Argentinien | Nummer 319 - Januar 2001

LFC – Los Fabulosos Cadillacs

Rock Latino aus Argentinien

Die LFC gehören mittlerweile nicht nur in Lateinamerika zu den Klassikern des Skas. Sie waren auch wegweisend für eine ganze Musikszene. Ihr musikalischer Werdegang zeigt viel von der Offenheit für verschiedenste Musikstile, von immer neuer Experimentierfreudigkeit und künstlerischem Reifen.

Diego Siegelwachs

Es war Mitte der achtziger Jahre, als man in Argentinien anfing, Ska zu hören. Eine vorher gänzlich unbekannte Gruppe befreundeter Musiker, die sich Los Fabulosos Cadillacs nannte, hatte gerade ein wenig Bekanntheit mit ihrer Single „Silencio Hospital“ erreicht. Zur selben Zeit erlebte auch der argentinische Rock ein Comeback, nicht zuletzt dank des unermüdlichen Senders Rock & Pop 106.3. Und immer wieder spielte man Klassiker wie Charly García und Spinetta, Fito Paez, Piero und Miguel Mateos Zas, Raúl Porchetto oder Alejandro Lerner. Mit dem Ende der brutalsten Militärdiktatur der Geschichte Argentiniens tauchten dort neue musikalische Strömungen auf: Manche wie etwa Soda Stereo oder Virus lehnten sich in ihrer romantisierenden Ästhetik an den Mainstream im Stil von Duran Duran oder David Bowie an – unter den Fittichen von Gruppen wie Sumo oder Los Abuelos de la Nada erwachte aber auch ein trashiger Sound zum Leben, inspiriert durch die britischen Varianten von Reggae, Punk und Ska (Madness, The Specials, The Clash).
Die erste Platte der Fabulosos Cadillacs, „Bares y Fondas“, kam 1986 in die Läden. Als ein Jahr später das Album „Yo te avisé“ folgte, war ein neuer Musikstil geboren. Der Song „El genio del dub“ ist bis heute aus der lateinamerikanischen Musik nicht mehr wegzudenken. Damals war es allerdings ein anderer Song, der die Charts und das argentinische Publikum eroberte: „Mi novia se cayó en un pozo ciego“.

Lateinamerikanische Rhythmen im Skagewand

Ende der Achtziger bestimmen drei Strömungen die argentinische Rock-Szene Die „Klassiker“, die „Modernen“ und die „Reggae-Ska-Latinos“. Letztere wurden von den Cadillacs vorangetrieben genauso wie von Reggae-Gruppen wie Los Pericos, den Los Twist mit einer Art „Ska light“ und von Los Intocables, eine unverblümte, sozialkritische Variante des Ska am Río de la Plata. Auch die Auténticos Decadentes huldigen in ihren ersten Aufnahmen dem Ska. In der lateinamerikanischen Nachbarschaft bedienen sich die chilenischen Prisioneros und Desorden Público aus Venezuela der neuen Ska-Rhythmen, um ihre Songs auf Trab zu bringen.
In der dritten, 1988 erschienenen Platte der Cadillacs „Ritmo Mundial“experimentiert die Band verstärkt mit den „Heimatklängen“ des Kontinents, mischt traditionelle Rythmen nach Belieben mit Ska-Themen. Keine Geringere als die Salsa-Sängerin Celia Cruz begleitet Vicentico, den Bandleader in „Vasos Vacíos“. Dass eine solche Wendung in einem Land wie Argentinien, das seine kulturelle Eigenart beinahe zwanghaft aus europäischen Wurzeln ableitet, die Popularität der Cadillacs zunächst ein wenig schmälert, ist nicht verwunderlich. „El Satánico Dr. Cadillac“ (1989) und „Volumen 5“ (1990) schreiben diese Linie fort. Doch trotz einiger erfolgreicher Songs befinden sich die Cadillacs mit diesen Alben immer noch auf musikalischer Identitätssuche.

Das ganze Album ein Genuss

1992 erscheint das – nicht nur nach Ansicht des Autors, sondern auch der Gruppe – beste Album der Cadillacs: „El León“. Songs wie „El León Santillán“, „Gitana“, „Desaparecidos“ (eine hervorragende Cover-Version von Rubén Blades) oder „Siguiendo la Luna“ dominieren die Radiostationen. Das ganze Album ist ein Genuss: Jeder Song ein Hit – und doch wieder nicht, denn diese Lieder sind musikalisch und inhaltlich zu herausragend, als dass man sie mit der kommerziellen Kategorie des “Hits” umschreiben könnte. Und dennoch, paradox, aber wahr, ist dies die Cadillacs-Platte, die sich bis heute am schlechtesten verkauft.

Die El-Matador-Dosierung

Im Jahr 1993 erscheint ein „Best of“ der Cadillacs mit zwei bisher unveröffentlichten Songs: „El Matador“ und „Quinto Centenario“. „El Matador“ festigt den internationalen Ruf der Gruppe: Brasilianischer Batucada-Rhythmus, gemischt mit Reggae, Ska und zündenden, politisch anklagenden Texten. „El Matador“ beinhaltet offenbar die perfekte Kombination, die exakte Dosierung. Es ist die Mischung, die ihre Musik bis heute prägt.
Mit „Rey Azúcar“ wird den ungeduldigen Fans zwei Jahre später ein Album mit noch akzentuierteren lateinamerikanischen Klänge präsentiert. Das Lied „Mal Bicho“ wird sofort zum Hit. Auch wenn dieses Album in der Originalität des Stils nicht ganz mit „El León“ mithalten kann, zeichnet es sich durch seine potente Rhythmik aus. Der Einfluss von Flavio, dem Bassisten der Band, tritt stärker zu Tage. In einigen Themen und Passagen wird eine Annäherung an den Hardrock deutlich. In dieser Zeit wird die Globalisierung auch auf dem lateinamerikanischen Musikmarkt spürbar. Miami ist fortan die Achse, um die sich die kommerzielle Kulturproduktion Lateinamerikas dreht. Von dort wird die Latino-Ausgabe von MTV ausgestrahlt. Das hat einen radikalen Wechsel der Produktionsbedingungen und Musikkreisläufe auf dem Kontinent zur Folge.
Als es gerade so aussah, als ob sich die Cadillacs auf ihren Lorbeeren ausruhen würden, erschien überraschend ein neues Album: „Fabulosos Calavera“. Der erste Eindruck der altgedienten Fans war fürchterlich. Erst nach zwei- oder dreimaligem Hören, nachdem sich die eigenwilligen Themen im Ohr festgesetzt hatten, ließen sich die barocken, mit Metaphern überladenen Kompositionen verdauen. Die vertrauten Ska- und Latino-Klänge tauchen eher unvermittelt am Rande auf, mischen sich mit Flavios Hardcore. Jazz und Fugen gesellen sich hinzu, Musikfetzen der Siebziger mischen sich ein, Acid-Jazz, Punkrock, Pulp-Fiction-Klänge stiften willkommene Verwirrung, und auch die Präsenz des neuen Band-Gitarristen macht sich deutlich bemerkbar.
Der Tango, in Buenos Aires wieder schwer in Mode, hat die Cadillacs zu einem ganzen Thema im freien Stil Piazzollas inspiriert, und auch die Ästhetik des Plattencovers steht ganz im Zeichen des Tango. Dies ist die Band von Vicentico und Flavio, die Lieblingsgruppe von MTV Latina, musikalisch gereift und rentabel, eine Gruppe, die sich über das vergangene Jahrzehnt hinweg stetig entwickelt und auch von einigen ihrer Mitglieder getrennt hat.

Neues zum Millenium

Zum Wechsel des Milleniums und auch zum Ende einer politischen Epoche in Argentinien gab es praktisch keine argentinische Band, die nicht ein „Abschiedsalbum“ veröffentlichte. Die Cadillacs steuerte „La Marcha del Golazo Solitario“ (1999) bei, mit dem sie sehr nah an dessen Vorgänger bleiben. Insgesamt ist der Stil experimenteller und weniger einheitlich als auf „Calavera“, etwas kommerzieller orientiert, aber auch reich an subtilen Schattierungen. Eine runde Sache wird daraus erst durch die bemerkenswerte Qualität von Sound, Arrangements und melodischen Einfällen.

Die Tse-Tse-Fliege

Wirklich neu an dieser zuletzt veröffentlichten Produktion ist der wachsene Einfluss der „Murga“, ein Rhythmus, der während des Karnevals am Río de la Plata zu Hause ist. Lange Zeit wurde er hauptsächlich in Uruguay gespielt; jetzt hat ihn Buenos Aires wiederentdeckt und zur neuen Mode erklärt. Andere neue und erfolgreiche Bands wie La Mosca Tsé-Tsé oder Bersuit Bergarabat bedienen sich schon mit Erfolg dieser musikalischen Rezeptur.
Einige Songs der Cadillacs haben es inzwischen zu dem zweifelhaften Ruhm gebracht, als Jingles für Fernsehsendungen und Supermärkte oder als Fußballhymne herzuhalten: Zum Beispiel mit „En la vida no queremos sufrir, no, no…“ („Im Leben wollen wir nicht leiden, nein, nein…“), wie der Refrain des letzten Hits „La Vida“ besagt.
Nein, wer wollte das auch schon – aber was hecken die Cadillacs wohl gerade aus? Zuerst der Ska, dann eine eigenwillige Version lateinamerikanischer Musiken, schließlich eine reichhaltige Stilvielfalt aus Hardrock, Jazz, Tango und Murga. Und was kommt jetzt?

Übersetzung: Claudios Prößer

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