Mexiko | Nummer 413 - November 2008

Krieg gegen Drogen mit neuer dimension

Kartelle fordern offen Staatliches Gewaltmonopol heraus

In Mexiko kämpfen Drogenkartelle immer rücksichtsloser um die politische und wirtschaftliche Macht. Die Regierung antwortet mit Repression, Militärs und nationalen Anrufungen.

Nils Brock

Endlich Zeit für große patriotische Gesten statt politischer Erklärungen. Unabhängigkeitstag in Mexiko – Präsident Calderón feierte sich am 15. September selbst. Doch seine politische Verschnaufpause währte nur kurze Zeit. Noch während des Galadiners anlässlich des höchsten Feiertags erreichte ihn die Nachricht von einem Bombenanschlag während der öffentlichen Feierlichkeiten in Morelia, der Provinzhauptstadt des Bundesstaats Michoacán.
Bei dem mit zwei Handgranaten verübten Attentat in Morelia starben sieben Menschen, 140 Personen wurden verletzt. „Ohne Zweifel ein terroristischer Anschlag. Wir glauben, dass es sich um eine Aktion des Organisierten Verbrechens handelt“, analysierte Leonel Godoy, Gouverneur von Morelia am nächsten Tag. Während Godoy den laufenden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft (PGR) nicht vorgreifen will, werden die Editorials der Tagespresse deutlicher: Der „Krieg gegen die Drogen“ den Präsident Calderón noch Anfang des Jahres für fast gewonnen glaubte, hat in Morelia eine neue Dimension erreicht. Denn auch wenn seit Januar bei Vergeltungsschlägen, Hinrichtungen und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Drogenkartellen, Polizei und Militärs über 3.000 Menschen getötet wurden. Die symbolträchtige Ermordung von ZivilistInnen ist eine offene Herausforderung des staatlichen Gewaltmonopols. „Die Intention war nicht, dass an diesem Tag viele Menschen sterben“, so die Meinung des früheren Unterinspektors der mexikanischen Bundespolizei, Jorge Carreras (Name von der Redaktion geändert). „Die Drogenkartelle wollten zeigen, wozu sie fähig sind. Die Granaten detonierten in wohl kalkuliertem Abstand zu Gouverneur Godoy – eine Bloßstellung öffentlicher Verletzbarkeit und eine Vorführung des staatlichen Geheim- und Sicherheitsdienstes.“
Völlig unvorbereitet traf den Staat der Angriff jedoch nicht. Wie die Tageszeitung La Jornada berichtete, sollen in mindestens sieben Bundesstaaten bereits Wochen vor den Unabhängigkeitsfeiern anonyme Drohungen eingegangen sein. Zwei Stadträte in Veracruz und Guerrero verzichteten lieber auf einen öffentlichen Auftritt. In Morelia waren ebenso Drohungen empfangen worden, allerdings habe man eher mit einer Sabotageaktion während der Militärparade gerechnet, versuchte sich Gouverneur Godoy von der Mitte-Links-Partei PRD (Partei der Demokratischen Revolution) zu erklären. Einen Bombenanschlag habe man ausgeschlossen.
Auch der Soziologe Luis Astorga von der Nationalen Autonomen Universität Mexikos (UNAM) hielt noch vor einem Jahr Bombenanschläge seitens der Drogenkartelle in Mexiko für unvorstellbar. Dazu sei der Handel mit Rauschmitteln in Mexiko zu sehr Staatsangelegenheit. „Der illegale Drogenhandel hat sich seit den 1920er Jahren unter der Vormundschaft der politischen Machthaber konsolidiert“, sagt Astorga. Der Staat behielt jedoch das letzte Wort, ging falls nötig repressiv gegen die Drogenhändler vor. Als starker Arm diente ab 1947 die Behörde für Nationale Sicherheit (DFS), eigentlich bekannt für die brutale Verfolgung mexikanischer Guerillagruppen, aber auch die letzte Instanz für die Kontrolle krimineller Vereinigungen. In dieser symbiotisch-narkotisch-staatlichen Beziehung gewannen die entstehenden Drogenkartelle jedoch zunehmend an Autonomie und das bereits vor Jahrzehnten, wie Astorgas einräumt. Die boomende Nachfrage auf dem US-Drogenmarkt seit den 1960er Jahren, die Auflösung der DFS, Mexikos Aufstieg als Transitland für Kokain, der allmähliche Anstieg der Binnennachfrage nach Gras, Crack, Koks und chemischen Drogen – der Handel mit Rauschmitteln wurde zum Big Business und das einstmals klare Machtverhältnis kam ins Rutschen.
Das Ende des faktischen Einparteienstaats unter Führung der Institutionellen Revolutionären Partei (PRI) im Jahr 2000, verbunden mit einer Vielzahl demokratischer Hoffnungen, ließ rückblickend nicht nur weniger partizipative Strukturen wachsen als erwartet, sondern verschaffte den narcotraficantes noch mehr Handlungsräume. „Vorher gab es einen gut geölten Mechanismus, bei dem die PRI in allen Bundesstaaten Befehle von ganz oben bis ganz unten erteilen konnte. Doch heute stellen drei Parteienbündnisse die verschiedenen bundesstaatlichen und lokalen Regierungen“, sagt Astorga und folgert: „Sicherheitspolitik als Staatspolitik gibt es heute nicht mehr. Die kriminellen Gruppen brauchen nicht zu fürchten, dass ihnen gegenüber landesweit die politischen Kräfte vereint werden.“
Als Mitte Februar unweit des Polizeipräsidiums ein Plastiksprengsatz detonierte, warnte der Soziologe, der bis dahin eine „Kolumbianisierung“ Mexikos stets ausgeschlossen hatte, erstmals davor, dass die Zivilbevölkerung die Konsequenzen tragen würde, wenn es weiterhin zu keiner überparteilichen Zusammenarbeit kommen werde. Doch was bringe eine „große Koalition gegen die Drogen“ im Senat oder Parlament, wenn die narcos doch längst die parteilichen Basen erobert haben, hält der Journalist Alfredo Méndez entgegen. „Wenn vor zehn Jahren nur drei Kartelle den Drogenstrom in Mexiko kontrollierten, so sind die Beziehungen heute vielfältiger und komplexer. Es wird nicht, wie oft behauptet, um Handelsrouten gekämpft, sondern um die territoriale Kontrolle ganzer Regionen, inklusive der dortigen Märkte und Regierungen“, meint der junge Reporter von La Jornada und setzt noch eins drauf: „Die meisten lokalen Institutionen haben sich verkauft und heute wird eben die Rechnung gestellt. Die Kartelle, die den Wahlkampf finanziert haben, fordern von den PolitikerInnen nun Aktionen gegen andere Kartelle, die um Kunden und Kontakte buhlen.“
Die sichtbaren Zeichen dieser Machtkämpfe sind seit Beginn des Jahres allgegenwärtig, denn die Narcos begleichen ihre Rechnungen inzwischen gern medienwirksam. Nicht nur die Regenbogenpresse springt täglich auf die oft szenischen Botschaften an. Das Dutzend aufgetürmter enthaupteter Leichen im karibischen Yucatán Ende August wurde ebenso zur Endlosschleife wie die zugehörigen Bilder der drei mutmaßlichen Täter, die in Unterwäsche und grün und blau geschlagen von der Föderalen Ermittlungsbehörde (AFI) der Staatsanwaltschaft durch den Flughafen in Cancún gezerrt wurden.
Öffentliche Stellungnahmen veröffentlichen die Drogenhändler immer häufiger auf so genannten narco mantas, was soviel heißt wie „Drogentranspis“. An Brücken oder Verkehrsübergängen beschuldigt sich das halbe Dutzend bekannter Kartelle gegenseitig oder richtet das Wort direkt an den Präsidenten: „Señor Felipe Calderón. Wenn du mit dem Verbrechen aufräumen willst, dann fang‘ mit deinem eigenen Kabinett an!“. Vor allem das Golf-Kartell behauptet immer wieder gern, der mexikanische Staat würde das Unternehmen des „Chapo Guzmán“ decken, der wegen seiner weitreichend Protektion auch gern als der „Verwöhnte“ bezeichnet wird. In Michoacán soll die „Familia“ beste Kontakte zu Gouverneur Godoy unterhalten.
Neben Michoacán und den traditionellen Anbauregionen im Norden Mexikos, wie Sinaloa, Sonora und Chihuahua, operieren knapp 40.000 Militärs und Bundespolizei im „Krieg gegen die Drogen“ inzwischen in immer mehr Bundesstaaten, ersetzen dort auch zeitweilig Ordnungshüter unter Korruptionsverdacht. In Tabasco beschuldigte Gouverneur Granier Melo im August dieses Jahres die lokalen Polizeieinheiten, in elf der 17 Bezirke des Bundesstaates vom organisierten Verbrechen unterwandert zu sein. Der frühere PFP-Agent Carreras findet jedoch, dass das mediale Eindreschen auf die Polizei eher ablenke, als das Problem zu erfassen. „Die strukturellen Probleme gehen weit über die Polizei hinaus. Die lokale Polizei arbeitet für die Interessen bestimmter Gruppen, doch niemand will da wirklich bis zur letzten Konsequenz ermitteln.“
Ähnlich stellt sich die Lage bei den als „Vorzeigepolizei“ gegründeten Einheiten der AFI und PFP dar, wo auf Druck hoher Beamter oft Personal eingestellt wird, das unter Verdacht steht, in früheren Einheiten für die Kartelle gearbeitet zu haben. Jetzt sollen beide rivalisierenden Institutionen zusammengelegt werden. Doch Carreras ist pessimistisch: „Die internen Machtgruppen auf beiden Seiten arbeiten gegeneinander. In der Führungsebene sitzen Leute, die eine politische Karriere anstreben, ganz unten arbeitet das Kanonenfutter, das sie auf die Straße schicken, Leute die mit Glück wissen, in welche Richtung sie ihre Pistole halten. Und dazwischen agiert eine kleine Schicht fähiger Leute, die versuchen etwas zu verändern, aber nach kurzer Zeit resigniert hinschmeißen.“ Er selbst, der im Dienst auf dem Flughafen von Mexiko Stadt einst eine halbe Tonne Kokain beschlagnahmte und zwei korrupte Kollegen überführte, arbeitet heute lieber als Sicherheitschef für eine Kaufhauskette. Das ist ungefährlicher für die Familie und auch ertragreicher.
Mit bis zu dreimal höheren Löhnen werden nun seit kurzem Soldaten gelockt, um ermordete, korrupte oder frustrierte Polizisten in der nördlichen Grenzstadt Ciudad Juárez zu ersetzen. Über 1.000 ehemalige Spezialeinheiten werden derzeit umgeschult, um neben Häuserkampf auch den Kontakt mit der Zivilbevölkerung zu meistern. Denn die bisherigen Erfahrungen mit den seit Ende März in Ciudad Juárez befristet stationierten 4.000 Militärs und PFP-Agenten sei weniger positiv, erzählt die 50-jährige Arminé Arjona: „Ich habe zahlreiche Beschwerden von Leuten gehört, bei denen Soldaten die Wohnungen gestürmt haben und zwar ohne Durchsuchungsbefehl. Die haben Sachen zerstört, die Leute beleidigt, geschlagen und geklaut.“ Die Gewalt in Ciudad Juárez, einem der wichtigsten Umschlagplätze und Transitrouten des Landes, steigt beständig. Von den militärischen Umschülern verspricht sich Arjona im besten Fall eines: „Vielleicht könnten sie helfen, dass eines der Kartelle wieder die Oberhand gewinnt, so wie früher.“
Ob es auf dem Reißbrett der Regierung ähnlich pragmatisch zugeht, ist ungewiss. „Öffentlich könnte der Präsident ja auch nie zugeben, einen Pakt mit einem Kartell auszuhandeln,“ meint Luis Astorga. Grundsätzlich hält der Experte die Entsendung der Militärs angesichts desorganisierter bis geschmierter Polizisten zwar noch immer für gerechtfertigt – bloß die Exit-Option habe man vergessen. Ähnlich beurteilt der frühere Bundespolizist Carreras die anhaltende Militarisierung des Landes: „Nach zwei Jahren Militärpräsenz hat sich nichts getan, um die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit wieder der Polizei übergeben zu können. Die Verfassungsänderungen und der Sicherheitspakt haben lediglich mehr juristische Mittel geschaffen, ungestraft Menschenrechte verletzen zu können,“ empört sich Carreras.
Dennoch will die Regierung Calderón im kommenden Jahr an ihrer robusten Strategie festhalten. Der ohnehin üppige Militäretat wird um 16 Prozent erhöht werden. Auch bei Marine und Staatsanwaltschaft wird drauf gepackt. Das Ministerium für öffentliche Sicherheit wird gar doppelt so viel Geld zur Verfügung haben wie in diesem Jahr. Gespart wird dagegen bei landwirtschaftlichen Projekten. Und auch die interne Rechnungsprüfung und Antikorruptionseinheit innerhalb der staatlichen Institutionen werden eher Leute entlassen müssen, als in ihrer Arbeit gestärkt zu werden.
Auch die als „Initiative Mérida“ oder „Plan México“ bekannt gewordene finanzielle Unterstützung der US-Regierung für die „Bekämpfung des mexikanischen Drogenhandels“ wird wohl überwiegend in die technische Ausrüstung und Bewaffnung der Polizei fließen, anstatt in investigative Polizeiarbeit oder geheimdienstliche Ermittlungen. Carrera vermutet, dass das „systematische Erlernen von Foltermethoden beim Verhör“ dagegen auf dem Programm stehen könnte. „Bereits in diesem Jahr sind Videos solcher Polizeischulungen in León, im Bundesstaat Guanajuato, bekannt geworden. Ich weiß nicht, inwiefern es das schon früher gab, aber in der mexikanischen Öffentlichkeit ist es kein Tabu mehr, solche Praktiken gut zu heißen.“
Prominentestes Beispiel ist der pensionierte General Miguel Ángel Godinez Bravo, dem die harte Hand nur so zu zucken scheint. Auf einer denkwürdigen Pressekonferenz im Mai dieses Jahres bot der frühere Leiter von Interpol Mexiko die Dienste der „alten Garde von Heer und Marine“ an und hielt es für unumgänglich, dabei auch auf „strukturelle Schemata der Vergangenheit zurückzugreifen“, um „quasi im Straßenkampf die Institutionen unseres Landes vor dem Organisierten Verbrechen zu retten.“ Kein Politiker hat diese unverhohlene Anspielung auf die Praktiken des „Schmutzigen Krieges“ gegen die Guerilla in den 1970er Jahren bisher öffentlich zurückgewiesen.
Glaubt man den Fernsehspots der Regierung und den inflationären Pressemitteilungen der Staatsanwaltschaft, dann sind solche Maßnahmen ja auch nicht nötig. Die vielen kleinen Fische, die den Behörden bei Einzelaktionen und Glückstreffern ins Netz gehen, genügen alle mal, jeden zweiten Tag einen entscheidenden Schlag gegen die Entführungsindustrie oder den Drogenhandel zu verkünden. Der im September veröffentlichte „Nationale Suchtbericht“ kommt dagegen zu dem Schluss, dass die Zahl von Abhängigen nach „illegalen Drogen“ in den vergangenen fünf Jahren um 50 Prozent gestiegen sei. Und auch auf den internationalen Märkten sind die Preise konstant. Noch immer sorgen die zuverlässigen mexikanischen Lieferanten, die inzwischen auch die Routen in Zentralamerika und teils bis nach Kolumbien kontrollieren, dafür, dass eine Tonne Kokain auf dem US-Markt ein Drittel weniger kostet als in Europa. Die Gewinne der mexikanischen Kartelle im nördlichen Nachbarland werden pro Jahr auf bis zu 23 Milliarden US-Dollar geschätzt.
Allein das gewaschene Geld aus den Drogendeals, das jährlich direkt in die formale mexikanische Wirtschaft investiert wird, beträgt nach vorsichtigen Rechnungen zehn Milliarden US-Dollar. In einem Land, das auch ökonomisch betrachtet bessere Zeiten gesehen hat, ist fraglich, ob man es sich mit diesen treuen Investoren tatsächlich verscherzen will.

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