Film | Nummer 380 - Februar 2006

Kleine Menschen im ewigen Sand

Casa de Areia erzählt die Saga dreier Frauen im nordbrasilianischen Maranhão

Weiße Dünen und grünblaue Lagunen, halbmondförmig aneinander geschmiegt. Aus der Luft sehen sie aus wie Muscheln. Die Landschaft scheint unendlich: Düne, Wasser, Düne, Wasser. Leben dort etwa Menschen? Ja.

Dinah Stratenwerth

Mühsam stapfen sie auf der Kante einer elegant geschwungenen schneeweißen Düne entlang und brüllen ihre Esel an. Dann die Gesichter zweier Frauen, die sich schweißüberströmt und schwer atmend voranschleppen.

Andrucha Waddington, mit 35 Jahren Brasiliens erfolgreichster Jungregisseur, erzählt die Geschichte dieser beiden Frauen. Zu Beginn des Films schreiben wir das Jahr 1910. Die Jüngere folgt ihrem Mann in die bezaubernd unwirtliche Einöde. Der Gatte, korpulent, bärtig und autoritär, führt den Trupp aus Menschen und Eseln an. Aus der Hauptstadt kommend, hat er ein Stück Land im fernen nordöstlichen Maranhão gekauft und ist wild entschlossen, dort sein Glück zu machen. Seine Frau Aurea ist da weniger sicher: „Das ist kein Platz für irgendjemanden“, beschwört sie ihn. Sie will zurück – von der ersten Nacht an. Zudem erwartet sie ein Kind. Doch ihr Mann ist eisern. Er hat das Land gekauft, er kann nicht zurück. Die anderen Männer besinnen sich schnell eines besseren und verschwinden. Und der frisch gebackene Landbesitzer stirbt kurz darauf an seiner Verbissenheit. Übrig bleiben die beiden Frauen, Mutter und Tochter, und das ungeborene Kind.
Die Mutter bittet einen der wenigen Bewohner der Dünenlandschaft um Hilfe: Den Fischer Massu, einen entlaufenen Sklaven, der am Meer in einer kleinen Hütte wohnt. Massu wird ihr Retter und Tröster in den nächsten Jahren, die geprägt sind vom Wunsch der Tochter Aurea, fortzugehen. Mutter Maria gewöhnt sich an die Einsamkeit. „Hier sagt mir kein Mann, was ich tun und lassen soll“, sagt sie. Sie fühlt sich zum ersten Mal frei. Doch für ihre Tochter ist die weite Landschaft ein Gefängnis.
In kurzen, heftigen Wortgefechten tragen die beiden Frauen ihre Meinungsverschiedenheiten aus. „Dialoge sind gefährlich für einen Film, denn sie sind das Gegenteil von Kino“, findet Regisseur Waddington. Daher sind die Gespräche knapp und präzise gehalten und die Bildsprache hat viel Raum. Der überwältigende Sternenhimmel, der Sand der Wanderdünen, der langsam ins Haus rieselt und seine Balken ächzen lässt, die Spuren in der weiten Landschaft, erzählen die Geschichte von Menschen, die einen Ort suchen, an den sie gehören.

Erstaunliche Natur

Aurea ist sicher: Sie gehört nicht nach Maranhão. Ihr erster Fluchtversuch misslingt, da sie hochschwanger ist. „Wann kommst Du wieder?“ fragt Aurea den Händler, der sie mitnehmen sollte. „Nach den Regenfällen,“ antwortet der. Vor und nach den Regenfällen, das ist die einzige Zeiteinheit.
Wenn es regnet, ergießt sich der ganze Himmel über die kleinen Menschen, die sich in ihrem Haus ducken. Dann brennt die Sonne riesig und gnadenlos, der Wind heult ohrenbetäubend. Alles Menschliche wirkt angesichts der erstaunlichen Natur irgendwie fehlplaziert. Musik gibt es fast gar keine. Die Natur liefert die Geräusche für die Handlung und das Singen und Brausen des Windes mischt sich mit dem Keuchen und Atmen der Frauen, die ums Überleben kämpfen.

Zwei Welten

Nur mit der Hilfe Massus, der ihnen ein nahe gelegenes Dorf zeigt und ihnen Fisch bringt, gelingt ihnen das. Um ihm seine Hilfsbereitschaft zu danken, wollen sie ihm etwas von den in den Dünen seltsam anmutenden Zivilisationsgütern schenken, die sie mitgebracht haben: Eine hübsche Tischdecke oder ein kristallenes Glas. Massu will nichts. Für ihn haben die Dinge keinen Wert. Nur die Fotos aus einer anderen Welt, liebevoll aufbewahrt in einem dicken Album, betrachtet er neugierig: Die Frauen in eleganten Kleidern, am Klavier, im Eingang eines eleganten Hauses. Ein anderes, fernes Brasilien schaut ihm da entgegen.
Massu ist es auch, der eine Palme neben das Haus der beiden pflanzt, das noch der verstorbene Ehemann gebaut hat: „Damit jeder weiß: Hier wohnt jemand.“
Die Palme wächst. Aurea gebiert eine Tochter, die sie nach ihrer Mutter nennt: Maria. Erneut will sie weg. Der Händler soll zusammen mit Massu ihre Ziegen verkaufen. Doch wieder scheitert ihr Plan.
Aber plötzlich ist die Zivilisation, nach der sich Aurea so sehr gesehnt hatte, da: Ein Trupp Wissenschaftler soll Sterne während einer Eklipse fotografieren, um die Relativitätstheorie Einsteins zu beweisen. Die kurze Begegnung mit einem jungen Luftwaffenoffizier weckt in ihr Lust und Hoffnung.
Doch Aurea wird es länger in der Einöde aushalten als ihr Haus, das die Wanderdünen schließlich mitnehmen. Irgendwann nach dem dritten Fluchtversuch findet sie sich ab mit ihrem Schicksal. Sie lernt Maranhão als ihre Heimat zu schätzen und den Ort zu lieben, an dem sie lebt.
Ihr Tochter wächst heran und die Geschichte wiederholt sich, alles scheint von vorne zu beginnen. „Mehr als nur ein Drama, ist [der Film] ein Epos, das an dieses Rad gebunden ist, dieses Universum und letztlich beschreibt er die Geschichte von uns allen, die wir auf der Erde leben“, beschreibt Fernanda Montenegro, die die Mutter spielt, die Struktur des Filmes. Verstärkt wird die schicksalhafte Wiederholung durch die Namen der Frauen, die Maria, Aurea und wieder Maria heißen.

Mutter und Tochter

Vor den Charakteren Maria und Aurea standen deren Schauspielerinnen: Fernanda Montenegro und Fernanda Torres, auch im wirklichen Leben Mutter und Tochter und preisgekrönte Filmstars in Brasilien. Sie teilen sich alle Frauenrollen, je nach Alter: So spielt Montenegro zuerst die Mutter Maria, dann Aurea, als sie schon alt ist und schließlich deren Tochter Maria.
Der arme nordbrasilianische Bundesstaat Maranhão mit seinem einzigartigen Nationalpark Lencóis Maranhenses, an dessen Rand der Film gedreht wurde, ist ein weiterer Hauptdarsteller des Films. Ein Ort, an dem die Geschichte vorbeigeht.
„Welcher Krieg?“ fragt Aurea den Luftkämpfer, der stolz von den Flugzeugen erzählt. Vom ersten Weltkrieg hat sie nichts mitbekommen. Dementsprechend skurril ist auch ihre Begegnung mit dem internationalen Wissenschaftlerteam.
Erst Aureas Tochter Maria, die recht zügellos mit Massu, den anderen Fischern und der Mutter aufwächst, wird es gelingen wegzugehen. Dank einer schicksalhaften Wiederholung: Ein alter Bekannter taucht wieder auf, dieses Mal motorisiert.
„Ich wollte die Entwicklung der restlichen Welt anhand des wissenschaftlichen Fortschrittes in den Film bringen“, erklärt Andrucha Waddington. Und die Entwicklungen kommen immer von oben: Sternenfotos, Flugzeuge und schließlich der Mond, der zum ersten Mal von Menschen betreten wurde. Bei all dem war Aurea nicht dabei. Sie ist in den Dünen geblieben. Aber was macht das schon? Auch auf dem Mond gibt es schließlich nur Sand.

Casa de Areia Regie: Andrucha Waddington; Drehbuch: Elena Soárez; Brasilien 2005, 110 Min.
Der Film läuft auf der Berlinale vom 9.-19. Februar im Panorama.

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