Brasilien | Nummer 324 - Juni 2001

Korruption und Finsternis

Statt den Staudämmen sind in Brasilien die Taschen der Politiker gut gefüllt

Das Jahr hatte für die Regierung von Präsident Cardoso gut begonnen, die wirschaftlichen Prognosen für 2001 waren glänzend. Doch dann zerstörten Korruptionsskandale und der Streit um Posten die Einheit des Regierungsbündnisses. Zur politischen Krise kommt eine schwere Energiekrise. Während in Brasilien die Lichter ausgehen, sieht die Zukunft der Regierung ziemlich düster aus.

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Früh wird es dunkel in Brasília. Um fünf Uhr nachmittags muss der öffentliche Dienst Lichter und Klimaanlagen ausschalten und wenn dann um sechs Uhr die Dunkelheit anbricht, erhellt kaum eine Neonreklame mehr die gespenstische Szenerie der Retortenhauptstadt. Eine schwere Energiekrise hüllt den Regierungssitz Brasília, der doch die Modernität des Landes präsentieren soll, in archaische Finsternis. Neue Situationen gebären neue Wörter: apagão – das große Abschalten – ist das Wort des Augenblickes. Ironischerweise hat es das bisher übliche black-out ersetzt. Apagão ist die Brasilianisierung des argentinischen apagón, der 1999 tagelang Buenos Aires ohne Strom ließ. So finden sich die schwierigen Nachbarn zusammen in den Krisen und ihren Wortschöpfungen.

Wassermangel und Korruption

Brasiliens Energieversorgung hängt hochgradig von Wasserkraft ab. Auf Grund lang anhaltender Trockenheit sind die Stauseen in den dichtbesiedelsten Teilen des Landes (Amazonien und der Süden sind nicht betroffen) fast leer. Die Wasserkraftwerke müssen daher ihre Produktion drastisch senken. Wer ist schuld? Natürlich die Regierung, die immer schuld ist, aber auch immer andere beschuldigt – in diesem Falle den Heiligen Petrus, was in einem religiösen Land nicht ganz unproblematisch ist, weil es doch bedeutet, dass die Regierung von Gott verlassen ist. Kritischere Geister verweisen auf Globaliserung, Neoliberalismus und Internationalen Währungsfonds (IWF), der im Zweifelsfalle immer der Hauptverdächtige ist. Gemeinere Zeitgenossen hingegen nehmen die Ökobewegung und eine zu rigide Umweltgesetzgebung ins Visier.
Wie dem auch sei, die Regierung entkommt jedenfalls nicht einem rapiden Popularitätsverlust. Das aber liegt nicht nur an der Energiekrise. In den letzten Monaten wurde eine Show von Skandalen und Dekadenz des politischen Systems vorgeführt, die auch versierte und abgebrühte Brasilienanalysten in Erstaunen versetzte.
Dabei hatte das Jahr so gut begonnen. Die Nachwehen der Abwertung des Real 1999 schienen überwunden, die Prognosen für 2001 waren glänzend. Vier bis sechs Prozent Wachstum, sinkende Arbeitslosenzahlen, eine Inflationsrate von etwa vier Prozent und sinkende Zinsen – da bereitet nur die Frage der harten oder weichen Landung der US-Wirtschaft Sorge. Das angeschlagene Image von Präsident Fernando Henrique Cardoso (vulgo FHC) verbesserte sich zusehends, die Regierung und ihr ebenso brillianter wie eitler Präsident glaubten einem glorreichen Abgang im Jahre 2002 entgegenzusteuern. Folgerichtig begann vor und hinter den Kulissen bereits das Gerangel um die Nachfolge von FHC. Im Nachhinein ist es kaum zu glauben, wie sich in wenigen Monaten dieses Bild total veränderte und die Regierung nun einem melancholischen Ende entgegendümpelt.
Ausgangspunkte des dramatischen Wandels war eines dieser innenpolitischen Intrigenspiele, die im Ausland zu Recht kaum beachtet werden. Das einflussreiche Amt des Senatspräsidenten musste neu besetzt werden. Die Regeln waren eigentlich im Parteienproporz abgeklärt. Das Regierungsbündnis besteht aus drei großen Parteien: der (sich sozialdemokratisch nennenden) PSDB des Präsidenten, der (angeblich liberalen) PFL und der PMDB. Der bisherige Amtsinhaber war Antonio Carlos Magalhães, allgemein als ACM bekannt, der große Häuptling der PFL. Turnusgemäß sollte er nun durch einen Kandidaten der PMDB abgelöst werden. Nur insistierte diese auf Jader Barbalho, einem allgemein als korrupt angesehenen Politiker, der zudem persönlicher Erzfeind von ACM ist. Letzter versucht also, allerdings ohne Erfolg, Gegenkandidaten zu lancieren und Jader Barbalho bei jeder Gelegenheit anzugreifen. Das stellte sich als nicht allzu schwierig heraus. Jaders Heimat ist der Amazonasstaat Pará, wo er Gouverneur war. Seit etwa zwanzig Jahren gilt Sudam, die Regionalentwicklungsbehörde für Amazonien, als sein Revier. Im Fahrwasser des Streits um den Senatsposten explodieren plötzlich die Skandale der Sudam, die jahrelang unter den Teppich gekehrt wurden. Die Tageszeitung Folha de São Paulo wartete fast jede Woche mit einer neuen Enthüllungsstory auf. Die Anklagen erreichten den engeren Kreis Jaders, ihn selbst und seine Frau, die Millionen an Subventionen für eine Froschzucht (!) bekommen hatte. Trotz allem wird Jader zum Senatspräsidenten gewählt.
Ergebnis der Posse: eine zerstrittene Regierungskoalition mit einem diskreditierten Senatspräsidenten. Die Enthüllungen erreichen bald auch die andere große Regionalentwicklungsbehörde, Sudene, zuständig für den Nordosten, das Armenhaus Brasiliens. Ein Minister muss seinen Hut nehmen, und die Opposition betreibt die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses. Als sie tatsächlich droht, mit den Unterschriften einiger Abgeordneten des Regierungsbündnisses die dafür notwendige Mehrheit zu Stande zu bekommen, startet die Regierung eine Kampagne gegen die Einrichtung dieses Untersuchungsausschusses, der angeblich die Stabilität des Landes bedroht.
In Brasilien haben Abgeordnete das Recht, Änderungsanträge zu Gunsten von Projekten ihres Interesses (in der Regel Investitionen im Wahlkreis) einzubringen. In den für die Einrichtung des Untersuchungsausschusses entscheidenden Tagen vom 27. April bis 11. Mai bewilligte die Regierung 16,8 Millionen Reais (ein Real entspricht etwa einer DM) für die Abgeordneten, während zuvor im ganzen Jahr nur etwa fünf Millionen bewilligt worden waren. 92 Prozent der Mittel gehen an Parteien des Regierungsbündnisses. Die Regierung bezeichnete dies als „Zufall“ und musste viel Hohn für diese Erklärung einstecken.
Damit nicht genug. In seiner Verbitterung spricht ACM gegenüber einem Staatsanwalt von einer mysteriösen Liste über die geheime Abstimmung, bei der im letzten Jahr das Mandat eines korrupten Senators kassiert wurde. Nachforschungen ergeben bald, das tatsächlich auf Anweisung des Fraktionsführers der Regierungspartei (Senator José Arruda) und unter Mitwisserschaft von ACM der Computer geknackt worden war und beide wussten, wer wie abgestimmt hatte. Da sie zuerst alles bestritten und in pathetischer Manier den Senat belogen hatten, wurde ihr Verhalten zu einem unerhörten Skandal. Um der drohenden Amtsenthebung zu entgehen, legten beide Ende Mai ihr Senatsmandat nieder.

Eine Ikone wird demontiert

Was hier knapp skizziert wurde, ist ein Umbruch in der brasilianischen Politiklandschaft, dessen Tragweite kaum abzuschätzen ist. ACM ist nicht irgendwer, sondern die vielleicht wichtigste politische Gestalt Brasiliens der letzten zwanzig Jahre. Er war es, der einen Teil der Partei der Militärdiktatur 1985 in die erste Zivilregierung führte, ein politischer Überlebenskünstler und Fädenzieher ersten Ranges. Die Achse FHC – ACM sicherte Wahl und Wiederwahl des Präsidenten und dominierte die politische Szene. Die Partei ACMs, die PFL, war eine zuverlässige Stütze der Regierung und trat unter seiner starken Hand für brasilianische Verhältnisse überraschend geschlossen auf. ACM steht für die traurige Dialektik von Wandel und Kontinuität, die die brasilianische Politik in den letzten Jahrzehnten prägte, und für die partielle Modernisierung eines Teils der brasilianischen Provinzcaudillos. Seine Heimat ist Bahia, wo er nach seinem Rücktritt triumphal empfangen wurde – unter anderem von vielen Künstlern und Candomblé Priestern.
Mitten in diesem innenpolitischen Debakel wurde Brasilien eiskalt von der Argentinienkrise erwischt. Die brasilianischen Schuldenpapiere gerieten in einen Misstraunenssog, die Regierung musste die Zinsen wieder erhöhen, inzwischen sind sie bei einem Niveau von über 15 Prozent angelangt. Der US-Dollar steigt unablässig und damit auch der Inflationsdruck. Fast täglich werden die Wachstumszahlen nach unten und die Inflationszahlen nach oben korregiert. Inzwischen räumt auch die Regierung die Möglichkeit einer Inflation von über sechs Prozent ein, was ein Verfehlen der mit dem IWF vereinbarten Inflationsziele bedeuten würde. Da aber makroökonomische Stabilität das erste Gebot ist, werden trotz sich verschlechternder Konjunkturprognosen die Zinsen weiter steigen – zu Lasten von Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit.

Die bitteren Früchte falscher Politikkonzepte+

Das Szenario war also schon schlecht genug als im Mai die Energiekrise explodierte. Die Regierung versucht nun ein Klima der nationalen Einheitsfront gegen den apagão zu schaffen. Aber trotz sozialdemagogischer Rhetorik will das nicht recht gelingen. Korruption und Finsternis – das ist auch für die geduldigsten BrasilianerInnen zu viel. Die Stimmung ist schlecht wie selten. Die große Stütze der Regierung war über Jahre hinweg die Währungsstabilität. Nun wird klar, dass man ein Land nicht mit ein paar Finanzformeln regieren kann. Die Missachtung der realen Grundlagen der Wirtschaft rächt sich nun in der Energiekrise. Kontrollierte Inflation + Öffnung für den Weltmarkt + Privatisierung + Kontrolle der Staatsausgaben, das war die Formel, mit der nicht nur in Brasilien jahrelang regiert wurde. Der Reduktionismus dieser Politikrezepte zeigt nun seine bitteren Früchte.
„Ich bin nicht gewählt worden, um Krisen zu verwalten“ hatte Präsident FHC 1999 beim Antritt seines zweiten Mandates stolz verkündet. Nun macht er nichts anders – und er macht es nicht überzeugend. Noch nie war seine Regierung so geschwächt – und das eineinhalb Jahre vor dem Ende des Mandates. Galt es Anfang des Jahres noch als wahrscheinlich, dass es FHC gelingen würde, einen von ihm lancierten Nachfolger wählen zu lassen (Gesundheitsminister Serra galt als Favorit) steht jetzt die Nachfolge in den Sternen.
Die Opposition wittert ihre Chance, aber es ist keine Einigung auf einen gemeinsamen Linkskandidaten in Sicht. Links beziehungsweise nationalistisch drängt es sich nun und wie immer führt der Kandidat der PT, Lula, alle Umfragen an, gefolgt von Ciro Gomes, einem Dissidenten der Regierungspartei, der sich der ehemaligen KP (heute PPS) angeschlossen hat. Auch der ehemalige Präsident und jetzige Gouverneur des wichtigen Bundesstaates Minas Gerais, Itamar Franco, bringt sich wieder ins Spiel. Er war es, der 1994 die Kandidatur Cardosos zu seinem Nachfolger lanciert und unterstützt hatte. Inzwischen sind beide völlig zerstritten. Itamar fühlt sich von FHC verraten und hat verkündet, dass Minas Gerais nicht bei der Rationalisierung mitmacht und widersetzt sich allen weiteren Privatisierungen.
Die Situation ist also unübersichtlich und sie wird es bleiben. Aber nicht nur in Brasilien deutet die aktuelle Krise wohl das Ende einer währungszentrierten Stabilisierungsphase an. Nur mit niedrigen Inflationsraten und IWF-Rezepten ist in Lateinamerika kein Staat mehr zu machen.

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