Literatur | Nummer 289/290 - Juli/August 1998

Korruption und Caudillismo pyramidenförmig

Nicole Rudner: Der mexikanische Wirtschaftsstil

Die Wirtschaft Mexikos aus ihrem kulturellen Kontext heraus zu verstehen – von dieser Absicht ist die auch für Nicht-Ökonomen gut verständlich geschriebene Dissertation der Volkswirtin Nicole Rudner geleitet.

Anja Osterhaus

Um den historisch-soziokulturellen Kontext des mexikanischen Wirtschaftsstils verständlich zu machen, kontrastiert die Autorin zu Beginn ihrer Arbeit die unterschiedlichen Zeitauffassung der abendländischen mit der mesoamerikanischen Kultur. Die lineare christliche Zeitvorstellung im neuzeitlichen Europa und europäisch geprägten Nordamerika sieht sie als eine Voraussetzung für die Herausbildung des herrschenden marktwirtschaftlichen Modells; die zyklisch-gegenwartsorientierte Zeitauffassung in Mesoamerika hingegen ist dafür verantwortlich, daß zunächst auch Reichtum angesammelt, danach aber nicht in die Akkumulation weiterer Reichtümer reinvestiert wird, sondern in Ritualhandlungen, Zeremonien, Feste etc. fließt. Das Ökonomische tritt hierbei nicht aus seinem politisch-religiösen Bedeutungszusammenhang heraus. In der mexikanischen Kultur – einer Mischung aus indianischen, spanischen, französischen und US-amerikanischen Einflüssen – verbinden sich diese unterschiedlichen Auffassungen und bilden die Grundlage für den mexikanischen Wirtschaftsstil. Dieser beinhaltet sowohl zielgerichtete akkumulative als auch zyklisch-verausgabungsorientierte Elemente (z.B. den Potlatsch, ein zeremonieller Tausch, dessen Ziel „letztlich keine ökonomischen Erwägungen, sondern das Prestige des Häuptlings und des Clans” ist).
In einer gelungenen Anspielung auf die architektonischen Zeugnisse aus der Zeit der mesoamerikanischen Kulturen beschreibt Rudner den Anfang der mexikanischen Wirtschaft mit einer „revolutionsstaatlichen Pyramide“, ihrerseits bestehend aus einer Vielzahl von miteinander verschachtelten Pyramiden. Die verschiedenen Ebenen laufen jeweils auf einen „patrón” zu, einen „imaginären Vater, dessen Autorität sich die Klientel unterwirft”, von dem sie aber im Gegenzug „beschützt und versorgt wird.” Diese Struktur findet sich in der mexikanischen patriarchalen Großfamilie, in Unternehmen, in informellen Beziehungsnetzen, aber auch in der Staatspartei PRI und im Präsidentialismus des Landes wieder. Anhand dieser pyramidalen Ordnung gelingt es der Autorin, Phänomene wie Korruption, Klientelbeziehungen, Caudillismo etc. aus dem kulturellen Kontext heraus verständlich zu machen, ohne sie von vornherein negativ zu bewerten.

Schuldenkrise und Neoliberalismus

Nicole Rudner beschreibt, wie die Öffnung der mexikanischen Wirtschaft für ausländisches Kapital sowie die industrielle Modernisierungsstrategie ab 1940 zunächst zu einer Stärkung der mexikanischen Pyramidenwirtschaft führte, später jedoch durch verschiedene innere und äußere Faktoren in eine dramatischen Schuldenkrise mündete. Auf diese Krise reagierte der Präsident Miguel de la Madrid (1982 – 88) unter dem Druck internationaler Institutionen (IWF, Weltbank etc.) mit der Einführung des neoliberalen Wirtschaftsmodells in Mexiko. De la Madrid und verstärkt sein Nachfolger Carlos Salinas de Gortari (1988 – 94) setzten an die Stelle politischer Maxime das wirtschaftliche Wachstum nach den Gesetzen des Marktes. „Die wirtschaftspolitischen Weichenstellungen implizierten die Umkehrung des zentralen revolutionsstaatlichen Entwicklungsparadigmas, eines eigenen, originär mexikanischen Entwicklungsweges.” Das „neue Mexiko” erfährt nach Ansicht der Autorin in den letzten fünfzehn Jahren grundlegende Veränderungen, die sich in einem kulturellen Wandel und somit auch in einer allmählichen Veränderung des mexikanischen Wirtschaftsstils niederschlagen.
In der sehr kurz gehaltenen Schlußbemerkung geht die Autorin auf die Ereignisse in Chiapas seit dem 1. Januar 1994 ein. Diese sind ihrer Meinung nach eine Reaktion auf die „neoliberale Konterrevolution” und auf eine Modernisierung, „die unter Demokratisierung die Übernahme des US-amerikanischen Modells versteht”.
Die überzeugende und oft spannend geschriebene Darstellung des mexikanischen Wirtschaftsstils hinterläßt – neben zahlreichen Aha-Erlebnissen – auch Nachdenklichkeit bei der Leserin/dem Leser. Die Beschreibung und Erklärung des spezifisch mexikanischen Wirtschaftsstils ist ein entscheidender erster Schritt in eine Richtung, die momentan dem mainstream völlig entgegenläuft (nach dem das gleiche wirtschaftspolitische Modell fast weltweit umgesetzt wird, ohne den jeweiligen historisch-soziokulturellen Kontext zu berücksichtigen) .
Gerade aus diesem Grund ist das Buch sehr wertvoll und empfehlenswert für alle, die noch keine befriedigende Antwort auf die Frage gefunden haben, welche Lösung es für die wirtschaftliche und soziale Krise Mexikos geben könnte.

Nicole Rudner: Der Mexikanische Wirtschaftsstil, Eberhard Verlag, Schriften zu Lateinamerika, München, 1996. 352 Seiten, 38,- DM (ca. 20 Euro).

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