Indigene wurden von Schüssen verwundet, darunter auch Sabino selbst. Die Strafanzeigen der Indigenen wegen dieser Verbrechen behandelten die Justizbehörden dagegen bisher nicht.
Im Juli 2008 hatte bereits ein anderer Fall für Aufsehen gesorgt: Der Vater Sabinos, José Manuel Romero, erlag im Alter von 109 Jahren seinen Verletzungen nach einem Überfall von sicarios, die offenbar ein Großgrundbesitzer geschickt hatte. Zuvor hatte das Dorf von Sabino den Anspruch auf dessen Ländereien bekräftigt und dies auch mit Landbesetzungen untermauert. Der Fall ist bis heute nicht aufgeklärt, die mutmaßlichen Verantwortlichen sind auf freiem Fuß und offensichtlich weiter aktiv. Fatalerweise scheinen andere Yukpa-Gemeinden in Angriffe auf das Dorf von Sabino verstrickt zu sein. So gibt es laut Portillo opportunistische Allianzen zwischen Indigenen und Viehzüchtern, die ihre ökonomische Macht nutzen, um Konflikte innerhalb der Yukpa anzuheizen.
Viele Yukpa hatten kurz vor dem Überfall Mitte Oktober 2009 den Kampf für ein eigenes zusammenhängendes Territorium aufgegeben und einen von der Zentralregierung angebotenen Kompromiss angenommen, der zähneknirschend auch von den Großgrundbesitzern akzeptiert worden war. Sie erhalten Entschädigungen für das bisher von ihnen okkupierte Land. Der genannte Kompromiss sah die Übergabe von großen Flächen Land an die Yukpa vor, jedoch nur für einzelne Gemeinden und fragmentiert über ihr gefordertes Territorium verteilt. Die Yukpa müssen daher weiter viele Kontrollposten der oft willkürlich agierenden Nationalgarde passieren, um von ihrem Dorf zu ihren Feldern zu gelangen.
Die Vergabe der Landtitel war am 12. Oktober 2009, dem Tag des indigenen Widerstandes, im Rahmen einer pompösen Zeremonie vollzogen worden. Live im Fernsehen überreichten Minister aus Caracas mehr als 40.000 Hektar an drei Yukpa-Gemeinden mit ungefähr 500 EinwohnerInnen. Die anderen Gemeinschaften gingen leer aus. Dementsprechend zeigten sich manche der anwesenden Yukpa-Anführer zufrieden und bekundigten ihre Unterstützung einer öffentlichen Politik, die nicht alle Mitglieder ihres Volkes gleichermaßen begünstigt. Somit wurde die Bewegung gespalten. Doch die Mehrheit der Yukpa will den Kampf nicht aufgeben und fordert weiter ein eigenes Territorium für das ganze Volk, darunter auch Sabino Romero. So beteiligte er sich nicht an der Feier zur Landübergabe.
Die Forderungen von Sabino und Portillo nach einem Yukpa-Territorium bleiben allerdings weitestgehend ungehört, trotz immer wiederkehrenden öffentlichen Aufforderungen von Präsident Chávez an seinen Staatsapparat, den Ansprüchen der Indigenen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Doch offensichtlich scheuen die Verantwortlichen in der Regierung vor einem großen Konflikt mit den mächtigen GroßgrundbesitzerInnen in Zulia zurück oder sympathisieren gar mit ihnen, denn der von Chávez regierte Staat hat weitestgehend immer noch die alten Strukturen der vergangenen Vierten Republik. Überall sitzen opportunistische Beamte in der Verwaltung, die sich den alten Verhältnissen verpflichtet fühlen.
Ein weiterer Grund für den schleppenden Landverteilungsprozess findet sich darin, dass im Rahmen der Landreform bereits Gebiete an regierungstreue Kleinbauern vergeben wurden, die heute von den Yukpa beansprucht werden. Zusätzliche Interessenkonflikte im Regierungsapparat waren die Folge. Doch die Yukpa geben nicht auf, sie setzen optimistisch weiter darauf, dass sie den Kampf gegen die alte und neue Oligarchie und ihre Handlanger gewinnen werden.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren