Entwicklungspolitik | Nummer 231/232 - Sept./Okt. 1993

Linke Fortpflanzung

Ana Regina Gomes dos Reis, Übersetzung: Karin Gabbert

Eine umfassende Bildung alter Schule wäre eine ideale Voraussetzung, um über “reproduktive Rechte” nachzudenken: Hegel zitieren können, die Einflüsse des napoleonischen Kodexes zu erinnern, ganze lateinische Sätze einzuflechten. Unglücklicherweise gehöre ich zur Generation, die in der kurzlebigen Informationsgesellschaft aufgewachsen ist. Ausgehend von dieser Unwissenheit, die schließlich nicht nur meine ist, beschloß ich einen Ausflug in den Aurélio (der Aurélio entspricht dem deutschen Brockhaus, Anm. dd Red.), immer noch unser wichtigstes Bedeutungswörterbuch und schlug unter dem Stichwort “Recht” (im Original: “direito”) nach.
“Direito” – “Recht” hat im Aurélio zweiundzwanzig Bedeutungen. Merkwürdigerweise bezieht sich die erste Definition auf den Körper: die rechte Seite ist normalerweise die stärkere und beweglichere. Gleich danach werde ich darüber informiert, daß “direito” immer der gleichen Richtung folgt, geradeaus. Daß es nicht krumm bedeutet, sondern aufgerichtet, steif.
Ohne mich mit vulgärpsychoanalytischen Interpretationen des Wörterbuchs aufzuhalten, schlage ich weiter, um zu erfahren, daß was immer der gleichen Richtung folgt, auch integer, rechtschaffen, gerecht und ehrwürdig bedeutet. Und wer sich “recht”, auch ehrlich, offen und aufrichtig verhält. “Recht” ist gerecht, gerade und gesetzmäßig. An dieser Stelle, nach acht Bedeutungen taucht das Gesetz zum ersten Mal auf.
“Recht” ist demnach die legale Befugnis, etwas zu tun oder zu lassen. Ich atme kurz auf, nachdem ich diese ernstzunehmende Definition gefunden habe, da bringt mich die folgende Wahrheit wieder durcheinander, die das unbequeme Wort “Vorrecht” einführt, das an den Besitz von jemandem gekoppelt ist, der im Besitz des Vorrechtes von jemand anderem fordert, etwas zu tun oder zu lassen. Die umfassendste Definition kommt nach diesen Vorbemerkungen: Recht ist die Wissenschaft der notwendigen Normen, die die Taten der Menschen regeln.

Die Leber des Prometheus

Es ist lästig, es immer zu wiederholen: In einer Klassengesellschaft formuliert die dominante Klasse die Gesetze und setzt sie durch. Die Mehrheit muß gehorchen, ob sie sie kennt oder nicht, ob sie ihnen zustimmt oder nicht, ob sie repräsentiert ist oder nicht. In einer Welt, in der neben der Trennung in Klassen auch die der Geschlechter besteht, wird das “Recht” von Männern erdacht, aufgeschrieben und ausgeführt. Sie reden dann im Namen der Menschheit, als ob das menschliche Geschlecht nur aus dem männlichen bestehe. Es ist kein Zufall, daß unbewußt die Begriffe richtig, gerecht, ehrwürdig und aufrichtig mit der rechten Körperhälfte verbunden werden.
Die aktive rechte Körperseite wird von der linken Gehirnhälfte gesteuert, bekanntermaßen die analytische Hälfte. In der rechten Körperhälfte sitzt auch die Leber, Symbol für “Macht” (es ist die Leber des Prometheus, die die Geier fressen). Die linke Körperhälfte, die von der rechten Gehirnhälfte gesteuert wird, ist dementsprechend die rezeptive, verbunden mit der Intuition, mit dem Herzen und der Milz, dem Organ der Freude. Auf mittelalterlichen Abbildungen werden androgyne Wesen als ein König auf der rechten und eine Königin auf der linken Seite dargestellt.

Lechts und Rinks

Nun ist es nötig, im Aurélio unter “links” (esquerdo), der anderen Seite, nachzuschlagen. Gleich zu Anfang finde ich, daß “esquerdo” aus dem Kauderwelschwort “ezquer” entstanden ist. Kauderwelsch heißt soviel wie unverständlich, wirr, scherzhaft. Die erste Bedeutung von “links” ist “die rechts gegenüberliegende Seite”. Schon wieder! “Links” existiert also nicht als es selbst, hat keine Substanz. Beide Worte werden als Adjektive gebraucht, also als Eigenschaften, die jemandem oder etwas zugeschrieben werden. Aber zu sagen, daß “links” das Gegenteil von “rechts” ist, heißt, daß der Bezugspunkt, das Normale, das Normative “rechts” ist. Das Adjektiv verhält sich also wie eine Substantiv.
Das alles wäre ulkig, wenn es nur ein Wortspiel wäre und nicht Ideologien ausdrücken würde, die die Realität beeinflussen, die Regeln diktieren, aus einem Adjektiv ein Substantiv machen.
Es ist nicht zufällig, welche Synonyme “links” zugeschrieben werden: schräg, krumm, quer, falsch, hinterhältig, gewunden, unbeholfen, linkisch, unglücklich, peinlich, beengt.
In der langen Liste der Bedeutungen für “Recht” bezieht sich keine auf die “reproduktiven Rechte”. Dieser Begriff ist also so neu, daß er noch nicht ins Wörterbuch aufgenommen wurde. Ich weiß nicht, ob die Feministinnen diesen Begriff erfunden haben, oder die ExpertInnen, die sich darauf spezialisiert haben, die Regeln der menschlichen “Reproduktion” zu erforschen, zu regulieren, zu definieren und zu diktieren. Es gibt viele dieser ExpertInnen: GynäkologInnen, GeburtshelferInnen, GenetikerInnen, EugenikerInnen, SoziologInnen, AnthropologInnen, MinisterInnen, RechtsanwältInnen, RichterInnen, TechnikerInnen der Weltbank, Stiftungen, BürokratInnen des IWF, die Pharmaindustrie und nicht zu vergessen der Papst.

Die Produktion der Reproduktion

Die Frage, wer die “reproduktiven Rechte” wohl erfunden haben mag, entstand aus meiner Manie, immer wissen zu wollen, warum bestimmte Wörter ausgesucht werden und andere nicht. Schon die Wahl des Wortes “Reproduktion” gibt zu denken. Eine Freundin mit der gleichen Manie, Gena Corea, sagt in ihrem Buch “Muttermaschine”: “Heute benutzen wir eine Metapher aus der Fabrik, “Reproduktion”, um die Weitergabe des Lebens an eine neue Generation zu beschreiben. Re-produzieren ist produzieren, sagt Aurélio, neuerscheinen, vermehren, wiedermachen, wiederholen. Aber auch zeugen und fortpflanzen finden sich unter den Synonymen. Fortpflanzen (im Original procriar) heißt auch Ursprung und Geburt geben, keimen, erneuern. Zeugen (im Original gerar) bedeutet auch geben oder kosten, erscheinen lassen, wachsen.
“Wiederholen” mit “erscheinen lassen” gleichzusetzen oder “schöpfen” auf “reproduzieren” zu reduzieren, ist mehr als eine Verarmung der Konzepte, der Vorstellungen, die sich in Worten bündeln. Kein Mensch ist eine Wiederholung, eine Re-Produktion. Kein Kind ist nur Abbild des Vaters oder der Mutter. Wir sind einzigartig und daß wir es sind, macht die unglaubliche Vielfalt der Spezies aus.

Ein Mensch ist ein Mensch?

Doch heutzutage ist die Metapher aus der Fabrik nicht mehr nur eine Metapher. In den Laboratorien wird der Reproduktionsprozeß in Stücke zerlegt. Dort wird das Individuum zerteilt und versucht, es zusammenzusetzen und zu reproduzieren. Bei der Remontage wird ein Wertesystem angelegt, das wieder einmal von denen gemacht wurde, die das “Wissen” fabrizieren und die das Vorrecht haben, die Regeln zu bestimmen. Mit Hilfe von Industrien wie der Hormonindustrie breitet sich die In-vitro-Fertilisation schnell auf der Welt aus. Embryos werden wie im Supermarkt in Laboratorien gelagert (allein in Europa sind es mehr als 200.000!), von wo aus befruchtete Eizellen in gemietete Gebärmütter verpflanzt werden. Die künstliche Fortpflanzung öffnet Tür und Tor für die Kontrolle der Produktion von Menschen, für die fabrik- und serienmäßige Reproduktion. Die Verteidiger der genetischen Manipulation meinen, daß es mit ihrer Hilfe möglich sei, die Natur zu “verbessern”. Wir ahnen, welche “Defekte” diese Männer auf ihrer Werteskala nicht akzeptieren. Alle werden, natürlich “recht” geboren werden. Beweglich und stark.

Sterilität als Modell

Die Kehrseite der re- produzierenden Fabrik sind die Massensterilisationen. Das hört sich übertrieben an, aber schon 1986 waren 44% der “gebärfähigen” Brasilianerinnen, die verhüteten, sterilisiert. In Asien werden vermehrt Sterilisationscamps aufgeschlagen. Die Zeitschrift “Philadelphia Inquirer” schlägt in einem Editorial Norplant (vgl. LN 212) als nützliches Instrument zur Reduzierung der “unteren Klassen” vor, was synonym mit “Schwarzen” gebraucht wird.
Heutzutage ist es kompliziert, über reproduktive Rechte zu sprechen. Seit Jahrzehnten kämpfen die Frauen für die Selbstbestimmung über die Kontrolle ihrer Fruchtbarkeit, also ihrer Mutterschaft. Vor Jahren, zur Zeit der obligatorischen Mutterschaft, bedeutete es eine Herausforderung, “nicht” oder “noch nicht” zu sagen. In diesem Sinne wurde Verhütung als Befreiung gesehen. Doch zu sagen, daß die Pille die Frau befreit habe, bedeutet, die revolutionäre Fähigkeit des Feminismus, Mentalität und Verhalten zu ändern, zu ignorieren. Heutzutage befinden wir uns in einer anderen Situation: die der Sterilität als Modell. Niemand
kann den Druck verleugnen, dem Frauen auf der Suche nach Arbeit ausgesetzt sind, wenn sie als Voraussetzung nachweisen müssen, nicht schwanger zu sein oder sogar sterilisiert.

Die Krummen der Welt

Oft werden Schwangerschaften als nicht gewünscht bezeichnet, obwohl eigentlich wirtschaftlicher oder sozialer Druck ausgeübt wird, damit Frauen keine Kinder bekommen. “Unmöglich” heißt nicht immer “ungewünscht”. Die Risikotabellen für Schwangerschaften werden wie immer nach dem Gutdünken der Herren Spezialisten erstellt. Sie strengen sich nicht ebenso an, wenn es um die Garantie von Nahrung, Gesundheit, Würde und Freiheit geht. Im Gegenteil, die Besitzer von wirtschaftlicher und politischer Macht kontrollieren die Verhütungsmittel-Forschungen, die speziell gegen die “Bevölkerungsexplosion” der Länder der “Dritten Welt” gerichtet sind. Verhütungsmittel werden immer mehr zu Zwangsmitteln und leicht und effizient an großen Massen von Frauen anwendbar. Sie sind nicht an Bedürfnissen von Frauen ausgerichtet. Wie es das Editorial der nordamerikanischen Zeitschrift schon sagte, sind sie Instrumente, um die Zahl der Nicht-Weißen zu vermindern – die Zahl der “Linken der Welt”. In diesem Kontext fällt es schwer, von “freier Wahl” zu reden. Die Wahl zwischen einem Angebot, das von fremden Interessen bestimmt wurde, ist keine Wahl. Es sind eben diese Herren, die sich auch für die Legalisierung der Abtreibung einsetzen, besonders um die Abtreibungs-Drogen auf den Markt zu bringen. Sie sind vor allem am legalen Zugang zu den Embryos interessiert, um die Gen-Manipulation und Transplantation auszuweiten – ein Milliarden Dollar Geschäft.

Der unersättliche Hunger nach Wachstum

Feministinnen vieler Länder haben das Konzept der “reproduktiven Rechte” in Frage gestellt, unter ihnen Farida Akhtrer und Maria Mies. Beide sehen den Ursprung dieses Konzepts in den individualistischen und egoistischen Gesellschaften des Westens. Ihre Rechte auf die Sphäre der Reproduktion zu reduzieren, sei, so Farida, die Frau wieder nur als Reproduzentin zu sehen. Maria Mies analysiert den neoliberalen Diskurs und seinen strategischen Einsatz als neues Mittel, um die Frauen zu unterwerfen.
Mittlerweile werden neue Argumente in den Kontrolldiskurs aufgenommen. Sie nutzen das gewachsene ökologische Bewußtsein, um uns weiszumachen, daß der Planet nicht so viele Menschen aushält. Natürlich werden weder Produktions- noch Konsummodelle diskutiert, die Verschwendung in den Industriegesellschaften wird vergessen, genauso wie ihr unersättlicher Hunger nach Wachstum, der Fortschrittsmythos und die Verantwortlichen für die Verschwendung der Naturressourcen.

Die Geheimnisse der Wünsche

Der menschliche Körper hat zwei Seiten, so wie unsere begehrten Chromosome von unserem Vater und unserer Mutter stammen. Die Teilung der Individuen hat noch vor den Ideen von Descartes begonnen. Der falsche Antagonismus zwischen Kultur und Natur, Körper und Verstand, rechts und links, ging hervor aus einer Art die Welt zu denken, zu sehen und sich in ihr zu bewegen, die sich nur überwinden läßt, wenn wir unseren Horizont erweitern, unsere Art zu sein und uns in der Welt zu bewegen, verändern. Diese Änderung ist nicht leicht, genausowenig wie die tägliche Gestaltung des Lebens. Die moderne Neigung, alle Lösungen in der Technologie und den wissenschaftlichen Normen zu suchen, vergrößert die Trennung zwischen Männern und Frauen, zwischen Mensch und Natur und unser Exil aus uns selbst.
Ich meine, daß die Fortpflanzung ein Phänomen ist, das wir niemals völlig verstehen werden. Daher sind Worte wie “Kontrolle”, “Programm” und “Projekt” illusorisch. Wenn es nur eine Frage des Zugangs zu Informationen und Methoden wäre, würden die Frauen, die sich auf die Theorie und Praxis der “reproduktiven Rechte” spezialisiert haben, nicht so oft abtreiben. Die Geheimnisse der Wünsche machen die gesellschaftlichen Konventionen lächerlich. Es gehört zu einem tieferen Verständnis, die Wünsche zu akzeptieren. Unser Wissen in dieser Richtung zu erweitern, würde vielleicht helfen, das Leiden zu verringern, das viele Frauen durchleben in dieser Welt, die keine Kurven mag, keine Unbeholfenen und keine Krummen. Eine schwierige Aufgabe für unsere Fernsehkultur die Riten, Zyklen, Feste und ihre Genüsse vergessen hat.

Wir haben den Artikel leicht gekürzt der brasilianischen Zeitschrift “Tempo e Presença”, Nr. 256, März/April 1991 entnommen

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