Literatur | Nummer 441 - März 2011

Lebensnahes Bild

Alberto Gerchunoffs historischer Erzählungsband Jüdische Gauchos zeugt von der jüdischen Einwanderung nach Argentinien

Valentin Schönherr

Argentinien war 2010 Schwerpunktland der Frankfurter Buchmesse: ein Glücksfall für einige Werke, die sonst wohl kaum übersetzt worden wären. Dazu gehört sicherlich auch der Erzählungsband Jüdische Gauchos, mit dem Alberto Gerchunoff Anfang des 20. Jahrhundert ein lebensnahes Bild der jüdischen Einwanderung nach Argentinien vermitteln wollte.
In der argentinischen Tageszeitung La Nación begann 1908 der Abdruck einer Reihe von Erzählungen, die vom Leben jüdischer Immigranten in der Provinz Entre Ríos handelten. Ihr Autor Alberto Gerchunoff, 1884 in Russland geboren, gehörte als fünfjähriges Kind zu der Gruppe des ersten Kontingents europäischer Juden, die vom argentinischen Staat Land erhielten. 1895 zog die Mutter mit ihm nach Buenos Aires, wo er sich bald ganz dem Journalismus und der schriftstellerischen Arbeit widmete.
1910, zur Hundertjahrfeier der Republik Argentinien, gab Gerchunoff diese Erzählungen unter dem Titel Los gauchos judíos als Buch heraus. Im Jahr der Zweihundertjahrfeier sind sie nun erstmals ins Deutsche übersetzt worden. Versehen mit einem aufschlussreichen Vorwort, einem Glossar und nicht zuletzt einem Text von Jorge Luis Borges über den von ihm sehr geschätzten Gerchunoff, ist dieses Buch ein wichtiger Beitrag zur Kenntnis nicht nur der jüdischen, sondern eben gerade auch der gesamtargentinischen Migrations-, Kultur- und nicht zuletzt Literaturgeschichte.
Gerchunoff schrieb diese Texte auf Spanisch, nicht auf Jiddisch, sie sind also an das nichtjüdische Publikum gerichtet gewesen. Auch wenn es ihm sicherlich um die Darstellung einer positiven Außenwirkung ging und manches Mal die Idylle überwiegt: Gerchunoffs erzählerisches Geschick macht das Leben der ImmigrantInnen tatsächlich vorstellbar. Da geht es um die Auswanderungsplanungen in Russland zur Zeit der antijüdischen Pogrome, um die Ankunft in der neuen Welt, er erzählt von der ersten Ackerfurche, von Festen, Zeremonien und Legenden, von der Liebe, von Konflikten und Verständigungsschwierigkeiten. Vor allem mit den Gauchos bekommen es die Einwanderer zu tun, und zwischen Ablehnung, Bewunderung und Nachahmung findet bald so etwas wie Assimilation statt.
In der Provinz Entre Ríos konnten sich die jüdischen Einwanderer willkommen fühlen, stellte ihnen die argentinische Regierung doch 600.000 Hektar Land zur Verfügung. Auch in anderen Provinzen lebten die Neuankömmlinge zunächst von der Landwirtschaft. Das hat sich seither grundlegend geändert, wie eine Ausstellung im Jüdischen Museum in Frankfurt am Main im vergangenen Jahr eindrücklich gezeigt hat. Der Katalog, der immer noch kostenlos zu beziehen ist, gibt darüber auf vielfältige Weise Auskunft.
Hier finden sich wichtige Stationen aus der Geschichte der argentinischen Juden, aber auch kommentierte Porträtfotografien von Holocaust-Überlebenden, die vor oder nach dem Krieg nach Argentinien ausgewandert sind. Überraschungen hält zudem das heute sehr vielfältige jüdische Vereinsleben oder eine Abhandlung über die Bedeutung von Juden für den Tango bereit.

Alberto Gerchunoff // Jüdische Gauchos // Aus dem Spanischen von Stefan Degenkolbe // Verlag Hentrich & Hentrich // Berlin 2010 // 191 Seiten // 17,90 Euro
Judíos argentinos / Juden in Argentinien // Zweisprachiger Katalog der Ausstellung von 2010 im Jüdischen Museum Frankfurt am Main. Gegen Übernahme der Versandkosten zu beziehen über info@juedischesmuseum.de

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