Chile | Nummer 305 - November 1999

Lauter kleine Garzóns

Seit der Verhaftung Pinochets kommt in Chiles Justiz einiges in Bewegung

Verfahren gegen ehemalige Militärs werden neu aufgerollt oder überhaupt erst angestrengt. Neubesetzungen an höheren Gerichten haben dazu geführt, daß das Verschwindenlassen von Personen nicht mehr wie selbstverständlich amnestiert wird. Derweil werden auch auf politischer Ebene die Karten um die ungesühnten Verbrechen der Diktatur neu gemischt: Ein runder Tisch soll eine Minimallösung der Menschenrechtsfrage liefern.

Claudius Prößer

Humberto Gordon Rubio kommt nicht zur Ruhe. Im Militärhospital von Santiago stehen die BesucherInnen Schlange, die dem General im Ruhestand ihre Solidarität bezeugen wollen: Pensionierte und aktive Offiziere, ultrarechte Politiker, Unternehmer, Pinochet-UnterstützerInnen und Militärgeistliche geben sich die Klinke in die Hand. Selbst der Erzbischof von Santiago, Francisco Javier Errázuriz, teilte ihm telefonisch mit, daß er sich persönlich für sein weiteres Schicksal einsetzen werde. Das Krankenhaus wird Gordon so schnell nicht verlassen; seit Mitte September steht er dort unter Arrest.
Gordon ist damit einer der prominentesten „Untersuchungshäftlinge“ in einer Reihe von Offizieren, gegen die im Laufe der vergangenen Monate Strafverfahren aufgenommen wurden. Als ehemaligem Direktor des Geheimdienstes CNI Anfang der 80er Jahre wird ihm die Beteiligung an diversen Verbrechen zur Last gelegt. Der Fall, der den Ausschlag zu seiner Arrestierung gab, ist die Ermordung des Gewerkschaftlers Tucapel Jiménez im Jahr 1982. Dieser hatte damals versucht, einen breiten gewerkschaftlichen Widerstand gegen Pinochets Regime zu organisieren.

Bewegung nach 17 Jahren Stillstand

Dabei wurden die gerichtlichen Ermittlungen in diesem Fall schon aufgenommen, als die Schüsse auf Jiménez gerade gefallen waren. Der zuständige Untersuchungsrichter von Pinochets Gnaden, Sergio Valenzuela, hatte freilich 17 Jahre lang das Verfahren verschleppt und keine Anstalten gemacht, zu der Aufklärung dieses Verbrechens mit hohem Symbolcharakter etwas Substantielles beizutragen. Das änderte sich nun schlagartig, als der Posten von Valenzuela am Berufungsgerichtshof im April dieses Jahres mit dem Richter Sergio Muñoz neu besetzt wurde. Der 42jährige Muñoz rollte das Verfahren neu auf und begann, gegen zwölf Offiziere zu ermitteln, die als Funktionäre der CNI beziehungsweise des Heeresgeheimdienstes DINE die mutmaßlichen Urheber des Attentats auf Jiménez waren. Mit Gordon, dessen Ex-Vize Brigadier Roberto Schmied und dem ehemaligem Leiter der DINE, General i.R. Ramsés Alvarez Scoglia, die ebenfalls unter Arrest gestellt wurden, wagte sich Muñoz schließlich auch an die Hauptverantwortlichen heran.
Die chilenische Heerführung knirschte vernehmlich mit den Zähnen, als der gegen Gordon verhängte Arrest ausgerechnet kurz vor der großen Militärparade bekannt wurde, mit der die Uniformierten an jedem 19. September ihre Macht demonstrieren. Die Reaktionen von Militärs, Vertretern der rechten Parteien und den ihnen nahestehenden Presseorganen ließen auf tiefe Verunsicherung schließen: Als „lauter kleine Garzóns“ wurden Muñoz und andere seiner Kollegen bezeichnet, von einer „erbitterten Offensive der Justiz gegen die chilenischen Streitkräfte“ war die Rede.

Generationswechsel an den Gerichten

Damit haben die Autoren solcher Aussagen nicht einmal ganz unrecht. In drei gravierenden und hochsymbolischen Fällen von Menschenrechtsverletzungen sind Richter inzwischen bei Klagen initiativ geworden, die seit geraumer Zeit anhängig waren. Andere sind dazugekommen und werden mit einer Konsequenz bearbeitet, die vor einem Jahr noch undenkbar gewesen wäre. Es handelt sich dabei um die Fälle „Tucapel Jiménez“, die „Operación Albania“, bei der nach dem Attentat auf Pinochet im Jahre 1986 mutmaßliche Mitglieder der Guerilla FPMR (Frente Patriótico Manuel Rodríguez) ermordet worden waren; insbesondere aber die „Caravana de la Muerte“, die „Todeskarawane“ des Generals Arellano Stark, die im Anschluß an den Putsch duch das Land gezogen war und über 70 Menschen, meist Sozialisten und Kommunisten, nach Gutdünken exekutiert hatte. Daß inzwischen an die 40 – ehemalige und im Dienst befindliche – Offiziere in diesem Zusammenhang prozessiert werden und sich teilweise in Untersuchungshaft befinden, ist neben Richter Muñoz vor allem seinem Kollegen Juan Guzmán zu verdanken. Guzmán, der in Sachen „Caravana de la Muerte“ ermittelt, ist Untersuchungsrichter am Obersten Gerichtshof Chiles. Dessen personelle Zusammensetzung hat sich in den letzten Monaten stark verändert: Sechs Richter mußten auf Veranlassung der Regierung in den Ruhestand gehen, da sie die Altersgrenze von 75 Jahren überschritten hatten; neue wurden aufgenommen, darunter einige, die in Menschenrechtsfragen als fortschrittlich gelten.
Eine Entscheidung der sensationellen Art traf der Oberste Gerichtshof dann Ende August. Bislang hatten die Richter bei Fällen, die unter der Diktatur Verschwundene oder Hingerichtete betrafen, umgehend das Amnestiegesetz angewendet. Nachdem sich im Rahmen des „Todeskarawanen“-Prozesses zwar die Auffassung mancher Mitglieder nicht hatte durchsetzen können, internationale Menschenrechtsabkommen seien gegenüber dem von Pinochet 1978 dekretierten Amnestiegesetz von Vorrang, gab der Gerichtshof implizit einer Forderung statt, die von den Organisationen der Opfer seit Jahr und Tag erhoben wird: Die Verschleppung von Personen sei als fortwährende Entführung und damit als ein Dauerdelikt zu beurteilen, auf welches das Amnestiegesetz nicht anwendbar sei. Die Konsequenzen dieser völlig neuen Interpretation sind noch gar nicht abzusehen.

Runder Tisch mit “vertraulichem Ambiente”

Vor dem Hintergrund des drohenden Verfahrens gegen Pinochet ziehen auch Regierungsvertreter neue Register der Vergangenheitsaufarbeitung. Auf Initiative von Verteidigungsminister Pérez Yoma konstituierte sich Ende August ein Runder Tisch (Mesa de Diálogo), an dem sich VertreterInnen der Streitkräfte, von Menschenrechtsvereinigungen, Kirchen und anderen gesellschaftlichen Gruppen gegenübersitzen, um, so die offizielle Devise, „in einem vertraulichen Ambiente ohne äußeren Druck und Einflußnahme gemeinsam der Wahrheit näherzukommen“. Konkrete Ergebnisse hat dieser Dialog noch nicht vorzuweisen; über die Frage, ob es bereits eine Errungenschaft darstellt, daß Täter und Opfer am gleichen Tisch sitzen, scheiden sich erwartungsgemäß die Geister. Für engagierte MenschenrechtsanwältInnen wie Roberto Garretón, Pamela Pereira oder José Zalaquett, die sich auf das Abenteuer „Runder Tisch“ eingelassen haben, gibt es jedenfalls nichts zu lachen. Während General Juan Carlos Salgado, der Repräsentant des Heeres am Runden Tisch, mahnt, die „Suche nach der absoluten Gerechtigkeit“ gefährde „den gesellschaftlichen Frieden in Chile“, schreit die Linke Verrat: „Wie können sich bloß Menschenrechtsanwälte“, so das Editorial der Zeitschrift Punto Final, „mit denen an einen Tisch setzen, die gefoltert, gemordet und eingekerkert haben?“
Freilich haben bereits einige TeilnehmerInnen – wie etwa Garretón – Plädoyers abgegeben, die nicht nur die Militärs sondern auch die Regierung scharf angreifen – vielleicht auch, um dem Vorwurf des Kompromißlertums offensiv zu begegnen. Die Entscheidung, an der Runde teilzunehmen, so Garretón, sei ihm “weitaus schwerer gefallen als die, sich nach 1973 für die Opfer der Diktatur einzusetzen“. Vehement protestierte der Anwalt gegen den von Pérez Yoma anvisierten Deal, das Problem der Menschenrechtsverletzungen ein für allemal ad acta zu legen, indem die militärisch besetzte Seite des Tisches Auskunft über den Verbleib der sterblichen Überreste der Verschwundenen gäbe. Ein in der Tat seit jeher für die Angehörigen wichtiger Punkt. Aber eben nur ein mögliches Zwischenergebnis, das die immer wieder proklamierten Ziele „Wahrheit und Gerechtigkeit“ keineswegs zufriedenstellend erfüllt: „Das Thema Menschenrechte ist ein politisches, rechtliches und moralisches, aber kein archäologisches oder bestattungstechnisches“, erzürnte sich Garretón und nahm bei der Beschreibung der zur Debatte stehenden Fälle kein Blatt vor den Mund. Seine Einschätzung der von den Streitkräften begangenen Menschenrechtsverletzungen als „systematisch“ quittierte der von den carabineros an den Tisch entsandte General Reinaldo Ríos mit dem Kommentar, davon könne nicht die Rede sein, andernfalls hätte es weitaus mehr Opfer gegeben. Dieser Zynismus zeigt, wie weit entfernt die ungleiche Runde vom Ziel der gesellschaftlichen „Aussöhnung“ entfernt ist, mit der sich die Regierung so gerne schmücken würde.

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