Argentinien | Nummer 419 - Mai 2009

Keine Wahl für die Bevölkerung

Die Regierung Christina Kirchners verliert UnterstützerInnen auch aus den eigenen Reihen. Ihre Antwort: ein verschärfter Sicherheitsdiskurs

Ende März war es offiziell: Angesichts der Verschärfung der Wirtschaftskrise im Land, massenhaften Entlassungen sowie zahlreichen Stilllegungen und Sperrungen von Fabriken, beschloss die Regierung Cristina Kirchner, die diesjährigen Parlamentswahlen von Oktober auf Juni vorzuverlegen. Gleichzeitig wurde ein neuer Sicherheitsplan eingeführt, der unter anderem die Wiedereingliederung von mindestens 4.000 entlassenen Mitgliedern von Polizei und Militär beinhaltet.

Sergio Randi, Übersetzung: Max von Groll

Der enorme Popularitätsverlust der argentinischen Regierung wurde in der letzten Zeit immer deutlicher. Besonders bei den Industrieverbänden und der ArbeiterInnenbewegung schwand die Unterstützung für Cristina Kirchner. Deren massive Proteste und Straßensperrungen gegen die Erhöhung der Exportsteuern im Agrarsektor hatten die Regierung an den Rand der Regierbarkeit geführt. Zudem spitzt sich mit Verschärfung der Wirtschaftskrise und den zunehmenden Auswirkungen auf das südamerikanische Land die Situation auf dem Arbeitsmarkt immer mehr zu. Insgesamt gab es in den letzten Monaten mehr als 50.000 Entlassungen. Die Auseinandersetzungen zwischen UnternehmerInnenverbänden, Gewerkschaften und ArbeiterInnen nehmen stetig zu. Auf die politische Instabilität und die Wirtschaftskrise im Land reagierte Cristina Kirchner nun mit dem Vorziehen der Wahl von SenatorInnen und Abgeordneten von Oktober auf Juni dieses Jahres.
Das Zerwürfnis zwischen der Präsidentin und den mächtigen Agrarverbänden Argentiniens wird derweil immer offensichtlicher. Die Vorverlegung der Parlamentswahlen und der Druck der UnternehmerInnenverbände, die bisher nur einen Konsens mit den regierungstreuen Gewerkschaften erzielt haben, war somit Auslöser für einen politischen Konflikt, der bis heute andauert. Daher haben einige Gewerkschaften den Vorschlag der Nationalen Industrieunion Argentiniens (UIA) angenommen, die Debatte über Gehaltserhöhungen, die eigentlich bereits im März stattfinden sollte, in die zweite Jahreshälfte zu vertagen.
Juan Lascurain, Präsident der UIA, begründete diesen Vorschlag mit den sich verschlechternden Produktionsbedingungen und erklärte, dass bestimmte Sektoren in Zukunft an Produktivität verlieren werden und es nicht mehr möglich sein werde, die Gehälter früherer Zeiten aufrecht zu erhalten. Im selben Sinne äußerte sich auch der stellvertretende Vorsitzende der UIA, Osvaldo Rial: „Es ist nicht der Moment, um sich an den Verhandlungstisch zu setzen.“ An den so genannten paritarias, Verhandlungsrunden zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, werden normalerweise jedes Jahr ab März Gehaltserhöhungen für die ArbeiterInnen ausgehandelt, je nach Inflation und Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel. Angesichts der Krise und um Auseinandersetzungen mit sowie Proteste der ArbeiterInnen vor den Wahlen zu vermeiden, sind einige regierungstreue Gewerkschaften nun auf den Kurs der UIA eingeschwenkt.

Ausbrechende Arbeitskämpfe gibt es momentan viele in Argentinien.

In einem im April erschienenen Bericht bekräftigte die UIA, dass die industrielle Produktion im Gegensatz zum Februar 2008 um 12,2 Prozent zurück ging. Die Regierung spricht hingegen lediglich von einem Rückgang von 1,5 Prozent und bezieht sich dabei auf Daten des Nationalen Statistikinstitutes INDEC. Der Rückgang der Produktion führt zu steigender Arbeitslosigkeit. Der Konflikt zwischen UnternehmerInnen und regierungstreuen Gewerkschaften sowie ArbeiterInnen auf der anderen Seite dehnen sich auf immer mehr Sektoren aus: von der Automobilindustrie über das Bauwesen und die Metallindustrie bis hin zu den Tiefkühlwaren und der Schuhindustrie. Die Unternehmensgruppe Grupo Techint, der zahlreiche Ingenieurs- und Baufirmen angehören, traf beispielsweise eine Abmachung mit den regierungstreuen Gewerkschaften über eine Arbeitsstundenminderung von 50 Prozent und einen Gehaltsnachlass von 22 Prozent.
Ausbrechende Arbeitskämpfe gibt es momentan viele in Argentinien. In der Provinz Rio Negro streikten LehrerInnen 40 Tage für eine Gehaltserhöhung und die Verteidigung des öffentlichen Erziehungswesens. Sie wurden dabei vom Staatlichen UnternehmerInnenverband ATE sowie von ArbeiterInnen des Gesundheitswesens und der Justiz unterstützt. Die Angestellten der U-Bahn von Buenos Aires riefen angesichts der Drohungen und der Untätigkeit der regierungstreuen Leitung der Gewerkschaft UTA und des UnternehmerInnenverbandes der U-Bahn-Betriebe Metrovías, die ArbeiterInnen zu einem Referendum auf und gründeten eine neue Basisorganisation.
Laut dem Arbeitsministerium wurden in den ersten Monaten dieses Jahres Arbeits- und gewerkschaftliche Konflikte in insgesamt 125 Unternehmen im Ballungsraum Buenos Aires festgestellt. In der Provinz Córdoba reichten mehr als 100 Betriebe das so genannte präventive Krisenverfahren ein, ein administratives Vermittlungsverfahren, welches noch vor den Entlassungen und Absetzungen im Nationalen Arbeitsgesetz festgelegt wurde. Der Gewerkschaftsdachverband CTA bestätigte, dass es in Córdoba 9.000 Absetzungen sowie 10.000 Entlassungen und 5.000 erwerbslose ArbeiterInnen des Baugewerbes gab. 40 Prozent der ArbeiterInnen Argentiniens befinden sich in einer prekäre Situation: Schwarzarbeit, keine Sozial- oder Arbeitslosenversicherung. Und auch die Arbeitslosenorganisationen protestieren. Am 12. März zogen sie einem heterogenen massiven Demonstrationszug vor das Arbeitsministerium und forderten neben würdige Arbeit einen Plan für öffentliche Bauvorhaben und eine Unterstützung für alle Arbeitslose in Höhe von 540 Peso (circa 111 Euro).
Angesichts der prekären Lage vieler ArbeiterInnen und Erwerbslosen hat die Regierung Kirchner nur sehr bescheidene soziale und ökonomische Maßnahmen getroffen. Sie kündigte bis dato die Erweiterung der Sozialprogramme um zwei Milliarden Peso sowie die Schaffung von 1.000 Klein-Kooperativen für Arbeitslosenorganisationen an und hob die Rente um zwölf Prozent an. Cristina Kirchners Kommentar zu den sozialen Missständen beschränkte sich auf die Erklärung, dass „Jene, die mehr haben, den Rest der Gesellschaft unterstützen müssen.“ Nur so könne sozialer Frieden gewährleistet werden. „Ansonsten enden wir wieder wie Ende 2001.“
Die tiefe ökonomische und politische Krise Ende 2001 / Anfang 2002 in Argentinien, die das Jahrzehnt der Privatisierungen beendete und die die sozialen Ungleichheiten in Argentinien massiv verschärfte, brachte eine tiefe politische und repräsentative Krise mit sich – sowohl in Bezug auf politische Parteien als auch auf die traditionellen Gewerkschaften. Die schwachen Bündnisse, die seitdem aufgebaut wurden, unterstreichen diesen Zusammenbruch der politischen Konstellationen von damals. Die Unbeständigkeit und das ständige Auswechseln von PolitkerInnen und politischen Führungspersonen war auch Bestandteil der gegenwärtigen Regierung. Besonders deutlich wurde dieses Hin und Her der politischen AmtsträgerInnen, als der ehemalige Vizepräsident Julio Cobos aus seiner eigenen Partei UCR ausgestoßen wurde, als er das Regierungsvorhaben zur Erhöhung der Exportsteuern auf Agrarprodukte nicht unterstützte.
Wegen der massiven „Flucht“ von Mitgliedern der Regierung Kirchner aus den eigenen Reihen, wurden nun angesichts der bevorstehenden Wahlen eilig die KandidatInnenlisten gefüllt. So genannte candidatos testimoniales wurden sozusagen als Lückenfüller aufgestellt, das heißt, dass Personen auf den Listen für die Parlamentswahlen geführt werden, die bekanntermaßen die Regierung Kirchner unterstützen, aber nicht unbedingt der Partei angehören. Es ist klar, dass diese Personen nicht die Posten antreten werden, für die sie kandidieren. Mit diesem zwar legalen, aber deutlich demagogisch-opportunistischen Schachzug, versucht die Regierung, sich in einem Moment der ex- und internen Krise schnellstmöglich für die Wahlen aufzustellen. Genau wie in den Jahren 2003 und 2007 werden die diesjährigen Wahlen in einem internen Streit der Peronistischen Partei PJ ausgetragen, die immer mehr zersplittert. Diejenigen die schließlich die Posten übernehmen werden, sind den WählerInnen bisher gänzlich unbekannt. Diese geben sozusagen bloßen „Pappfiguren“ ihre Stimme.
Innerhalb der Opposition lassen sich für die anstehenden Wahlen neokonservative Bündnisse erahnen, die den UnternehmerInnenverbänden des Agrarsektors nahe stehen. Hier lassen sich Persönlichkeiten finden wie der Bürgermeister von Buenos Aires, Mauricio Macri, oder Felipe Solá, ehemaliger Minister für Landwirtschaft und Fischerei unter der Regierung von Saul Menem und ehemaliger Gouverneur der Provinz Buenos Aires. Oppositionelle Parteien aus dem linken Spektrum haben noch keine eigene Alternative und daher auch keine Chance durch Wahlen an die Macht zu gelangen.

Das Zerwürfnis zwischen der Präsidentin und den mächtigen Agrarverbänden Argentiniens wird immer offensichtlicher.

Am 25. Februar dieses Jahres veröffentlichte der Leiter des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA, Leon Panetta, einen Bericht, in dem er ankündigte, dass die Weltwirtschaftskrise in einigen Ländern Lateinamerikas politische Instabilität hervorrufen könnte, „vor allem in Argentinien, Ecuador und Venezuela”. Angesichts dieser „Warnung” luden Präsidentin Kirchner und ihr Vize Jorge Taiana am 27. Februar den nordamerikanischen Botschafter Earl Anthony Wayne zur Erläuterung dieser Aussagen vor. Mitte März begannen daraufhin bekannte FernsehmoderatorInnen des Landes das argentinische Fernsehpublikum auf einen neuen öffentlichen Sicherheitsdiskurs einzuschwören, in dem öffentlich mit Aussagen wie „Wer tötet, muss sterben” für mehr Sicherheit gehetzt wird. Am 18. März riefen sie zu einer Demonstration auf dem zentralen Platz in Buenos Aires, der Plaza de Mayo, auf. Organisiert wurde die Demonstration von der Nichtregierungsorganisation Bessere Sicherheit, die von Constanza Gugliemi geleitet wird, Tochter des Generals Alejandro Gugliemi, dem vorgeworfen wird, während der letzten Militärdiktatur (1976 bis 1983) an Vorgängen in dem geheimen Folterzentrum El Campito beteiligt gewesen zu sein.
Das Thema der Auseinandersetzungen zwischen den Agrarverbänden und der Regierung wurden vom aufsteigenden Sicherheitsdiskurs verdrängt. Angestoßen wurde dieser von Ex-Präsident Néstor Kirchner, der bei der Bekanntgabe der vorgezogenen Wahlen erklärte: „Argentinien muss die Regierbarkeit zurück erlangen.“ Am 27. März präsentierte die Regierung dann ihren neuen Plan für die Öffentliche Sicherheit. Der Minister für Justiz, Sicherheit und Menschenrechte, Aníbal Fernández, sagte, dass der Plan sich im ersten Abschnitt auf 38 Gemeinden der Großräume von Buenos Aires, Mar del Plata, Bahía Blanca und Gran Mendoza konzentrieren würde. Der Plan beinhaltet die Bereitstellung von 400 Millionen Peso, die für neue Ausstattung, die Mitbestimmung der BürgerInnen und die Installierung von Kameras verwendet werden sollen. Außerdem werden mindestens 4.000 Mitglieder der Ordnungs- und Sicherheitskräfte, die aus dem Dienst entlassen worden waren, wieder eingegliedert. Noch wurde aber nicht bekannt gegeben, wer genau wieder in den Dienst zurück kehren wird. Menschenrechtsorganisationen protestieren gegen diese Maßnahme, da sie befürchten, dass ehemalige Mitglieder der Streitkräfte, die wegen Menschenrechtsverbrechen beschuldigt wurden, wieder aufgenommen werden könnten. Aníbal Fernández verkündete darüber hinaus die Schaffung von so genannten Städtischen Operationszentren COM, die „zentral dafür sein sollen, zu wissen was in allen Bezirken vor sich geht”.
In den ärmsten Provinzen des Landes Misiones, Chaco, Formosa und Corrientes, den am stärksten von Hunger und Denguefieber geplagten Gebiete, wurden im Rahmen dieses Plans schon 1.000 Browning-Pistolen mit Zusatzmagazinen verteilt. Der Justizminister kündigte gleichzeitig an, dass in Kürze nochmals 1.000 Pistolen nach Jujuy, Salta, Catamarca, Tucumán, Santiago del Estero, Río Negro und Chubut ausgeliefert würden. Außerdem sollen im gesamten Nordosten und Nordwesten Argentiniens Schießplätze gebaut und eine „fortwährende Ausbildung” der Polizei garantiert werden.
Die Ankündigung des Sicherheitsplans im Kontext einer sich verschärfenden sozialen Krise und von einer Regierung, die innerhalb so wie außerhalb ihres „Industriezusammenschlusses” an Legitimität verliert, kann nichts anderes zum Ziel haben, als den Status quo und die Regierbarkeit im Land aufrecht zu erhalten, um die Krise unbeschadet zu überstehen. Und wer in Zeiten der Krise, die Bevölkerung „in Schach halten“ muss und den „sozialen Frieden“ garantieren soll, kann in Argentinien vielleicht auf dieselbe Straffreiheit hoffen, die der ehemalige Präsident Fernando de la Rúa genießt. Dessen Verfahren wegen Mordes an fünf Demonstranten während der Massenproteste der Bevölkerung am 19. und 20. Dezember 2001 wurde am 7. April diesen Jahres vom Bundesrichter Claudio Bonadío eingestellt.

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