Land und Freiheit | Nummer 284 - Februar 1998

Landkämpfe in San Marcos

Veränderungen stehen in Guatemala nur auf dem Papier

Über ein Jahr ist seit dem Friedensschluß zwischen Guerilla und Regierung vergangen. Bei der Umsetzung des Friedensabkommens sind allerdings gerade in der Landfrage, Hauptursache des Konflikts, kaum Fortschritte zu verzeichnen. Dies bekommen vor allem Landlose und Kleinbauern zu spüren.

Werner Lamottke

Mit dem Begriff „Landfrage“ ist in Guatemala häufig nur die ungerechte Landverteilung gemeint. Hinter dem Schlagwort verbirgt sich aber ein komplexes Geflecht von Einzelproblemen: Ein Großteil der Bevölkerung hat keinen Zugang zum Produktionsmittel Boden, oder dieser ist nicht abgesichert. Beides zieht unzureichende Wohn-, Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten nach sich. Diejenigen, die ein kleines Stück Land haben, erhalten keine Kredite zum Kauf von Saatgut und landwirtschaftlichem Gerät, um die Produktion auszubauen. In vielen Regionen scheitert eine Vermarktung von Produkten an fehlenden Transportmitteln, an nicht vorhandenen Straßen und am unzureichenden Wissen um Marktmechanismen. Zur „Landfrage“ gehören zudem die Arbeitsbedingungen auf den Kaffee-, Zuckerrohr- und Bananenplantagen, auf denen hunderttausende TagelöhnerInnen für ihren Lebensunterhalt schuften.
Eine der Regionen, in der all diese Probleme zusammenkommen, ist die Provinz San Marcos. Diese liegt an der Grenze zum mexikanischen Bundesstaat Chiapas im äußersten Südwesten Guatemalas und ist geographisch und wirtschaftlich in drei Zonen unterteilt: An die etwa 20 Kilometer breite Küstenebene grenzt das Gebiet der Boca Costa, eine Übergangsregion zwischen 600 und 1800 Meter Höhe. Über 1800 Metern beginnt das Hochland, das den größten Teil der Provinz ausmacht und bis in eine Höhe von über 4200 Metern reicht. Die Bevölkerung lebt hier von den kargen Böden, auf denen sie Mais, Bohnen, Kartoffeln sowie in geringem Maße Gemüse anbaut. Die Familien besitzen größtenteils weniger als einen Hektar Land. Da fast alle Betriebe die gleichen Produkte anbauen, gibt es kaum lokale Absatzmöglichkeiten. Es wäre folglich notwendig, die geringen Überschüsse zum Verkauf in die größeren Städte zu transportieren. Zwar liegt die zweitgrößte Stadt Guatemalas, Quetzaltenango, nur etwa 50 Kilometer Luftlinie entfernt. Die Asphaltdecke der Verbindungsstraße zur Provinz endet jedoch bereits einige Kilometer hinter dieser Stadt. Im Hochland gibt es nur noch Buckelpisten. Zudem sind kaum LKWs vorhanden, da den Kleinbetrieben das notwendige Kapital fehlt.

Staatliche Verpflichtungen bleiben uneingelöst

Um einige von diesen Problemen zu lösen, gäbe es – von außen betrachtet – für die Campesinas/os die Möglichkeit, sich in Kooperativen zusammenzuschließen, um gemeinsam Lösungswege zu suchen. In der Vergangenheit diffamierte die Armee aber jegliche Form gemeinsamen Wirtschaftens als „kommunistisch und subversiv“ und verfolgte diejenigen, die es dennoch versuchten, als potentielle UnterstützerInnen der Guerilla. Daher hat sich bei der Bevölkerung individualistisches Denken tief eingeprägt. Eine andere Möglichkeit, das Einkommen aufzubessern, wäre eine Diversifizierung der Produktpalette. Dies kann sich jedoch kaum jemand leisten, da mit dem Saatgut auch gleich Dünger und Schädlingsbekämpfungsmittel gekauft werden müssen. Hinzu kommt, daß die Kleinbauern und -bäuerinnen nicht über das Wissen verfügen, wie neue Produkte angebaut werden.
Im Rahmen der Friedensabkommen verpflichtete sich die guatemaltekische Regierung, gerade in solchen marginalisierten Regionen die Bevölkerung zu unterstützen. Die Infrastruktur soll verbessert werden, die Campesinas/os günstige Kredite und Ausbildungsprogramme erhalten. Geschehen ist in dieser Hinsicht allerdings noch nichts: Straßen werden zwar gebaut, aber in Regionen, die für die Wirtschaftselite lukrativ sind. Bei den Kreditprogrammen ist zum einen unklar, woher das Geld dafür kommen soll, zum anderen wird noch diskutiert, zu welchen Konditionen sie vergeben werden sollen. Im Gespräch sind Zinssätze von 13 Prozent, was für Kleinbäuerinnen und -bauern immer noch sehr hoch ist – auch wenn die Zinsen damit günstiger als auf dem freien Markt wären, wo sie, wenn Banken ihnen überhaupt Geld leihen, bis zu 30 Prozent zahlen müssen. Und staatliche Ausbildungsprogramme rücken angesichts der neoliberalen Regierungspolitik, in deren Zuge das nationale Bildungssystem zunehmend privatisiert wird, in immer weitere Ferne.

Landbesetzende Großgrundbesitzer…

Aber selbst wenn diese Probleme angegangen werden, würden sie nur einem Teil der Campesinas/os helfen. Denn im Hochland reicht das Land nicht aus, um alle Menschen zu ernähren. Jahr für Jahr gehen daher 60 bis 75 Prozent der Hochlandbevölkerung den Weg in die zeitweilige Arbeitsmigration. Für die Erntemonate ziehen sie entweder auf die Kaffeefincas in Chiapas oder in die Küstenebene und das Gebiet der Boca Costa in San Marcos, wo sie sich zu Hungerlöhnen und miserablen Arbeitsbedingungen verdingen müssen. Viele würden sich gerne in diesen Regionen von San Marcos fest ansiedeln. Doch dafür fehlt ihnen das notwendige Geld. Für TagelöhnerInnen liegt der gesetzliche Mindestlohn nach einer 12prozentigen Erhöhung Mitte Dezember 1997 bei 17.86 Quetzal (ca. DM 5.40), und auch dieser wird nur auf den wenigsten Fincas gezahlt. Ein Landstück, das für einen Neuanfang reichen würde, kostet allerdings mindestens eineinhalb Jahreslöhne. Um diese Summe aufzubringen, müßten die Familien entweder sparen – was angesichts der Lebenshaltungskosten unmöglich ist – oder Geld leihen. Das können sie aber nicht, da sie für Privatbanken nicht kreditwürdig sind. Laut Friedensabkommen sollen Landsuchende nun durch einen staatlichen Fonds Kredite zum Landkauf erhalten können. Der Fonds ist auch schon gegründet worden. Bislang scheint er aber nur mit sehr geringen Mitteln ausgestattet zu sein. Immerhin konnten schon drei kleinere Gruppen demobilisierter Guerilleras/os mit den Fondsmitteln Fincas kaufen, über die allgemeinen Vergabekriterien und Kreditkonditionen herrscht aber noch Unklarheit. Unabhängig vom Geld würden Campesinas/os in San Marcos auch nur schwer zum Verkauf stehendes Land finden, denn die Küstenebene und die Boca Costa ist Großgrundbesitzerland.
In der Küstenebene von San Marcos werden großflächig Zuckerrohr, Kautschuk und Afrikanische Palmen angebaut, aus denen Pflanzenöl gewonnen wird. Weite Flächen des fruchtbaren Landes werden zudem zur Fleischproduktion genutzt. Das Land ist im Besitz einiger weniger. Selbständige Kleinbauern gibt es hier kaum, die meisten Menschen leben als TagelöhnerInnen. Anfang der 60er Jahre, als es nach der kubanischen Revolution auch in einigen Landesteilen Guatemalas gärte, siedelte die damalige Regierung unter General Ydígoras Fuentes hier Familien aus besonders konfliktträchtigen Gebieten an. Im Zuge dessen wurde beispielsweise der Ort La Blanca – Ocós gegründet. Der Gemeinde wurden neben dem eigentlichen Siedlungsgebiet von der Behörde für Agrartransformation unverkäufliche Reserveflächen zur Ausweitung zugesprochen, die in Staatsbesitz und ungenutzt blieben. Der Besitzer einer angrenzenden Finca erreichte es allerdings über Bestechung, dieses Land – von der Gemeinde unbemerkt – zu kaufen. Als diese sich vor einigen Jahren ausweiten wollte, wies der Finquero seine Kaufurkunde vor. Nachdem Verhandlungen mit Behörden erfolglos blieben, bauten die BewohnerInnen von La Blanca auf ihrem Reserveland, das der Finquero als Viehweide nutzte, provisorische Häuser. Seitdem gibt es ein Hin und Her von Räumungen durch die Polizei und Rückeroberungen durch die Gemeinde. Bei einer Räumung Anfang letzten Jahres eskalierte die Situation: Die BewohnerInnen zogen sich nicht schnell genug vor den Sondereinheiten der Polizei zurück, die von Schlägertrupps des Finqueros unterstützt wurden. Bei der folgenden Konfrontation starben zwei Campesinas/os.
So wie in La Blanca gibt es nach Auffassung der Campesino/a-Organisationen in Guatemala viele Flächen, die eigentlich in Staatsbesitz sind und zur Verteilung an Landsuchende zur Verfügung stünden. Doch ist es schwierig, diese nachzuweisen, da die verantwortlichen Behörden von Großgrundbesitzern dominiert werden. AktivistInnen der Organisationen fahren dennoch durch das Land, um genau solche Flächen aufzuspüren. Mit den gesammelten Daten wollen sie Druck auf die Regierung ausüben, die im Zuge des Friedensabkommens zugesichert hat, die Grundbücher, in denen die Besitztitel eingetragen sind, zu überarbeiten. Um dafür eine verläßliche Datengrundlage zu haben, wird das Land aber ersteinmal neu vermessen. Unterstützt durch deutsche Entwicklungshilfe wurde damit bereits in einigen Pilotregionen begonnen, wobei schon erste Probleme mit Finqueros auftraten: Der Besitzer der Finca La Perla, der größten in der Provinz Quiché, lehnte es ab, sein Land vermessen zu lassen. Hintergrund dürfte sein, daß auch er sich widerrechtlich Land angeeignet hat, wofür es vielfache Hinweise gibt. Derartige Probleme sind noch viele zu erwarten. In der Küstenregion gibt es zudem eine Diskussion zwischen Campesino/a-Organisationen und Großgrundbesitzern, ob die Neuerstellung des Katasters und eine Revision der Grundbücher überhaupt notwendig ist. Die Großgrundbesitzer vertreten die Auffassung, dies sei überflüssig, da beides bereits zwischen 1967 und 1976 durchgeführt worden sei. Campesino/a-Organisationen wenden dagegen ein, daß die damalige Erhebung manipuliert wurde, und die Finqueros hätten ihren unrechtmäßig erworbenen Besitz legitimiert. Daher fordern sie, daß das Zustandekommen der Eigentumsverhältnisse untersucht und illegaler Besitz enteignet werden müsse.

…verhindern Lösungen

Auch an der Boca Costa von San Marcos, der Übergangsregion vom Tief- ins Hochland, dreht sich die Landfrage oft um Besitzverhältnisse. In dem gemäßigten Klima wird fast ausschließlich Kaffee angebaut. Für mittelamerikanische Verhältnisse erreicht der Großgrundbesitz hier immense Ausmaße: Die größte Finca umfaßt beispielsweise über 9000 Hektar. Angesichts des Kontrastes dieser Besitzfülle zur Armut derer, die auf den Plantagen arbeiten, setzten sich in dieser Zone – begünstigt durch das unüberschaubare Gelände – während der 70er Jahre verschiedene Guerillagruppen fest. Als diese Anfang der 80er Jahre landesweit stärker wurden, überzog das Militär die Region, wie auch andere Gegenden Guatemalas, mit der „Politik der verbrannten Erde“ und beging zahlreiche Massaker. Ein Opfer dieser Politik wurde die Gemeinde El Tablero (s. Beilage in LN 281). Die Bevölkerung flüchtete und wagte erst nach über zehn Jahren, auf ihr Land zurückzukehren. In der Zwischenzeit hatte dies aber der Eigentümer der tiefer gelegenen Finca, Ricardo Díaz Marquez, besetzt. Wie die BewohnerInnen von La Blanca gingen sie trotzdem auf ihr Land, auch hier folgten Räumungen, die letzte am 27. August vergangenen Jahres.
Laut Friedensvertrag soll in Landkonflikten eine Schlichtungskommission, die direkt dem Staatspräsidenten zugeordnet ist, mit den Beteiligten nach Verhandlungslösungen suchen. Die Kommission konstituierte sich im Juni letzten Jahres, doch wurde ihre Arbeit bislang durch die Großgrundbesitzer und die Regierung selbst sabotiert. Zuletzt beklagte dies auch der Vorsitzende der Kommission, Alvaro Colóm, und schmiß im Dezember nach nur fünf Monaten Amtszeit das Handtuch: Die Regierung räume ihm kaum politische Handlungsspielräume ein, so daß während seiner Amtszeit gerade einmal drei der 200 bis 300 akuten Landkonflikte effektiv bearbeitet werden konnten.
Dieser mangelnde politische Wille seitens Regierung und Großgrundbesitzern, in der Landfrage zu Fortschritten zu kommen, die die Situation der Landbevölkerung wirklich verbessern, zieht sich durch die gesamte Umsetzung des Friedensabkommens. Und wo der Wille fehlt, ist auch kein Weg. Daher können Landfonds, Neuerstellung des Katasters, Revision der Grundbücher sowie die Schlichtungskommission für Landkonflikte kaum die Antwort auf die Landfrage sein, zumal bei den unterschiedlichen Maßnahmen nicht absehbar ist, ob sie überhaupt positive Veränderungen mit sich bringen. Für die Campesino/a-Organisationen bedeutet das Friedensabkommen daher auch nur einen Ansatzpunkt für ihre Forderungen nach würdevollen Lebensverhältnissen. Der alltägliche Kampf um Land wird in den einzelnen Gemeinden weitergehen. Und angesichts der Widerstände werden diese einen langen Atem brauchen!

KASTEN:
Am 29. November 1997 kehrten aus Mexiko erstmals 46 guatemaltekische Familien in ihre Heimat zurück, die zu der Gruppe von Flüchtlingen gehörten, die von offizieller Seite nicht anerkannt waren. Auf ihrer Flucht vor der ‘Politik der verbrannten Erde’ in den 80er Jahren hatten viele von ihnen ihre Papiere verloren oder waren gezwungen, ihre guatemaltekische Identität zu verheimlichen, da die mexikanischen Behörden sie sonst zurückgeschickt hätten. Im Gegensatz zu den meisten anerkannten Flüchtlingen lebten sie nicht in Flüchtlingslagern, sondern verstreut in mexikanischen Gemeinden. 1992 gründete sich ARDIGUA (Vereinigung nicht anerkannter Flüchtlinge Guatemalas) als Vertretungsorganisation dieser Menschen. Den ersten großen Erfolg erzielte ARDIGUA, als schließlich nach zähen Verhandlungen ab 1994 auch nicht anerkannte Flüchtlinge das Abkommen vom 8.10.92 geltendmachen konnten. Dieses Abkommen zwischen den anerkannten guatemaltekischen Flüchtlingen und der Regierung garantiert die würdevolle und kollektive Rückkehr aus dem Exil und ermöglicht den Zugang zu „revolvelten“ Krediten. Das bedeutet, daß die Zinsen nicht an den Kreditgeber gehen, sondern in den Kreditnehmergemeinden verbleiben. Im August 97 forderte ARDIGUA Präsident Arzú abermals zur Befürwortung einer Kreditvergabe auf und wandte sich an die Öffentlichkeit, um auf die schwierige Situation in Chiapas hinzuweisen. Nachdem frühere Versuche, eine Finca zu erwerben, aus verschiedenen Gründen gescheitert waren, erhielt ARDIGUA den Kredit und unterzeichnete am 25.9.97 den Kaufvertrag für die Finca Buenos Aires. Diese liegt im Bezirk Nuevo Progreso, im Departement San Marcos, an der Pazifikküste in 1000 Meter Höhe. Die mexikanische Grenze ist 50 km entfernt. Die geflüchteten Campesinos wollten an die fruchtbare Südküste, da hier höhere Erträge zu erzielen sind, aber es war für ARDIGUA nicht leicht, neben den Kaffeeplantagen der Großgrundbesitzer Land zu erwerben. In Buenos Aires gibt es bis jetzt ausschließlich Kaffeepflanzungen. Das wird sich jedoch ändern, da die Campesinos zunächst ihre eigene Versorgung sichern wollen und desweiteren eine Diversifizierung anstreben, um eine Unabhängigkeit von den Kaffeeweltmarktpreisen zu erlangen. Die Widerstandsbereitschaft der Agraroligarchie gegen die Ansiedlung von ARDIGUA Flüchtlingen ist besorgniserregend. Männer, die auf der Finca arbeiteten, wurden kurz vor Eintreffen der Familien von Unbekannten mit Messern verletzt und beschimpft. Außerdem konnten ARDIGUA-Delegierte einem Überfall nur knapp entkommen. Von weiteren Übergriffen wird ebenfalls angenommen, daß sie von den Großgrundbesitzern ausgehen. Isabella Kalthofen

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