Identität | Nummer 315/316 - Sept./Okt. 2000

Lieber Einigkeit als Wahrheit

Identitätskonstruktion in El Salvador nach dem Bürgerkrieg

Am 16. Januar 1992 wurde der 12-jährige Bürgerkrieg in El Salvador per Friedensabkommen beendet. Aber acht Jahre nach Unterzeichnung des Friedensabkommens ist El Salvador noch immer ein gespaltenes Land. Dennoch wird viel von der salvadorianischen Identität geredet. Wie erfolgreich sind also die Bemühungen, die Wiedervereinigung der salvadorianischen Gesellschaft auf symbolischer Ebene voranzutreiben?

Markus Müller

Maximiliano Hernández Martínez und Oscar Arnulfo Romero heißen die beiden bedeutendsten Persönlichkeiten der salvadorianischen Geschichte. Dieses Ergebnis hat zumindest die Kulturzeitschrift Tendencias bei einer Umfrage ermittelt, als sie illustre Figuren des öffentlichen Lebens nach der „wichtigsten salvadorianischen Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts“ fragte. Ein General und ein Erzbischof: der erste ein Mörder, der 1932 als Präsident einen kommunistischen Aufstand niedermetzeln ließ, wobei innerhalb von wenigen Tagen 30.000 Menschen getötet wurden; der zweite ein Heiliger, der in Zeiten brutaler Repression für soziale Gerechtigkeit und Demokratie eingetreten ist. Seine „Option für die Armen“ hat er 1980 mit dem Leben bezahlt.
Diese symbolische Spaltung durchzieht auch die hohe Politik. Während der Bürgermeister von San Salvador eine nach Romero benannte Straße feierlich einweiht, hängt in jedem Amtszimmer der Regierungspartei ARENA ein Bildnis von Oscar Romeros Mörder, sozusagen einem Nachfahren des Generals: Mayor Roberto D’Aubuisson, dem Gründer der Regierungspartei. Dazu dröhnt die Parteihymne vom Wahlkampfwagen: „El Salvador wird das Grab der Roten sein.“

Friedensabkommen und Identität

Das Friedensabkommen von 1992 hatte sich die Wiedervereinigung der salvadorianischen Gesellschaft und die Errichtung einer demokratischen politischen Kultur als höchste Ziele gesetzt. Auf Regierungsseite ist vor allem das Erziehungsministerium bemüht, dieser Pflicht nachzukommen. Schließlich ist die Bildungs- und Kulturpolitik ein wichtiges Politikfeld, wo Identitätsmodelle verhandelt und politische Kultur gebildet werden.
1995 veröffentlichte die von der Regierung eingesetzte „Nationale Kommission zu Erziehung, Wissenschaft und Entwicklung“ ein Abschlussdokument, in dem die Bildungs- und Kulturpolitik in El Salvador auf ein philosophisches Fundament gestellt wird. Pate stand hier niemand Geringeres als der brasilianische Befreiungspädagoge Paulo Freire mit seiner humanistisch-marxistisch inspirierten „Pädagogik der Unterdrückten“. Kein Wunder also, dass die extreme Rechte das Treiben der Kommission mit Argwohn betrachtet hat. In dem Dokument finden sich denn auch einige beachtliche Formulierungen zum Thema Identität. So wird hier die Abkehr von essentialistischen Konzepten gefordert und die nationale Identität als wesenshaft oder gar als Volksseele begreifen. Stattdessen wird Identität als „Beziehung zwischen verschiedenen Gruppen“ und als „Resultat eines Dialoges“ verstanden. Die „Nationale Einheit“ soll nicht „geheiligt“, sondern die „Diversität anerkannt“ werden. Dazu wird die bisherige Praxis der offiziellen Geschichtsschreibung als „Verschleierung“ und „ideologisch verkürzt“ kritisiert. Schüler sollten die Textbücher nicht als última ratio verstehen, sondern ein kritisches Bewusstsein herausbilden. Geschichtsschreibung solle endlich „objektiv, leidenschaftslos, analytisch und professionell“ sein – wissenschaftlich eben.
Realisiert wurde dieser Anspruch zum Beispiel in der Veröffentlichung von historiographischen Werken. So hat der Verlag des Nationalen Rates für Kultur und Künste (CONCULTURA), der dem Erziehungsministerium angehört und mittlerweile von dem Ex-Guerillero Miguel Huezo Mixco geleitet wird, in den letzten Jahren Studien der Regionalgeschichte veröffentlicht – unter anderem über die zum Weltkulturerbe erklärte Kleinstadt Suchitoto, die in dem im Bürgerkrieg umkämpften Departement Cuzcatlán liegt.
Aber auch in Bereichen der ehemals stark ideologisierten Geisteswissenschaften gibt es die Tendenz, die Ideologie zurückzudrängen. Der Literaturwissenschaftler Rafael Lara Martínez hat mit seiner 1994 erschienenen Anthologie des bekanntesten salvadorianischen Dichters und Revolutionärs, Roque Dalton, hier ein Zeichen gesetzt. Ganz explizit möchte er sich in seiner Arbeit gegen die Durchdringung und Instrumentalisierung von Kunst und Kultur durch die Politik wenden. Mittlerweile ist bei CONCULTURA ein weiterer Band mit literaturwissenschaftlichen Arbeiten zu Dalton und anderen SchriftstellerInnen erschienen. Aber auch ältere AutorInnen wurden in neuen Gesamtausgaben und einführenden Studien wieder aufgelegt, unter anderem das Werk des Erzählers Salarrué. Er beschrieb in seinen Texten vor allem das Leben der ländlichen und der indigenen Bevölkerung, die 1932 massakriert wurde. Sein Werk bietet damit Bezugspunkte für eine, auch von CONCULTURA betriebene Politik der Wiederentdeckung des indigenen Erbes El Salvadors. Das Erziehungsministerium investiert beispielsweise eine ordentliche Stange Geld in die Finanzierung archäologischer Ausgrabungen.

Humanismus versus Nationalismus

Doch das neuentdeckte Interesse in den Bereichen Bildung und Kultur entstammt eben nicht nur einem humanistischen, sondern vor allem auch einem nationalistischen Impetus. So soll in den neuveröffentlichten Geschichtsbüchern die „einzig wahre Geschichte“ El Salvadors vermittelt werden. Geschichte ist aber ein zentraler Bestandteil von kollektiver Identität. In ihrer nationalistischen Version soll Geschichte einigen, nicht aufklären. Besonders deutlich wird dies beim Thema Bürgerkrieg, der in den Bänden freilich nur wenige Seiten einnimmt. Sicherlich ist es bereits ein Fortschritt, den Bürgerkrieg nicht mehr auf das Werk einer brutalen Bande von Terroristen und Subversiven zu reduzieren, sondern soziale und politische Ursachen anzuerkennen. Die Frage, welche Personen und Institutionen die oligarchischen Strukturen aufgebaut, getragen und mit verbrecherischen Mitteln verteidigt haben, wird jedoch weiterhin systematisch ausgeblendet. Erzbischof Romero hatte die Wahrheit seinerzeit beim Namen genannt, und genau aus diesem Grund entzünden sich an ihm noch heute wüste Polemiken. Das von konservativen Intellektuellen wie David Escobar Galindo vorgetragene Credo „Wir alle sind für den Krieg verantwortlich“ hingegen ist zwar nicht wahr, aber es einigt.
Auch die Kulturpolitik ist von einem nationalistischen Anliegen durchdrungen. So dient die von CONCULTURA aufgelegte Reihe der „Klassiker der salvadorianischen Literatur“ zum einen der Integration ehemals als „unsalvadorianisch“ diffamierter Schriftsteller, wie eben jenes Roque Dalton. Zum anderen gehört die Idee eines nationalen Literaturkanons traditionell zu den wichtigsten Instrumenten bei der Konstruktion nationaler Identitäten.
Auch die Wiederentdeckung der indigenen Wurzeln ist identitätspolitisch von Bedeutung. Hier wird versucht, die salvadorianische Identität in der prähispanischen Vergangenheit zu verankern. Je älter ein Volk, desto besser. Außerdem sollen die Indígenas diskursiv in die salvadorianische Nation integriert werden. Dazu braucht es aber indigener Repräsentationen innerhalb das nationalen Symbolgefüges. Interessanterweise nannte Präsident Francisco Flores in der zitierten Umfrage den Erzähler Salarrué einen persönlichen Helden. Darüber hinaus ist natürlich ein intaktes Indianerdorf ein prima Ausflugsziel für entfremdete Städter, die nach ihren Wurzeln suchen und gleichzeitig ihr Land durchqueren, kennen lernen und sich auf diese Art und Weise aneignen.
Ähnliches gilt für die Bemühungen, das völlig verwahrloste „historische Zentrum“ der Hauptstadt San Salvador wieder für einen Stadtbummel und einen Besuch des gerade restaurierten Präsidentschaftspalastes oder des Nationalen Museums attraktiv zu machen. An diesen „nationalen Gedächtnisorten“ soll der Wind der Geschichte allen SalvadorianerInnen ins Gesicht wehen.

Hochkultur versus Populärkultur

Kritiker der staatlichen Kulturpolitik betonen vor allem die ungleiche Verteilung bei der Förderung. Es sind eben die repräsentativen Projekte der Hochkultur, die von CONCULTURA profitieren, während die Populärkultur eher stiefmütterlich behandelt wird. Während des Bürgerkrieges sind gerade in den Konfliktgebieten eine große Zahl von Musikgruppen oder Dichterwerkstätten entstanden, in denen die Erfahrungen des Krieges kreativ verarbeitet wurden. Viele dieser Initiativen und Projekte sind nach 1992 eingegangen, auch weil die Infrastruktur zusammengebrochen ist, von der sie getragen wurden. CONCULTURA setzt sich jedoch kaum für deren Überleben, ein Umstand, den auch Miguel Huezo Mixco eingesteht. Kaum verwunderlich, waren diese Repräsentationen doch ästhetischer Ausdruck eines bestimmten politisch-militärischen Projektes, das in Misskredit gefallen ist.

Alternative Identitätspolitik

Identitätspolitik wird jedoch nicht nur von staatlicher Seite aus betrieben. Die Feiern zum 20. Jahrestag der Ermordung von Monseñor Romero (vgl. LN 310), die von der vor allem im Bildungsbreich tätigen NRO „Equipo Maíz federführend mitorganisiert wurde, waren nicht zuletzt der Versuch, den Erzbischof als Gründungsfigur eines demokratischen El Salvadors zu präsentieren. In eine ähnliche Richtung weist die Arbeit des „Museums des Wortes und des Bildes“, das der ehemaligen Chef des Guerilla-Senders „Radio Venceremos“ aufgebaut hat. Das Museum bemüht sich ebenfalls um das „historische Gedächtnis“ des salvadorianischen Volkes und organisiert dazu Ausstellungen und veröffentlicht Bücher. Aber im Gegensatz zur offiziellen Geschichtsschreibung stehen dabei in Vergessenheit geratene Figuren oder Ereignisse im Vordergrund. Dazu gehören zum Beispiel die Feministin Prudencia Ayala, die 1930 als einzige Frau in der Geschichte El Salvadors zu einer Präsidentschaftswahl angetreten ist, weil sie für das aktive Wahlrecht für Frauen kämpfen wollte.
Ein weiteres Projekt des „Museums des Wortes und des Bildes“ ist es, auf dem zentralen Parque Cuzcatlán ein Denkmal für die zivilen Opfer des Bürgerkrieges zu errichten. Auch hierfür hat es mit Bürgermeister Silva einen Verbündeten gefunden, aber wie immer fehlt der Stadt bisher das Geld zur Realisierung. In diesem Zusammenhang ist auch die Veröffentlichung eines Buches über das Massaker von El Mozote zu sehen, bei dem 1981 über 1.000 Menschen ermordet wurden. Am diesem Ort steht bereits seit einigen Jahren ein großes Denkmal.

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