Erinnerung | Nummer 343 - Januar 2003

Konfrontiert mit meinen Folterern

Patricio Bustos Streeter über seine Erfahrungen in Chile und den Verlauf der Zeit

“Das Vergessen ist voller Erinnerung“, so Mario Benedetti. Patricio Bustos Streeter ist dieser Satz besonders wichtig geworden. Er wurde am 10. 9. 1975 von der chilenischen Geheimpolizei DINA entführt und gefoltert. Die Täter von damals leugnen heute ihre Taten. Trotzdem gibt Streeter seine Hoffnung auf Wahrheit und Gerechtigkeit in Chile nicht auf.

Patricio Bustos Streeter

GESTERN

“Schieb die Augenbinde hoch.“ Es war der erste Tag meiner Entführung in der Villa Grimaldi, der 10. September 1975. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon starke Schmerzen durch die Schläge der DINA-Agenten, die ich damals noch nicht namentlich kannte. Gerade eben hatten sie mich vom „pau d’arara“ abgehängt, im „Turm“ jenes Folterzentrums, das an der Straße José Arrieta 8200, Penalolén, liegt. Die Foltermethode „pau d´arara“ hat einen portugiesischen Namen, weil die „tapferen chilenischen Soldaten“ sie in den 60er und 70er Jahren in den brasilianischen Militärakademien kennen gelernt hatten: Eine Rohrleitung wird zwischen die festgebundenen Handgelenke und Fußknöchel des Opfers geschoben und aufgehängt. Man hängt dort kopfunter, nackt und nass, und wird mit Stromstößen an Genitalien und Hals traktiert, wird mit Zigaretten am ganzen Körper gequält, mit harten Gegenständen geschlagen, erniedrigt und beleidigt.
„Weißt du, wer ich bin?“ „Ja, Sie sind Osvaldo Romo.“ „Ich kenne dich auch und weiß, was du getan hast und zur Zeit tust und …“ so verlief das Verhör unter Schlägen weiter. Er sprang dabei mit den Füßen auf mich, schlug gleichzeitig beide Ohren, dass mir der Kopf zu platzen schien. „El Troglo“ machte mit wehrlosen Frauen und Männern Karate, Hauptmann Miguel und „El Ronco“ folterten mit Stromstößen. „El Brujo“ Pinchetti lebte seine Begabung als „Hypnotiseur“ aus, indem er brennende Zigaretten auf unseren Körpern ausdrückte. Orlando Manza bestimmte von Cuatro Alamos aus das Schicksal vieler Verschwundener. In „Santa Lucía“, der Klinik der DINA, „versorgten“ uns Militärärzte, für Verhöre unter Kontrolle. So sah das Leben eines von der DINA Entführten aus, mit verbundenen Augen und wehrlos, gefoltert gemeinsam mit anderen Männern und Frauen, meinen Freunden.
„Guatón“ Romo ist der einzige Folterer, der seither mit Stolz seine wahre Identität zur Schau gestellt hat. Er hat um die Angst gewusst, die sein gründlich erworbener Ruf als Folterer, Vergewaltiger auslöste, als Kenner der Linken und als einer, der am Entführen, Misshandeln und Verhören beteiligt war.

HEUTE

Das Eingeständnis, ein Folterer zu sein, ist auch heute das Einzige, was Romo von anderen unterscheidet: Marcelo „Ronco“ Morén Brito, Chef des Folterzentrums, will nur vorübergehend in der Villa Grimaldi gewesen sein (und er entzog sich, ganz nach feiger pinochetistischer Manier, der Gegenüberstellung mit den Opfern durch Krankmeldung, dank der Komplizenschaft und mangelnder Moral der Ärzte im Hospital Militar); Miguel Krasnoff Marchenko behauptet, „Analytiker“ gewesen zu sein, Basclay Zapata sagte, er war „Fahrer“. Es ist nachvollziehbar, dass sie lügen, ihre Taten leugnen und immer wieder behaupten, uns in diesen Zusammenhängen nicht gekannt zu haben: Die pinochetistische heute lavinistische Rechte schämt sich der Arbeit, mit der sie gestern noch klar beauftragt war und die sie fleißig erfüllt und tausend mal abgestritten hat. Wir verstehen ihre Scham. Wir wissen außerdem, dass die Wahrheit den Weg zur Gerechtigkeit eröffnen könnte – immer im Konditional dieses seltsamen „Übergangs im Rahmen des Möglichen“ bleibend –, jene wahre Gerechtigkeit, die die Schuldigen und Verantwortlichen so sehr fürchten.
Im August 2001 kam es zu gerichtlichen Gegenüberstellungen zwischen uns, die wir von der DINA entführt worden waren, und den Angeklagten, die als Büttel des Repressionsapparates der Diktatur tätig waren – der Diktatur, die von Pinochet und Contreras errichtet und von Militärs und Zivilisten 17 Jahre lang aufrecht erhalten wurde, heute Mitglieder der rechten Parteien UDI und RN. Diese Situation, in der nach über 25 Jahren die Wahrheiten der Opfer mit den Lügen der Folterer konfrontiert werden, ist die Folge zahlreicher Klagen gegen Pinochet und seine Komplizen wegen der Verschwundenen, der Morde, der Entführungen und der Folterungen, geschehen während der schwarzen Jahre der Sperrstunden, der Lastwagen ohne Kennzeichen, der Straflosigkeit unter den Entführern und Mördern aus den Reihen der Geheimdienste DINA und CNI, als Chile ein großes Konzentrationslager war.
In langen Stunden haben die Gerichte diese neue Seite geschrieben, die lange erwartete und erhoffte, wenn auch schmerzhafte. Hier stehen sich die Würde und der gerade Blick der Entführten und die Feigheit der Folterer gegenüber, die die Köpfe gesenkt halten, aber deshalb nicht weniger übermächtig erscheinen. So kommt man auf der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit weiter. Die Entführten von Angesicht zu Angesicht, Auge in Auge mit den Leuten, die auf den Fotos des Rettig-Berichts wiedererkannt wurden, nachdem wir Namen und Identität der Mörder und Folterer angegeben hatten, die wir in Villa Grimaldi kennen gelernt hatten.
Was fühle ich, wenn ich in dermaßen anderen Umständen „Hauptmann Miguel“ Krasnoff, Osvaldo „Guatón“ Romo, „Troglo“ Basclay Zapata wiedererkenne und -begegne?
Ein großer Schriftsteller, der die Konzentrationslager der Nationalsozialisten überlebt hatte, sagte: „Wer Folter erlitten hat, ist immer ein Gefolterter, und wer gefoltert hat, wird immer ein Folterer sein.“
Ich habe kein Problem es auszusprechen: Ich hasse das, was sie getan haben und, wie es den Anschein hat, wieder tun würden. Ich hasse die Verbrechen, das Verschwindenlassen und die Folterungen, die sie an Häftlingen begingen, an Füßen und Händen gefesselt, die Augen verbunden, wehrlos ausgesetzt den Taten dieser Mörderorganisationen: DINA, CNI, Sifa, Comando Conjunto und andere, die im Namen des Staates und der Rechten handelten.
Ich habe auch kein Problem damit zu sagen, dass ich an die Versöhnung nicht glaube, solange sie nicht daran glauben. Und sie beweisen jeden Tag von neuem, dass sie an eine neue gesellschaftliche Ethik im Umgang miteinander nicht glauben: Sie streiten ab, was sie getan haben, verbergen die Leichen, lügen über die Tatsachen und enthalten uns Informationen vor. Ich versöhne mich nicht, weder vergesse noch vergebe ich.
Heute durchlebe ich diese stets nahen Monate September und Oktober 1975 noch einmal. Ich fühle die gleiche Verachtung für sie, die ich gefühlt habe, als sie uns nackt aufhingen und mit Strom traktierten oder uns an die „parrilla“ festbanden, jenes Metallbett, in dem sie unter ständigen Schlägen und Fußtritten Zigaretten an uns ausdrückten, uns mit Stromschlägen verletzten, Erschießungen vortäuschten, zusammen mit meiner Frau, meinen Kameraden und Freunden. Heute, wenn ich sie wieder vor Gericht antreffe (ich glaube, dass man dieser Institution, ungeachtet der außerordentlichen Fortschritte, noch keinen Respekt entgegenbringen kann), diese Angeklagten oder Verurteilten in Prozessen wegen Menschenrechtsverletzungen, lebt die Verachtung für diese Mörder wieder auf, für das, was sie taten und was sie im Stande sind erneut zu tun.

MORGEN

Ich weiß nicht, was passieren wird, aber ich weiß, was nicht passieren wird: Wir werden nicht vergessen. Gemeinsam mit Amelia, Luis, Cecilia, Juan, Gladys, Renán, Kattia, Osvaldo y Nubia, den Gruppen und Angehörigen werden wir nicht ruhen, bis wir wissen werden, was mit unseren Verschwundenen und Ermordeten geschehen ist, wer die Verbrechen beging und unter welchen Umständen. Die Schmerzen, die uns bleiben, sind die Kameraden, die uns fehlen: Die Verschwundenen und die Hingerichteten, jene gefolterten Frauen und Männer, die uns mit dem aufrechten Blick und dem unendlichen Schmerz das Vertrauen in die Gerechtigkeit des Kampfes gemeinsam mit den Armen von Stadt und Land vermittelten. Wir wollen nicht, wir können nicht und wir dürfen nicht vergessen. Wir wollen den Schmerz und die Solidarität unter den Entführten nicht vergessen, das traurige Lächeln der Frauen und Männer zum Abschied, auf ihrem Weg zum Verschwinden und zum Tod, zu anderen Folterorten, zu Konzentrationslagern oder ins Exil. Wir können das Kampflied, den Protest und die Anklage aus den Lagern von Tres Alamos, Ritoque und Puchuncaví und später aus dem Exil nicht vergessen. Wir dürfen nicht vergessen, weil die vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Generationen von uns verlangen werden, Zeugnis über das abzulegen, was wir für die Verschwundenen und Toten getan oder, aus nichtigen Gründen, nicht getan haben.
Nach Wahrheit und Gerechtigkeit schreit die Erinnerung an den Soziologen und MIR-Chef Jorge Fuentos Alarcón, entführt in Paraguay im Rahmen des Gefangenenaustausches zwischen den Diktaturen des Kontinents als Teil der Operation Condor, nach Argentinien gebracht und später in die Villa Grimaldi, wo sich seine Spur verliert; Ignacio Ossa Galdámez, Professor der Katholischen Universität Chile, zu Tode gefoltert und später tot liegen gelassen, um einen Verkehrsunfall vorzutäuschen (was hat Monseñor Medina für diesen Professor getan?); Guillermo González de Asís, in der Villa Grimaldi dauerhaft angekettet und gefoltert, heute verschwunden. Marta Ugarte, Carlos Lorca, alle Exekutierten und Verschwundenen appellieren an unser Gewissen.
In ihrem Namen, so haben wir es vor den Richtern und Protokollanten wiederholt, sehen uns unsere Peiniger, mit unseren Schmerzen und Erinnerungen, mit erhobenem Kopf, direktem Blick und klarem Wort. Dies ist die Niederlage der Folterer und ihrer Auftraggeber: Sie haben es nicht geschafft, unsere Träume, unsere Hoffnungen und unser Vertrauen in eine bessere Zukunft zu zerstören, voller Wahrheit und Gerechtigkeit.

Übersetzung:
Gianni Bisaccia
Aus: Punto Final, Nr.506,
Oktober 2001

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