Kolumbien | Nummer 275 - Mai 1997

Kidnapping für die Revolution

Entführungsgeschäfte der kolumbianischen Guerilla mit und ohne Mauss

“Die Guerilla wird immer krimineller” – diese Aussage kann nicht mehr als pure Regierungspropaganda abgetan werden. Kräftiges Absahnen beim Kokainhandel, wöchentliche Terroranschläge mit Autobomben – zuletzt in Apartadó, Montería und Cúcuta – sowie ökologisch verheerende Sprengungen von Ölpipelines zeigen, daß der kolumbianischen Guerilla “im Dienste der Revolution” jedes Mittel recht ist. Ein besonders düsteres Kapitel sind die Entführungen, die längst nicht mehr nur “Klassenfeinde” wie Großgrundbesitzer oder Angehörige transnationaler Konzerne betreffen, sondern fast jeden, der sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhält.

Gerhard Dilger

Von den offiziell erfaßten 981 Entführungen im Jahr 1996 gingen etwa 40 Prozent auf das Konto von FARC, ELN und EPL (siehe Kasten). Für die restlichen Fälle sind “ge­wöhnliche” Kri­mi­nelle ver­antwortlich. 264 Entfüh­rungen en­de­ten mit der Be­frei­ung der Gei­seln durch die Poli­zei, 362 – oft nach der Zah­lung eines hohen Lö­segeldes – mit der Freilassung durch die Ent­füh­rer. 52 Gei­seln wurden er­mor­det, 18 gelang die Flucht und 285 be­fanden sich zum Jah­resende im­mer noch in Ge­fan­gen­schaft. Die Mehr­heit der Ent­führten stamm­te aus der Mit­telschicht; der Aus­län­derInnenanteil un­ter ihnen be­trug “nur” 5 Pro­zent, was aber im­merhin noch einer Zahl von 42 Entführten ent­spricht.
Die tatsächliche Ziffer der Entführungsfälle dürfte, Schät­zun­gen von Men­schenrechtsor­ga­ni­sationen zu­folge, mehr als dop­pelt so hoch lie­gen. Viele Fami­lienange­hö­ri­ge erstatten kei­ne Anzeige, um die Ver­handlungen mit den Entführern nicht zu gefähr­den. Die ange­führ­ten Daten beziehen sich da­mit nur auf die Fälle, von denen das Büro des Anti-Ent­führungs-Zars Alberto Villamizar weiß. Villamizars Frau war eine der Geiseln, die 1991 im Auftrag von Pablo Escobar verschleppt worden waren – jener Fall, den Gabriel García Márquez zum Gegenstand seines letzten Romans “Nachricht von einer Entführung” gemacht hat.

Auge um Auge

So absurd es klingt: Für die Entführten ist es von Vorteil, in die Hände der Guerilla und nicht von “normalen” Banden zu fal­len, da sie das Geschäft profes­sioneller be­treibt. Sie be­han­delt ihre Gei­seln besser, läßt sich für die Verhandlungen Zeit und geht in der Regel arbeitsteilig vor: Eine Gruppe ent­führt, eine an­dere verhandelt mit den Angehö­rigen. Die Tarife für die Freilas­sung der Geiseln schwanken zwischen 100.000 und fünf Mil­lionen US-Dollar. Bereits jede zehnte Ent­führung der Gue­rilla soll von “Kommissionären” be­treut werden, die sich ihre Dienste fürstlich entlohnen las­sen. Exemplarisch hierfür dürfte der Fall der drei entführten Inge­nieure der dä­nischen Firma F.L. Schmidt sein, die nach der Ver­mittlung von Wer­ner Mauss frei­gelassen wurden (vgl. LN 272 und Kasten).
Trotz der Errichtung eines ei­genen Anti-Entführungspro­gramms hat die kolumbianische Re­gierung das Pro­blem der Ent­führungen durch die Guerilla nicht in den Griff bekommen können. Daher greift die Logik des “Auge um Auge, Zahn um Zahn” um sich: Paramilitärische Gruppen sind dazu übergegan­gen, ihrerseits enge Verwandte füh­render Guerilleros zu kid­nappen.

Reisen in die Entführung

Die Hoffnung, die ELN werde nach allem, was über die Ver­bindungen zu Mauss und Kanz­ler­amts­mi­ni­ster Bernd Schmid­bauer be­kannt geworden war (vgl. LN 271), keine Deutschen mehr kidnappen, stellte sich rasch als vergeblich heraus. Am 27. Dezember 1996 befand sich der Lehrer Günther Lehmann, der in Quito eine deutsch-ecua­do­ri­anische Be­rufsschule leitet, mit seiner Familie und Freunden auf dem Weg an die kolumbiani­sche Karibikküste. In Curumaní (Cesar) fand der geplante Urlaub ein jähes Ende: Lehmann, scheinbar für einen US-Ameri­kaner gehalten, wurde ins nahe­gelegene Perijá-Ge­birge ver­schleppt. Wo­chen­lang mußte seine Familie auf ein erstes Le­benszeichen war­ten. Inzwischen steht fest, daß sich der Lehrer in der Gewalt der ELN-Einheit “Camilo Torres” befindet. Doch konkrete For­derungen für eine Freilassung Leh­manns gibt es nach wie vor nicht.
Anfang März kam es im Darién-Urwald unweit der Grenze zu Panama zu einem Ge­fecht zwischen Armee und einer FARC-Einheit. Dabei starben vier Guerilleros und zwei Touri­sten, der Österreicher Johann Kehrer und der Deutsche Ale­xander Scheurer. Ihre beiden Reisegefährten Manfred Kehrer und Marian Muzinic konnten fliehen und sagten aus, die Gruppe habe 15 Millionen US-Dollar für ihre Freilassung ver­langen wollen. Als die Spe­zialeinheit der kolumbianischen Armee auft
auchte, so ihre Ver­mutung, habe der Guerillaführer Saúl noch die Ermordung ihrer Freunde an­ge­ordnet, ehe er selbst im Kampf fiel. Die vier Ökourlauber waren von Panama aus über die Grenze in die Pro­vinz Chocó eingereist, hatten sich aber noch nicht bei den ko­lumbianischen Behörden gemel­det, als sie am 7. Februar in die Hände der Gue­ril­leros fielen.

Jagd auf die Guerilla-SympathisantInnen

Alfonso Cano, der zweite Mann der FARC, bestritt vor ei­nigen Monaten in einem Inter­view der Zeitschrift Alternativa, daß Entführungen offizielle Po­litik der FARC seien. Doch aus Geldmangel befolgten nicht alle Guerilleros das Ent­füh­rungs­ver­bot. Außerdem kid­napp­ten auch Deserteure und Kriminelle im Na­men der FARC: “Wir wollen den Leuten bewußt machen, daß es so nicht geht.”
Sicherlich agie­ren viele Gue­rilla­einheiten weitgehend auto­nom, jedoch hat keiner der Re­bellenführer jemals die Ent­füh­rungspraxis der letzten Jahre grundsätzlich verurteilt. Sowohl die FARC wie auch die ELN sind in erster Linie militärische Or­ganisationen, die im jetzigen Krieg mit dem ko­lum­bianischen Staat Stellungsvorteile heraus­holen wol­len, bevor es – viel­leicht unter einem neuen Präsi­denten – ein­mal zu Frie­densver­handlungen mit der Regierung kommt. Dabei scheint der Zweck alle Mittel zu heiligen. Beson­ders fatal an dieser Situation ist, daß sich eine demokratische Linke im Kriegs­zustand kaum ent­wickeln kann – pa­ramilitäri­sche Einheiten ermorden in ih­rem “schmu­tzi­gen Krieg” nicht nur Gue­rilleros, sondern vor al­lem deren vermeintliche Sym­pathisantInnen in der Zivil­bevöl­kerung.

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