Argentinien | Nummer 318 - Dezember 2000

Kein Weg zurück

In Argentinien befinden sich 13 politische Gefangene seit zwei Monaten im Hungerstreik.

1989 wollten die Häftlinge mit dem Angriff auf eine Kaserne einen befürchteten Militärputsch verhindern. „Wenn sich die Regierung und das Parlament nicht bald bewegen, wird es die ersten Toten geben“, warnt Rodolfo Yanzón. Der Rechtsanwalt aus der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires vertritt die 13 Häftlinge, die seit nunmehr über zwei Monaten im Hungerstreik sind. Die Gefangenen fordern eine Wiederaufnahme der Verhandlung ihres Falles vor einer zweiten juristischen Instanz, die ihnen seit Jahren verweigert wird. Yanzóns Mandanten sind die bekanntesten politischen Gefangenen Argentiniens. Ihr Fall bewegt zur Zeit Öffentlichkeit und Politik in einem Land, in dem sonst fast nur von der schwelenden Wirtschaftskrise und dem politischen Fehlstart der zehn Monate alten Regierung von Präsident Fernando de la Rúa geredet wird.

Boris Kanzleiter

Vor elf Jahren, am 23. Januar 1989, hatten die heute Hungerstreikenden als Teil eines Guerillakommandos die Armeekaserne La Tablada in der Nähe der Hauptstadt angegriffen. Sie vermuteten, dass dort Militärs konspirierten und einen Putsch vorbereiteten. Im Glauben, dies zu verhindern, besetzten die etwa 50 schlecht bewaffneten Mitglieder der linksgerichteten MTP (Movimiento Todos por la Patria) in einer Überraschungsaktion die Kaserne. Kurz darauf wurde La Tablada von 3.000 anrückenden Soldaten und Polizisten umzingelt, die zum Gegenangriff ansetzten.
Es folgte ein Massaker. 28 MTP-Aktivisten wurden ermordet, 22 zunächst verhaftet. Neun von ihnen „verschwanden“ nach ihrer Festnahme. Erst vor einigen Wochen wurden drei der Leichen aus einem anonymen Grab geborgen. Die übrigen Verhafteten erlitten Folterungen und Misshandlungen. In einem Schnellprozess ohne Berufungsmöglichkeit wurden die linken Aktivisten allesamt zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt.
Die Repression gegen die MTP-Mitglieder mutet an wie eine Episode aus der Zeit der Militärdiktatur. Von 1976 bis 1983 herrschten in Argentinien die Generäle und brachten nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen 3.000 Menschen, hauptsächlich linke Oppositionelle, um. Doch 1989 regierte mit Raúl Alfonsín von der liberalen UCR bereits seit sechs Jahren wieder ein gewählter Präsident. Aber noch immer stellte das Militär einen entscheidenden politischen Machtfaktor dar. Nach einer Militärrebellion im April 1987 schloss Alfonsin einen Kompromiss mit den Meuterern, die gegen eine juristische Verfolgung der Diktaturschergen protestierten. Ein Amnestiegesetz wurde erlassen. Doch auch 1988 folgten noch zwei Putschversuche der rechtsnationalistischen carapintadas, der „schwarz gefärbten Gesichter“, wie die Truppe genannt wurde.
„Im damaligen politischen Kontext war die Furcht der MTP-Mitglieder vor einem erneuten Putsch absolut gerechtfertigt“, meint Anwalt Yanzón.
Tatsächlich war die Aktion aber in der Linken stets heftig umstritten. Den MTP-Mitgliedern wurde häufig vorgeworfen, mit ihrem Überfall letztlich die Militärs gestärkt zu haben, die sich als eigenständige Macht hinter dem Rücken der durch eine Wirtschaftskrise geschwächten Alfonsín-Regierung etablieren konnten.

Neue Bewertung

Heute jedoch steht die Auseinandersetzung über den Charakter der MTP-Aktion und ihre historische Bewertung im Hintergrund. Die Solidarität mit den Hungerstreikenden nimmt zu. Neben zahlreichen Menschenrechtsorganisationen haben sich unter anderem die NobelpreisträgerInnen José Saramago, Rigoberta Menchú, Adolfo Pérez Esquivel und Günter Grass an den argentinischen Präsidenten gewandt, um eine Lösung für die Gefangenen zu fordern.
„Es kann nicht sein, dass nach den beiden Amnestiegesetzen die meisten Folterer und Mörder der Diktatur bis heute straffrei bleiben, während die La-Tablada-Gefangenen im Gefängnis lebend begraben werden“, sagt Yanzón gegenüber den Lateinamerika Nachrichten. Außerdem seien sie 1989 in einem äußerst unfairen Gerichtsprozess verurteilt worden. Zudem wurden die La-Tablada-Gefangenen auf der Grundlage des speziellen „Gesetzes zur Verteidigung der Demokratie“ abgeurteilt, das eine zweite Instanz ausschließt. Obwohl dieses Notstandsgesetz gegen die Anforderungen internationaler Verträge verstößt, die Argentinien unterzeichnet hat, wurde bis vor kurzem eine Novellierung sowohl von Präsident de la Rúa von der regierenden neoliberalen Koalition aus UCR und der sozialdemokratischen Frepaso als auch von der rechten peronistischen Opposition boykottiert.
Yanzón vermutet, dass vor allem das Militär die La-Tablada-Gefangenen weiter hinter Gittern sehen möchte. So könnten sie ein Faustpfand gegen die Strafverfolgung von Diktaturschergen darstellen. In einer Art argentinischer Totalitarismusdebatte werden heute die punktuellen Aktionen der linken bewaffneten Opposition der siebziger Jahre mit den systematischen Repressionsverbrechen der Militärs auf eine Stufe gestellt.
Diesem Diskurs folgend läge es also nahe, irgendwann eine endgültige Amnestie für alle zu dekretieren. Doch dazu braucht man auch Gefangene der Linken.
Trotz der Amnestiegesetze der achtziger Jahre kommen Juntamilitärs heute in eine schwierige Lage, weil bestimmte Verbrechen – wie die Zwangsadoption von 500 Kindern zuvor in Haft ermordeter Mütter – wegen des Drucks von Menschenrechtsgruppen nun doch verfolgt werden. Außerdem haben argentinische Anwälte auch außerhalb Argentiniens – in Spanien, Italien und Frankreich – Verfahren gegen die Militärs in Gang gebracht.

Ermittlungsverfahren in Deutschland

Auch in Deutschland laufen Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft in Nürnberg. Die „Koalition gegen Straflosigkeit“, ein Zusammenschluss von Menschenrechtsgruppen, hat eine Reihe von Fällen deutscher Staatsbürger, welche durch die Militärs in Argentinien mutmaßlich ermordet wurden, zur Anzeige gebracht.
Unter anderem wird auch gegen einen führenden Daimler-Chrysler-Mitarbeiter ermittelt. In diesem Fall allerdings, weil die Stuttgarter Autobauer mutmaßlich 13 bis 20 aktive Gewerkschafter aus ihrem argentinischen Werk von Polizei und Militär hinrichten lassen haben sollen.

Neue Hungerstreiks

Die 13 „La Tablada“-Hungerstreikenden scheinen entschlossen zu sein, auch ihr Leben zu riskieren. „Nach einem ersten Hungerstreik von 46 Tagen, der Mitte Juli endete, versprach die Regierung, das Gesetz zu ändern. Doch bis heute ist das nicht passiert“, erklärt Yanzón. Eine Gesetzesinitiative de la Ruas, die den Häftlingen nicht weit genug geht, wird von den Peronisten im Parlament abgelehnt.
Beim zweiten Hungerstreik, der seit dem 5. September andauert, wollen sich die La-Tablada-Gefangenen nicht wieder mit Versprechungen abspeisen lassen. „Es gibt keinen Weg zurück, die Regierung muss handeln“, sagt Adrián Witemberg, Sprecher der Streikenden. „Die Gefangenen sind bereit, bis zum äußersten zu gehen.“

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren